Die Politik der internationalen Justiz

Der Täter ist schwarz

Der Internationale Strafgerichtshof ist eine sinnvolle Institution mit vielen Schwächen. Eine der wichtigsten davon ist, dass er sich bisher nur mit Verbrechern beschäftigt hat, die in afrikanischen Staaten stattgefunden haben.

Russland hat das Statut von Rom, das die Grundlage der Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in Den Haag bildet, nicht unterzeichnet; die Volksrepublik China gehört ebenfalls nicht zu den Trägern dieses Tribunals und, Barack Obama hin oder her, auch die USA sind weiterhin nicht beteiligt. Eine Institution zur Verfolgung schwerster internationaler Verbrechen, die von drei der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates nicht unterstützt wird, hat es nicht gerade einfach. Dass knapp ein Drittel der UN-Mitgliedstaaten in der Staatenversammlung des IStGH fehlen, schmälert nicht nur dessen Etat – der mit 103 Millionen Euro 2011 dennoch nicht bescheiden ausfiel –, sondern beeinträchtigt auch seine Handlungsmöglichkeiten und schwächt seine politische Bedeutung. Dass es zehn Jahre gedauert hat, bis nun, kurz vor Ablauf der Amtszeit des Chefanklägers Luis Moreno Ocampo, mit Thomas Lubanga Dyilo ein Kriegsverbrecher in erster Instanz (also noch nicht rechtskräftig) verurteilt worden ist, spricht eine deutliche Sprache.
Man muss kein Verfechter kurzer Prozesse sein, um bei einer Verfahrensdauer von sieben Jahren von der Festnahme bis zum ersten Urteilsspruch Zweifel an der Effizienz der Ermittlungen und der Rechtsprechung zu haben. Vor allem angesichts der Tatsache, dass sich der Angeklagte während dieser Zeit in Untersuchungshaft befand. Wegen bedenklicher Vorgehensweisen der Anklagebehörde hatte die Kammer, vor der das Verfahren geführt wurde, bereits die Entlassung verfügt, diese Entscheidung wurde dann von der Berufungsinstanz aufgehoben.
Auch ein Blick auf die anderen Verfahren, die derzeit am IStGH anhängig sind, führt ein wesentliches Problem dieser Institution vor Augen: Verhandelt und ermittelt wird gegen Beschuldigte aus Uganda, der Demokratischen Republik Kongo, der Zentralafrikanischen Republik, Kenia, Sudan, Libyen und von der Côte d’Ivoire. Zwar hat der argentinische Chefankläger in den vergangenen Jahren immer wieder Kriegsverbrechen in anderen Teilen der Welt thematisiert, praktisch vorgegangen ist er aber nur gegen Angeklagte aus afrikanischen Staaten.

Die kriegerischen Auseinandersetzungen im Kaukasus, die Kriege in Afghanistan und im Irak – für den internationalen Strafgerichtshof hat sich offenbar in keiner dieser Regionen eine völkerstrafrechtlich relevante Situation entwickelt. Moreno Ocampo, der lange Jahre Berater von »Transparency International« war, hatte zu Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2003 erläutert, er wolle die Wege des Geldes und der »Blutdiamanten« verfolgen, um die wirklich wichtigen Kriegsverbrecher – und gegebenenfalls auch an ihre Kollaborateure in den Industriestaaten – zur Rechenschaft zu ziehen. Die Umsetzung dieses ehrgeizigen Plans hätte die Auseinandersetzung mit Kriegsverbrechen, auch in den Industriestaaten, um eine neue politische Dimension bereichern können. Für die Ermittlungen gegen Lubanga, die zu dessen Verurteilung geführt haben, hat sich der Chefankläger allerdings nicht auf Ermittlungsergebnisse aus dem Umfeld der Finanzwelt gestützt, sondern zu erheblichen Teilen auf von Nichtregierungsorganisationen vor Ort durchgeführten Recherchen, denen nicht zuletzt die verhandelnden Richter attestiert haben, teilweise Zeugen in bedenklicher Art und Weise beeinflusst zu haben.
Zur Nachfolgerin von Moreno Ocampo, dessen Amtszeit im Sommer dieses Jahres ausläuft, wurde Fatou Bensouda ernannt, eine renommierte Juristin aus Gambia. Damit ist die Staatenversammlung einer Forderung der afrikanischen Mitgliedstaaten des IStGH nachgekommen. Am grundlegenden Dilemma des IStGH ändert dieses Bemühen um mehr Ausgewogenheit bei der Besetzung der hochrangigen Posten des Gerichts nichts.
Denn im Bereich des Völkerstrafrechts gilt nicht das Legalitätsprinzip, welches bei jedem Verstoß ein Verfahren erzwingt, sondern das Opportunitätsprinzip, welches freie Auswahl bei der Entscheidung gibt, bei welchen Straftaten eingeschritten werden soll. So kann sich der IStGH aussuchen, in welchen Fällen er tätig werden will. De facto verfügt das Gericht aber weder über die Ressourcen noch über das erforderliche politische Ansehen, um wirklich frei über seine Verfahren entscheiden zu können. Erschwerend kommt hinzu, dass der IStGH nur über subsidiäre Strafgewalt verfügt. Das bedeutet: Wenn die mutmaßlichen Kriegsverbrecher, gegen die ermittelt wird, anderswo aussichtsreich verfolgt werden können, muss die internationale Justiz zurückstehen.
Deutsche Soldaten etwa, die im Verdacht stehen, Kriegsverbrechen begangen zu haben, werden so vor einer Verfolgung durch die internationale Strafjustiz geschützt, denn auch in Deutschland stehen die entsprechenden Delikte unter Strafe und werden deswegen fast zwingend auch hierzulande Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens (da hier das Legalitätsprinzip gilt). Die nationale Rechtssprechung geht der internationalen stets vor, auch wenn es nicht zu einer Verurteilung kommt. Wenn mutmaßliche Kriegsverbrecher erst einmal in Den Haag vor dem Strafgerichtshof stehen, mögen sie alle gleich behandelt werden – bis dahin allerdings ist das internationale strafrechtliche Regime eines der Ungleichheit.

