Die Verurteilung von Thomas Lubanga

Einer statt alle

Thomas Lubanga gehörte zu den unbedeutenderen kongolesischen Warlords. Eben deshalb wurde das erste Verfahren des Internationalen Strafgerichtshofs gegen ihn geführt.

Wer zu spät mordet, den bestraft der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Und das auch nur, wenn er zu den Verlierern gehört und ein Verfahren politisch opportun erscheint. Thomas Lubanga gehörte nie zur ersten Liga der kongolesischen Warlords. Seine Miliz, die Union Kongolesischer Patrioten (UPC), war nur in der Provinz Ituri von Bedeutung. Sie trat erst relativ spät in Erscheinung, im Jahr 2002, als der Kongo-Krieg durch ein Friedensabkommen der bedeutenderen Warlords und ihrer afrikanischen Verbündeten offiziell beendet wurde. Am 1. Juli des gleichen Jahres wurde der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) gegründet, der nur Verbrechen verfolgt, die nach diesem Zeitpunkt begangen wurden. Dann entschlossen sich die europäischen Staaten, die das Morden jahrelang ignoriert hatten, auch noch zu einer Intervention – ausgerechnet in Lubangas Operationsgebiet.
Die »Operation Artemis« war die erste gemeinsame Militäraktion der EU. Vermutlich war eben dies ihr Zweck, man wollte der Welt und sich selbst militärische Handlungsfähigkeit demonstrieren. Nach wenigen Monaten zogen die europäischen Soldaten im September 2003 wieder ab. Großen Einfluss auf das politisch-militärische Kräfteverhältnis im Kongo hatte die Intervention nicht, sie schwächte jedoch die UPC und trug dazu bei, dass Lubanga den Anschluss an den »Friedensprozess« verpasste, der den meisten Warlords Straffreiheit und vielen auch Posten in der Regierung verschaffte.
Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass Lubanga angeklagt wurde, weil er sich gegen »den Westen« stellte. In ideologischer Hinsicht tat er dies nie, wie die meisten afrikanischen Warlords begnügte er sich damit, seinen Kampf als notwendige Verteidigung des Lebens und der Rechte einer Bevölkerungsgruppe – in seinem Fall der Hema – sowie als Beitrag zum Frieden und zum Wohlergehen der Nation darzustellen. Auch die westlichen Regierungen waren im Umgang mit den kongolesischen Warlords undogmatisch.
Doch mit irgendeinem Angeklagten musste der IStGH seine Arbeit beginnen. Lubanga schien wohl geeignet, weil er einerseits zu unbedeutend war, als dass seine Verhaftung den »Friedensprozess«, also die Neuverteilung der Macht unter den Warlords, hätte stören können, andererseits als bedeutend genug gelten konnte, um einen Kriegsverbrecherprozess zu rechtfertigen. Denn den Falschen traf die Anklage nicht. Lubangas Miliz war mitverantwortlich für den Tod von etwa 60 000 Zivilisten.

Angeklagt wurde er jedoch allein wegen der Rekrutierung von Kindersoldaten. Der Ankläger José Luis Moreno Ocampo ging davon aus, dass dieser Vorwurf sich leichter beweisen ließe. Weit schwieriger hingegen, das hatte unter anderem der Prozess gegen den serbischen Präsidenten Slobodan Milošević gezeigt, kann die Verantwortung des politischen Führers für Massaker seiner Untergebenen nachgewiesen werden.
Dennoch war die Beweisführung schwierig, im Jahr 2009 wäre der Prozess fast gescheitert. Um die Anonymität ihrer Zeugen zu schützen, verweigerten die Ermittler den Anwälten Lubangas den Zugang zu den Akten, die Verhandlung musste unterbrochen werden. Andere Probleme waren auf die Lage im Kongo zurückzuführen. Da es in den meisten Landesteilen faktisch keine staatliche Verwaltung gibt, hatten die Zeugen keine Personalpapiere, die ihre Identität bestätigten. Schließlich gelang es doch noch, ausreichendes Beweismaterial zu präsentieren, unter anderem ein Video, das Lubanga bei einer Ansprache vor Rekruten zeigt, von denen viele Kinder sind.
Als glänzender Erfolg kann es nicht bezeichnet werden, dass der IStGH nach zehn Jahren den ersten Prozess abgeschlossen hat. Doch trifft den Gerichtshof und seinen derzeit oft kritisierten Ankläger die geringste Schuld. So war es richtig, dass Moreno Ocampo sich um den Zeugenschutz bemühte. Ebenso richtig ist allerdings, auf rechtsstaatlichen Prinzipien zu bestehen und der Verteidigung vollständigen Zugang zu den Akten zu gewähren.
Die Voraussetzung für rechtsstaatliche Prozesse sind rechtsstaatliche Verhältnisse. Der IStGH verdankt seine Existenz jedoch der Tatsache, dass solche Verhältnisse insbesondere in Bürgerkriegsgebieten nicht existieren, aber dennoch die Notwendigkeit gesehen wird, dort begangene Kriegsverbrechen zu bestrafen. Auflösen lässt sich dieser Widerspruch nicht, man kann nur mehr oder weniger geschickt mit ihm umgehen.

