Die Graphic Novel »Aufzeichnungen aus Jerusalem«

Im Land der hundert Meinungen

Der kanadische Zeichner Guy Delisle wurde mit seinen Comics über seine Aufenthalte in China, Nordkorea und Myanmar bekannt. Nun ist seine Graphic Novel »Aufzeichnungen aus Jerusalem« erschienen. Lakonisch und präzise erzählt er vom Alltag im Konfliktgebiet.

Man kann es drehen und wenden, wie man will. Israel ist kein Land wie jedes andere. Dass wusste auch der Comic-Zeichner Guy Delisle, als er im August 2008 am Flughafen Ben Gurion landete, um für ein Jahr dort zu leben, zu zeichnen und sich um die Kinder zu kümmern, während seine Frau für die französische Sektion von »Ärzte ohne Grenzen« in Gaza tätig sein würde. Doch wenn Delisle von Ländern spricht, die »anders als andere« sind, dann hat das ein anderes Gewicht, als wenn es irgendein Journalist in Berlin behauptet, denn der Frankokanadier scheint sich von den »anderen Ländern« geradezu magisch angezogen zu fühlen. China, Nordkorea, Myanmar – die Liste der Länder, in denen er gelebt hat und über die er seit mehr als zehn Jahren ebenso erfolgreich wie regelmäßig autobiographische Graphic Novels veröffentlicht, liest sich wie ein Best Of der Reisewarnungen des Auswärtigen Amts. Dass es ihn für sein neuestes Werk nach Jerusalem verschlagen hat, wirkt da beinahe folgerichtig, denn wenn es ein Land gibt, das noch verwirrender, vielschichtiger und komplizierter ist als die genannten, dann ist es ohne Zweifel Israel.
Verwirrend, vielschichtig und kompliziert wird es bereits am Anfang der Erzählung, als die Reisenden sich die Frage stellen, ob sie denn überhaupt in Israel seien oder nicht. »Äh … Ja … Kommt darauf an«, entgegnet eine Kollegin seiner Frau Nadège und beginnt, die Dinge zu erklären. Die kleine Familie lebt in Beit Hanina, einem Viertel in Ost-Jerusalem. Aus israelischer Sicht gehört das Viertel zu Israel. Aus Sicht der »internationalen Gemeinschaft« liegt es im Westjordanland, ist also Teil dessen, was vielleicht irgendwann einmal der Staat Palästina sein soll. Für Delisle ist es ein Jahr lang jedoch vor allem sein Zuhause. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist eine der größten Stärken des Buches, dass es nicht versucht, den Konflikt zu erklären oder Partei zu ergreifen. Delisle steht ganz offen dazu, dass er nicht wirklich weiß, wer hier Recht hat und wer nicht. Er sieht das Unrecht, das den Menschen in den besetzten Gebieten geschieht, aber er sieht auch die Angst und die Furcht der Menschen in Israel. Bereits in der allerersten Szene, noch bevor das Flugzeug gelandet ist, begegnen wir der Figur eines alten Mannes. Der Zeichner sieht die tätowierte Nummer auf dessen Arm und versteht sofort, dass er einen Überlebenden der Shoa vor sich hat. Noch bevor die Geschichte richtig beginnt, werden wir daran erinnert, warum es den Staat Israel überhaupt gibt.
Auch Delisle ist sich dessen bewusst und scheint es nicht zu vergessen, auch nicht als das israelische Militär die »Operation Gegossenes Blei« startet und die Menschen im Umfeld des Zeichners, das fast ausschließlich aus Angehörigen von NGOs besteht, in helle Aufregung geraten, weil Bomben auf die Stadt fallen, in der sie ihre Büros haben und in denen noch immer Kolleginnen und Kollegen sitzen, die keine Möglichkeit haben, der Bedrohung zu entkommen, weil alle Grenzen abgeriegelt sind. Delisle zeichnet sich selbst in diesem Teil des Buches, meist als eine Figur ohne Mund. Wohl, um anzudeuten, dass ihm buchstäblich die Worte fehlen. Er steckt zwar irgendwie mittendrin, bleibt aber doch außen vor. Er will ein Beobachter sein, und wenn er etwas kommentiert, dann spricht er nur von sich und erhebt keinen Anspruch darauf, etwas Allgemeingültiges zu sagen.
