Die medizinische Versorgung von Obdachlosen in Berlin

Arme, wollt ihr ewig leben?

»Aus rechtlichen Gründen« hat der Berliner Senat den Zuschuss für die medizinische Versorgung Nichtversicherter abgeschafft. Die Maßnahme schürt die Ressentiments deutscher Obdachloser gegen osteuropäische und passt zur gesellschaftlichen Entwicklung in der Hauptstadt.

Kaviar satt spendierte der Mailänder Polizeipräsident vor zwei Jahren für das alljährliche Weihnachtsessen für Obdachlose. Die Delikatesse war zuvor bei einer Razzia sichergestellt worden. Die Spende lenkte die Öffentlichkeit ein wenig von den Morden neofaschistischer Jugendlicher an Wohnungslosen in vielen italienischen Großstädten ab. Andere Länder, kein Kaviar, ähnliche Sitten: Auch in Deutschland werden Obdachlose Opfer von Gewalttaten, das Ressentiment, das in der Gesellschaft gegen sie besteht, weist das Forschungsprojekt »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« von Wilhelm Heitmeyer regelmäßig nach. Wird Obdachlosen geholfen, führt dies hingegen zu Jubelmeldungen. So lobte die Berliner Morgenpost Ende Februar die »überwältigende Spendenbereitschaft der Berliner«, dank derer 100 000 Euro für die Versorgung von Wohnungslosen zusammengekommen waren. In dem Bericht wird jedoch nicht erwähnt, dass die rot-schwarze Koalition die finanzielle Unterstützung für die medizinische Versorgung Obdachloser in diesem Jahr eingestellt hat, »aus rechtlichen Gründen«, wie der Berliner Senat betont.

Mit ohnehin bescheidenen 100 000 Euro förderte der Senat bisher die Ambulanz der Caritas für Nichtversicherte am Bahnhof Zoo. Da der Anteil der nichtdeutschen Staatsangehörigen unter den Behandlungsbedürftigen seit der EU-Osterweiterung angeblich enorm gestiegen ist, es mit den meisten osteuropäischen Staaten aber keine »Fürsorgeabkommen« gebe, könne die Finanzierung aus rechtlichen Gründen nicht fortgesetzt werden, teilte der Senat mit. Daher wurde die Unterstützung für die medizinische Behandlung Nichtversicherter, zu denen nicht nur Obdachlose gehören, in Berlin vollständig abgeschafft. Der Senatssprecher verwies darauf, dass sich Deutsche nach wie vor in zwei abgelegenen Praxen im Ostteil der Stadt behandeln lassen könnten. Diese finanzieren sich durch Spenden. Ohnehin ist es fraglich, wie bei der formlosen Behandlungspraxis in der Ambulanz der Caritas die Nationalität der zumeist papierlosen Obdachlosen überhaupt festgestellt wurde.
Die Auswirkungen der Streichung liegen auf der Hand. Die Lebenserwartung von Obdachlosen in Deutschland liegt mit 46,5 Jahren verschiedenen Studien zufolge 30 Jahre unter dem Durchschnitt der Bevölkerung mit einem festen Wohnsitz. Die meisten Obdachlosen sterben nach Angaben von Klaus Püschel, dem Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts des Hamburger Uniklinikums Eppendorf, an Krankheiten, »die gut zu behandeln gewesen wären«. Zu den »gemeinsamen Anstrengungen aller, auch der Politik«, die Püschel im vergangenen Jahr anlässlich der Veröffentlichung einer Broschüre über »Krankheit, Tod und Trauer in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe« in Hamburg anmahnte, kommt es jedoch nicht. Eher ist das Gegenteil der Fall, zumal Obdachlose, genau wie illegalisierte Migranten oder mittellose Behinderte, nicht gerade zu den umworbenen Wählergruppen gehören.
Neben den körperlichen Leiden ist der Anteil psychischer Erkrankungen bei Obdachlosen überdurchschnittlich hoch. So schätzt die Ärztin Jenny de la Torre vom Gesundheitszentrum Berlin, dass die Erkrankungsrate unter den 250 000 Wohnungslosen in Deutschland etwa fünfmal so hoch wie unter den Bürgern mit festem Wohnsitz sei. Man müsse, statt auf eine isolierte medizinische Behandlung etwa mit sedierenden Medikamenten, auf eine »ganzheitliche« und individuelle Zuwendung setzen, da das Leiden immer auch soziale Ursachen habe.

Die von der Politik zu verantwortenden Gründe für die Obdachlosigkeit, wie etwa die faktische Einstellung des sozialen Wohnungsbaus und die Verarmung einer ganzen Bevölkerungsschicht durch Hartz IV, werden von den Verantwortlichen nicht erwähnt. Im Fall der Abschaffung der Finanzhilfe für die Berliner Obdachlosenmedizin mit der Begründung, es würden zu viele Osteuropäer behandelt, appellieren diese stattdessen an die Ressentiments der Deklassierten, denen suggeriert wird, die »Schuld« für die Streichung der Mittel liege bei den Nichtdeutschen unter ihnen. So wird der Vorgang einfach zu einem Konflikt innerhalb der unteren Schichten der Bevölkerung gemacht. Für die Stadtpolitiker ist damit ein Problem aus der Welt, wenn sie denn überhaupt eines darin sahen. Angesichts der großen Zahl von Kältetoten in Europa sagte der Berliner Senator für Gesundheit und Soziales, Mario Czaja (CDU), im Februar vor dem Abgeordnetenhaus, die Zahl der Notübernachtungsplätze in der Stadt sei ausreichend. Nach Angaben der Berliner Morgenpost gibt es derzeit 700 – für 20 000 Obdachlose.
Dazu passt, wie auch anderswo in Berlin verfahren wird. So ging das Quartiersmanagement am Weddinger Leopoldplatz und in der anliegenden Malplaquetstraße, die sich der RBB-Abendschau zufolge zur »Trendmeile« entwickelt hat, im vergangenen Jahr unter anderem mit dem Verteilen von Flugblättern gegen die sogenannte »Trinkerszene« vor, seither eröffnen dort reihenweise überflüssige Ökokuchencafés, Delikatessengeschäfte, die den Namen nicht verdienen, und unwirtliche »Szenekneipen«, in denen Bionade verkauft wird. Klaus Wowereit besuchte während seines Wahlkampfs im vergangenen Jahr mit zahlreichen Vertretern der Presse die dortige Bürgerinitiative und sicherte ihr Unterstützung bei der Umgestaltung des Bezirks zu.

Klasse gegen Klasse, jeder gegen jeden: Schließlich geht es für die »Kreativen« und ihre »Projekte« um die nötigen Subventionshäppchen, die dann eben bei der überlebensnotwendigen Medizin für die Ärmsten eingespart werden. Die Abschaffung der Finanzhilfe für die medizinische Versorgung Nichtversicherter ist möglich, nicht obwohl Berlin die linksliberale »Trendhauptstadt« ist, sondern gerade deswegen. Für die bessergestellten Bürger in den neuen rauchfreien Berliner Dinkelkiezen dürfte es in Zukunft noch gemütlicher werden. Der Mangel an medizinischer Versorgung wird sich auf die ohnehin niedrige Lebenserwartung und die Zahl der Berliner Obdachlosen auswirken. Doch letztlich sind es nicht die Krankheiten, an denen Nichtversicherte sterben, wie es der Pathologe Püschel streng medizinisch beschreibt. Es sind die Verhältnisse, die töten – »aus rechtlichen Gründen«.