Reiche Krankenkassen und arme Patienten

Krankheit als Strafe

Den gesetzlichen Krankenkassen geht es wirtschaftlich gut, sie verfügen über fast 20 Milliarden Euro Rücklagen. Die Patienten werden davon jedoch kaum profitieren.

Die Zeiten, in denen es noch um Millionenbeträge ging, scheinen unwiderruflich vorbei zu sein. Es geht ausnahmslos um Milliarden, in der Regel fehlende. Die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) machen nun die Ausnahme, allein im vergangenen Jahr haben sie einen Überschuss von vier Milliarden Euro erzielt. Das Versicherungssystem verfügt mittlerweile über enorme Rücklagen, nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums betragen diese bei den Krankenkassen derzeit zehn Milliarden Euro, zudem habe der Gesundheitsfonds Reserven von etwa 9,5 Milliarden Euro.
Diese knapp 20 Milliarden Euro, die scheinbar übrig sind, wecken Begehrlichkeiten. Die Patienten könnten vermuten, dass nun die langen Wartezeiten in den Arztpraxen ein Ende haben oder Medikamente günstiger werden. Und die Krankenhäuser dürften darauf hoffen, dass sie vorerst von weiteren Einsparungen verschont bleiben. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass diese Wünsche in Erfüllung gehen werden. Blickt man einige Jahre zurück, erinnert man sich an Milliardenbeträge, die in der GKV fehlten, die Politik hat in den vergangenen Jahren einiges unternommen, um mehr Geld ins Gesundheitssystem zu investieren.

Die Patienten mussten die Kosten tragen, mit der Praxisgebühr, höheren Zuzahlungen, Zusatzbeiträgen und Beitragserhöhungen. Das Ziel der Praxisgebühr, die 2004 von der damaligen rot-grünen Bundesregierung eingeführt wurde, sollte es sein, die Patienten von unnötigen Arztbesuchen abzuhalten. Der Begriff der »Steuerung« kam in Mode. Würden die Ausgaben besser »gesteuert«, so die Überlegung, könnten in Zukunft Verluste verhindert werden. Und dennoch gab es sie, und auch die Anzahl der Arztbesuche änderte sich – zumindest in den besseren Einkommensschichten – nicht signifikant. »Die Praxisgebühr hat neben ihren schädlichen Wirkungen auf Versicherte mit geringen Einkommen dazu geführt, dass die Solidargemeinschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung geschwächt wurde«, kritisiert Martina Bunge, gesundheitspolitische Sprecherin der Partei »Die Linke«. Mit der Gebühr wurden erstmalig nur die kranken Mitglieder der GKV »bestraft«, die zahlreichen Zuzahlungen, die erhoben wurden, trugen ebenfalls dazu bei, die Solidargemeinschaft zu untergraben. Angesichts der derzeitigen Überschüsse fordern zahlreiche Politiker die Abschaffung der Praxisgebühr. Neben der Linkspartei setzt sich nun auch die FDP für eine Abschaffung ein, dabei handelt es sich jedoch vermutlich um einen Verzweiflungsakt angesichts der miserablen Umfragewerte.