Diese Subjektivität ist eine wohltuende Abwechslung in dem gigantischen Labyrinth aus Meinungen und Gegenmeinungen, die einem an jeder Straßenecke zum Thema »Nahostkonflikt« begegnen. Natürlich waren auch Joe Saccos Comics »Palästina« und »Gaza« in gewisser Weise subjektiv, doch versteht Sacco sich als Journalist, der Reportagen über reale Ereignisse in Form von Comicbüchern schreibt, während es Delisle nicht darum geht, wie etwas ist, sondern einzig darum, wie er es erlebt. Sacco ist parteiisch. Delisle ist einfach er selbst. Als die Behörden ihm die Einreise nach Gaza verweigern, fragt er sich allerdings, ob sie ihn wohl mit Sacco verwechselt haben.
Unübersehbar steht Delisle Zeichenstil in der Tradition der franco-belgischen Schule, er kann aber auch seine nordamerikanische Sozialisation nicht wirklich verbergen. Er verbindet seine detaillierten Darstellungen der jeweiligen Szenerie mit typisierten Figuren. So bleibt stets offensichtlich, dass es hier nicht um Abbildung geht, sondern um Darstellung und damit immer auch um Interpretation. Delisles Schilderungen sind nur durch seine eigene Wahrnehmung gelenkt. Dass er gar nicht erst behauptet, es wäre anders, ist ihm hoch anzurechnen.
Dennoch strotzt sein Comic nur so vor Meinungen. Vor allem aber sind es die Meinungen anderer, die wir zu hören bekommen. Der Comic lässt radikale Siedler genauso zu Wort kommen wie Menschen, die nur in den Siedlungen leben, weil sie sich nichts anderes leisten können, oder Studierende an palästinensischen Universitäten, wo er Vorträge über das Zeichnen von Comics hält. Dabei fällt auf, dass die Menschen, die dort leben, eine viel pragmatischere Sichtweise haben als die Menschen, die nur dort sind, um für irgendeine der vielen NGOs zu arbeiten. So ist der Zeichner völlig verwirrt, als er muslimische Frauen in den Supermärkten der Siedlungen beim Einkauf beobachtet oder von einem arabischen Automechaniker erzählt bekommt, dass häufig jüdische Siedler mit ihren Autos zu ihm kommen, weil er am Sabbat geöffnet hat. Die Tatsache, dass viele NGO-Mitarbeiter aus politischen Gründen unbedingt in Ost-Jerusalem wohnen wollen und damit die dortigen Mieten dermaßen in die Höhe treiben, dass die arabische Bevölkerung zu einem nicht unerheblichen Teil verdrängt wird, wirkt dagegen zumindest ironisch. Auf jeden Fall passt es so gar nicht in das Schwarz-Weiß-Bild, das viele Menschen außerhalb der Region von der Situation im »Heiligen Land« haben.
Die heiligen Stätten der verschiedenen Religionen auf dem schmalen Landstrich zwischen Mittelmeer und Totem Meer haben es dem bekennenden Atheisten Guy Delisle besonders angetan. Immer wieder besucht er Kirchen, Synagogen und Moscheen. Eine ebenso große Faszination scheint die Mauer auf ihn auszuüben, die arabische und jüdische Siedlungen im Westjordanland voneinander trennt. Auf rund einhundert Panels wird sie dargestellt, aber jeweils ganz ohne moralisierenden Unterton. Delisle will niemanden überzeugen und nichts erklären, und doch wird bei der Lektüre seines Comics deutlich, dass die Region vielen als Projektionsfläche politischer Ansichten und religiöser Überzeugungen dient. Die Realität sieht anders aus. Der Comic »Aufzeichnungen aus Jerusalem« kommt dieser verwirrenden Situation vor Ort sehr nahe.

Guy Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem. Reprodukt, Berlin 2012, 336 Seiten, 29 Euro