Alles für die Tonne

Das Genre der urban legends ist seit längerer Zeit bekannt, und die meisten Menschen haben irgendwann zur Kenntnis genommen, dass in der New Yorker Kanalisation keine Alligatoren leben. Seltener durchschaut wird die political legend, denn sie beruht meist auf einer statistisch ermittelten Zahl. So galt es jahrelang als unbestreitbare Wahrheit, dass die Deutschen »Weltmeister bei den Arztbesuchen« sind. Diese political legend eignete sich als Begründung für die Einführung der Praxisgebühr. Doch nun stellt sich heraus, dass die Deutschen gar nicht so oft zum Arzt gehen, nämlich nur 8,2 statt 17 mal im Jahr. Das teilte die Bundesregierung in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen mit. Zuvor waren alle Kontakte, auch Telefongespräche und die Verlängerung von Rezepten, gezählt worden. Auf einmal entdeckt die Bundesregierung die Statistik der OECD. Die gab es allerdings schon vorher. Sie verzeichnete für 2007 noch 7,5 durchschnittliche Arztbesuche pro Jahr in Deutschland. Trotz steigender Kosten gehen die Menschen also etwas häufiger zum Arzt, aber nun dürfen sie das auch, weil der Gesundheitssektor als Wachtsumsmarkt gilt und mit der FDP eine Partei mitregiert, der das Wohl der Ärzte und der Gesundheitsindustrie besonders am Herzen liegt. Man kann nicht behaupten, dass finstere Mächte die Fakten vor der Öffentlichkeit verborgen hätten. Es mochte sie nur kaum jemand zur Kenntnis nehmen, weil sie der modischen Ansicht widersprachen, dass Hypochonder, Sensibelchen und gesprächsbedürftige Rentner durch überflüssige Arztbesuche der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands schaden.
Doch nicht immer liegen die Dinge so einfach. Möglicherweise wird derzeit eine neue political legend in die Welt gesetzt. Angeblich sind die Deutschen nämlich vielleicht nicht Weltmeister, aber auf jeden Fall sehr eifrig beim Wegwerfen von noch genießbaren Lebensmitteln. Und schuld sind vor allem die Privathaushalte, die 61 Prozent des vermeidbaren Lebensmittelabfalls produzieren. Diese Nachricht passt gut in eine Zeit, da verstärkt individuelle Verantwortung angemahnt wird, aber gierige Gewerkschafter allen Ernstes eine Lohnerhöhung fordern. So schlecht kann es denen ja gar nicht gehen, wenn sie jeden Tag 225 Gramm Nahrung wegwerfen. Die vermeintlich exakten Werte der Studie der Universität Stuttgart, die nun weitaus öfter zitiert als gelesen wird, beruhen jedoch ausschließlich auf Schätzungen, Hochrechnungen und der Auswertung wissenschaftlicher Literatur. Wer möchte schon in Mülltonnen wühlen? Falls das Ergebnis dennoch korrekt sein sollte, sagt es nichts darüber aus, wer die Lebensmittel wegwirft. Doch wen interes­siert’s? Endlich können die Deutschen nun wieder darüber jammern, wie gut es ihnen geht, und ihrem Lieblingssport frönen: der Erteilung moralischer Belehrungen an ihre Mitmenschen.