Der internationale Strafgerichtshof hat ein weiteres Problem: Die Aufarbeitung eines Konflikts durch die Ahndung der begangenen Straftaten setzt eine Individualisierung voraus. Denn mit dem neuen internationalen Strafrecht können, anders als beispielsweise im Zuge der oft als Bezugspunkt benannten Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse, keine Kollektive – wie damals die SS – als verbrecherische Organisationen verfolgt werden. Einzelnen Tätern müssen einzelne Straftaten nachgewiesen werden. Dies gründet auf der Vorstellung, dass auch Makrokriminalität von einzelnen Individuen begangen wird. Die Betonung der individuellen Verantwortung für Verbrechen ist zwar wichtig, weil sie die Bedeutung jedes einzelnen Handelnden hervorhebt. Sie führt aber auch dazu, dass übergeordnete, nicht in dieses Verantwortlichkeitsschema passende Problemstellungen nicht beachtet werden. Beispielsweise gibt es keinen strafrechtlichen Diskurs über Restriktionen beim Waffenexport oder über die mit Kriegsverbrechen einhergehende wirtschaftliche Ausplünderung von Regionen oder über die Entwicklung neuer Waffensysteme. Auch damit entziehen die industrialisierten Staaten ihre Staatsbürger der Gefahr, vor einem internationalen Strafgerichtshof zur Verantwortung gezogen zu werden, und das Böse wird auf den »schwarzen Kontinent« projiziert.

So groß die Bedenken sind, die man gegen den Strafgerichtshof haben kann, diese Institution abzulehnen, ist keine wegweisende Strategie. Das zeigt sich an anderen Beispielen der internationalen Jurisdiktion. Weder US-Militärtribunale noch ein aus dem Boden gestampftes Ad-hoc-Kriegsverbrechertribunal bieten bessere Alternativen. Auch die Verhandlungen gegen afrikanische Straftäter auf der Basis des Völkerstrafgesetzbuchs, wie sie gerade in Stuttgart und Frankfurt a. M. stattfinden, bringen keinen nennenswerten zusätzlichen Beitrag zur Gerechtigkeit. Im Strafrecht gibt es keine erstrebenswerte Alternative zur internationalen Justitz, es sei denn, der betroffene Nationalstaat verfügt über eine eigene liberale und rechtsstaatliche Justiz. Angesichts dessen muss in jedem einzelnen Fall genau analysiert werden, ob das Strafrecht überhaupt das richtige Mittel zur Ahndung und zur zukünftigen Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen ist.
Wünschenswert wäre jedenfalls, dass die neue Chefanklägerin eine nachvollziehbarere Strategie als ihr Vorgänger an den Tag legt bei der Auswahl der Fälle, die vor dem IStGH verhandelt werden sollen. Und wenn auch mal Verfahren gegen europäische Hintermänner oder gar direkt handelnde Kriegsverbrecher eröffnet würden, wäre dies rechtspolitisch ein Gewinn – damit sich der IStGH nicht auf die Funktion einer Besserungsanstalt für den Süden der Welt verfestigt.