Moreno Ocampo hat nie seine Kriterien bei der Auswahl der Angeklagten erläutert. Wann wird aus einem Massaker an Zivilisten ein Verbrechen gegen die Menschheit? Wer sich nicht von eigenen Vorlieben und Ressentiments leiten lässt, wird diese Frage kaum eindeutig beantworten können. Der erste Ankläger des IStGH, dessen Amtszeit im Juni endet, hat zweifellos viele Fehler gemacht, von denen sich einige jedoch noch als nützlich erweisen könnten. Dass der sudanesische Militärherrscher Omar al-Bashir ungeachtet des gegen ihn vorliegenden Haftbefehls zahlreiche Auslandsreisen absolvierte, hat die Autorität der internationalen Justiz geschwächt. Andererseits wurde hier erstmals mit dem Prinzip gebrochen, dass nur Verlierer angeklagt werden.
Im Kongo hat sich der IStGH nach der Anklage gegen Lubanga auch eines bedeutenderen Warlords angenommen. Im November 2010 begann der Prozess gegen Jean-Pierre Bemba, der drei Jahre lang einer der Vizepräsidenten des Kongo war. Angeklagt wurde er allerdings wegen Ver­brechen, die seine Milizen in der benachbarten Zentral­afrikanischen Republik begangen haben. Doch zahlreiche andere mutmaßliche Kriegsverbrecher sind weiterhin in Politik und Militär aktiv. Ehemalige Milizen wie Lubangas UPC und Bembas MLC treten nun als politische Parteien auf. Derzeit ist es in den meisten Landesteilen relativ friedlich, auch nach den Wahlen im November vorigen Jahres blieb die befürchtete gewaltsame Reaktion auf Manipulationen weitgehend aus. Im Ostkongo wird jedoch weiterhin gekämpft und massakriert.

Die Berechnung des International Rescue Committee, der zufolge zwischen 1998 und 2008 im Kongo 5,4 Millionen Menschen Opfer des Konflikts wurden, wird mittlerweile als fehlerhaft betrachtet. Doch auch wenn es »nur« knapp drei Millionen gewesen sein sollten, handelt es sich um den schlimmsten Konflikt seit 1945, und vielleicht am erschreckendsten ist, dass das Schicksal mehrerer Millionen Menschen wohl nie aufgeklärt werden wird. Es war daher nicht falsch, dass der IStGH sich zunächst auf den Kongo konzentrierte. Doch welchen Beitrag kann die internationale Justiz zur Beendigung der Konflikte im Kongo und anderen Bürgerkriegsstaaten leisten?
Viele Menschen in Ituri betrachten den Kampf der UPC noch immer als notwendige Selbstverteidigung. Tatsächlich hat die »internationale Gemeinschaft« beim Schutz der kongolesischen Zivilisten fast immer versagt, und auch die UN-Truppe Monuc hat Kriegsverbrechen begangen. In armen kongolesischen Familien ist es die Ausnahme, wenn ein Sechsjähriger nicht arbeiten muss. Warum sollte ein Zwölfjähriger da nicht kämpfen dürfen? Derzeit kann der IStGH kaum mehr tun, als minimale moralische Maßstäbe zu setzen. Die sich auch auf das Bewusstsein der Menschen auswirkende Brutalität eines globalisierten Kapitalismus, in dem es keine Rolle spielt, ob es zwei Millionen Kongolesen mehr oder weniger gibt, können ein paar Verfahren in Den Haag kaum mildern.