Es spricht tatsächlich einiges dafür, diese Gebühr abzuschaffen – sie hat wenig bewirkt und auch Ärzteverbände kritisieren immer wieder den hohen bürokratischen Aufwand, den ihre Erhebung verursacht. »Diese Gebühr war in erster Linie politisch gewollt. Ärzteverbände und der GKV-Spitzenverband waren skeptisch«, sagt Ann Marini, stellvertretende Pressesprecherin des Spitzenverbandes. Sie warnt jedoch davor, vorschnell Maßnahmen zu ergreifen. Die Höhe der Rücklagen erscheine zwar immens, tatsächlich wende die GKV die Summe von 20 Milliarden jedoch in einem Monat für medizinische Leistungen auf. Da die Situation der Krankenkassen und des Gesundheitsfonds stark von der wirtschaftlichen Gesamtlage abhängt, kann die Rücklage bei wirtschaftlichen Einbrüchen schnell aufgebraucht sein. Knapp die Hälfte der derzeitigen Überschüsse stammt aus dem Gesundheitsfonds, der 2011 gut ausgestattet war, die Prognosen wurden von der Wirtschaftslage übertroffen.
Die Überschüsse der Krankenkassen führt Bunge jedoch nicht nur auf die wirtschaftliche Situation, sondern auch auf das Wirtschaften der Kassen zurück: »Aus Angst vor Zusatzbeiträgen verwehren viele gesetzliche Krankenkassen ihren Patienten Leistungen. Dazu zählen zum Beispiel Mutter-Kind-Kuren. Aus diesen Leistungsverwehrungen setzt sich ein Teil der aktuellen Überschüsse zusammen.«.
Für den Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) greift die Forderung nach einer Abschaffung der Praxisgebühr zu kurz. »Wir fordern die Abschaffung aller Zuzahlungen. Warum soll nur die Praxisgebühr abgeschafft werden? Es gibt noch viele andere unsolidarische Zuzahlungen in der GKV«, sagt Wulf Dietrich, der Vorsitzende des VDÄÄ. Wenn man sich den Bericht des GKV-Spitzenverbandes im Auftrag des Bundestags anschaut, wird deutlich, was Dietrich meint. Dort werden penibel sämtliche Gebühren aufgelistet: von der Zuzahlung zu medizinischen Vorsorgeleistungen über die Arzneimittelzuzahlung bis hin zur Zuzahlung zur Krankenhausbehandlung.

»Allein die Krankenhauszuzahlung kann sich auf 280 Euro pro Jahr summieren«, sagt Dietrich. Man wird sozusagen dafür bestraft, dass man sich in stationäre Behandlung begeben muss. Nach Einschätzung des VDÄÄ würde eine Aufhebung aller Zuzahlungen jährlich knapp fünf Milliarden Euro kosten. Doch dem Verein geht es nicht um eine »Gelddiskussion«. »Sonst kann man jährlich je nach Überschuss oder Minus wieder aufs Neue diskutieren. Es stellt sich doch grundlegend die Frage, ob wir die Krankenversicherung solidarisch gestalten oder nicht«, sagt Dietrich. Der VDÄÄ plädiert ausdrücklich für eine solidarische Versicherung, in der sich die Gemeinschaft der Versicherten beisteht und die erkrankten Mitglieder nicht überproportional belastet werden. Auch der Bericht des GKV-Spitzenverbandes kommt zu dem Ergebnis, dass die Zuzahlungen nur die Kranken – und hier vor allem diejenigen mit einem geringen Einkommen – treffen. »Der Anteil der Versicherten, die wegen der Praxisgebühr einen Arztbesuch vermieden oder verschoben hatten, betrug 42,6 Prozent in der obersten, aber 67,9 Prozent in der untersten Einkommensgruppe«, so die GKV in ihrem Bericht. Für chronisch kranke Patienten aus den untersten Einkommensgruppen besteht eine 2,5 Mal so hohe Wahrscheinlichkeit, ihren Arztbesuch zu verschieben, wie für die in den obersten Einkommensgruppen. Die Autoren des Berichtes warnen davor, dass »selbst relativ niedrige Zuzahlungen, wie die Praxisgebühr, eine bedarfsgerechte Inanspruchnahme der medizinischen Versorgung gefährden können, insbesondere bei sozial benachteiligten Versicherten«. Der Bericht lag dem Bundestag bereits im November vor. Bis zur derzeitigen Diskussion um die Überschüsse der Krankenkassen sind kaum Konsequenzen aus ihm gezogen worden. Lediglich die Linkspartei hatte versucht, in einem Antrag die Streichung aller Zusatzzahlungen zu erreichen, allerdings ohne Erfolg.
Und auch in der derzeitigen Debatte zeichnen sich keine bedeutenden Änderungen ab. Zwar könnte die Praxisgebühr aufgehoben werden, falls die FDP gemeinsam mit der SPD, den Grünen und der Linkspartei für deren Abschaffung stimmt, aber danach sieht es nicht aus. Stattdessen muss man mit einem Koalitionsstreit rechnen, denn die Unionsparteien sperren sich beharrlich gegen die Abschaffung der Praxisgebühr und gegen die Reduktion der Zusatzbeiträge. Traut man den Wirtschaftsprognosen, dürften die Kassen ohnehin schon im kommenden Jahr wieder über ein Defizit klagen.