Das Buch »Arrival Cities«

Warum Pedro nicht Auftragskiller, sondern EDV-Spezialist wurde

Der kanadisch-britische Autor Doug Saunders hat sich in Slums und städtischen Randgebieten in allen Teilen der Welt umgeschaut. In den »Arrival Cities« entscheide sich, ob Migranten den sozialen Aufstieg schaffen oder von der Gesellschaft dauerhaft ausgeschlossen bleiben.

Chongqing im 21. Jahrhundert: In der chinesischen Metropole im Südwesten des Landes leben einer Schätzung aus dem Jahr 2010 zufolge knapp acht Millionen Einwohner. Im gesamten Ballungsraum sind es über 32 Millionen Menschen, zwei Drittel von ihnen ehemalige Bauern und Wanderarbeiter vom Land. Einer von ihnen ist Herr Wang. Seit drei Jahren lebt er mit seiner fünfköpfigen Familie in einem »übel riechenden Slum« in der Vorstadt Liu Gong Li. Alle waschen, kochen und schlafen zusammen in einem wenige Quadratmeter großen Raum ohne Fenster. Nebenan ist die Werkstatt, in der Herr Wang Holzbadewannen fertigt, die er an die neue chinesische Mittelschicht verkauft. Vielleicht, so hofft er, gehört er auch irgendwann dazu. Oder zumindest sein Sohn oder sein Enkel. Zurück ins Dorf will er nicht: »Hier kann man seine Enkel zu erfolgreichen Menschen machen, wenn man die richtige Verdienstmöglichkeit findet. Auf dem Dorf kann man nur leben.«
Wie Herr Wang denken unzählige Menschen auf allen Kontinenten und machen sich auf den Weg vom Dorf in die Stadt – auf die Suche nach einem »besseren Leben«. Bis 2050 werden Schätzungen zufolge die Metropolen dieser Welt weitere 3,1 Millionen Menschen aufnehmen und 70 Prozent der Weltbevölkerung in städtischen Ballungsräumen leben. Heute sind es bereits etwas mehr als die Hälfte. Für den kanadisch-britischen Autor und Journalisten Doug Saunders ist diese Massenbewegung kein Horrorszenario, sondern ein Fortschritt: »Das Leben auf dem Land hat nichts Romantisches an sich, vielmehr ist das Landleben gegenwärtig noch die häufigste Todesursache, die am weitesten verbreitete Ursache für Unterernährung, Kindersterblichkeit und eine verkürzte Lebenserwartung.« Und, so ergänzt er mit einem Augenzwinkern in Richtung der Überbevölkerungs-Paranoiker: In der Stadt hätten die Menschen auch weniger Kinder als auf dem Land.
In seinem Buch »Arrival City« – Untertitel: »Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städte. Von ihnen hängt unsere Zukunft ab.« – besucht der Autor jene Orte, in denen Flüchtlinge und Migranten zunächst einmal landen: die Slums von Dhaka, die Favelas São Paulos, die Shantytowns Nairobis, die Genekondulars Istanbuls und die migrantisch geprägten Viertel Berlins und Torontos. Über 20 »Ankunftsstädte« auf fünf Kontinenten hat Saunders über drei Jahre hinweg bereist. Anschaulich porträtiert er ihre Eigenheiten, vor allem aber ihre erstaunlichen Gemeinsamkeiten – in den Eigenschaften ihrer Bewohner, dem Erscheinungsbild ihrer Wohnorte und der Reaktion der Regierungen auf den Zuzug der Migranten.
Alle Landflüchtigen, so Saunders, vereine die Hoffnung auf soziale Mobilität. Ihr Ziel sei die Mittelklasse – der Erwerb von Grundbesitz und bessere Bildungschancen für ihre Kinder. Hilfreich dafür seien die gegenseitige Hilfe der ehemaligen Dorfbewohner, eine funktionierende Infrastruktur und – wie bei Herrn Wang – die Gründung kleinerer Unternehmen in der Ankunftsstadt. Ob der gesellschaftliche Aufstieg nur einigen wenigen vorbehalten bleibt oder ob immer mehr Menschen Zugang zum Wohlstand finden, darüber entscheide das Handeln von Staat und Regierung. Bloße Abwehr der Migranten oder gar Zerstörung ihrer Wohnviertel führe zu sozialen Konflikten. Würden jedoch die Fähigkeiten der Zugezogenen erkannt und geschickt genutzt, würden ihre Bewohner zu Bürgern und die Slums zur Stadt. »Die ausländischen Dorfbewohner und Einwanderer von gestern sind die städtischen Ladenbesitzer von heute und die freiberuflichen Akademiker und Spitzenpolitiker von morgen. Ohne diese Metamorphose stagnieren und sterben unsere Städte.«
Auf mehr als 500 Seiten liest sich das Buch über weite Strecken wie eine Reportage, die es trotz der teilweise etwas holzschnittartigen Sprache schafft, die Atmosphäre der Orte einzufangen und Empathie für ihre Bewohner zu wecken. Den Autor treibt keine Sozialromantik, sondern journalistische Neugier im besten Sinne an: Wie sieht die Karrierestrategie der pakistanischstämmigen Schwestern im Banglatown East Londons aus? Wie ist es Pedro in der Favela Jardim Angela gelungen, kein Auftragskiller, sondern EDV-Spezialist zu werden? Und warum wurde aus dem ehemaligen linksradikalen Landbesetzer Sabri Koçyigit ein träger Hausbesitzer in Istanbul?
Ein Rückblick auf die Entwicklungen in Europa während des Industriezeitalters zeigt, dass die gegenwärtige Verstädterung nichts grundlegend Neues ist. Der Bericht der Französin Jeanne Bouvier, die 1879 im Alter von 15 Jahren nach Paris kam, könnte heute auch von einer chinesischen Wanderarbeiterin stammen: »Ich mietete ein kleines Zimmer. Dieses Zimmer war ein elendes Loch. Es war nicht komfortabel, aber es war ein Zuhause. Ich hatte auch ein paar Küchenutensilien gekauft, so dass ich zu Hause essen und auf diese Weise einiges Essensgeld sparen konnte.« Die junge französische Migrantin kehrte nur einmal in ihrem Leben in ihr Dorf zurück und verstand dort den Dialekt nicht mehr. Nach vielen Jahrzehnten harter Arbeit in der Stadt kaufte sie sich als alte Frau eine Wohnung in einem Mittelschichtsviertel, fern von Paris, der Stadt ihrer Ankunft.
Man könnte Doug Saunders mit grundsätzlicher politischer Kritik begegnen. Nein, er ist kein Linker, und ja, das Ziel eines »besseren Lebens«, das in seinem Buch im Zentrum steht, ist die Mittelklasse und das Kleinbürgertum – mein Haus, mein Auto, mein Stadtviertel. Das »gute Leben«, könnte man an vielen Stellen entgegnen, das kann nicht nur Besitz oder »ständiger Bedürfnisaufschub« für die nächste oder sogar übernächste Generation sein!
Doch kann man »Arrival City« nicht auch anders lesen? Stellt man Saunders Thesen den Prinzipien des allgegenwärtigen Liberalismus und der Logik staatlichen Handelns entgegen, fällt auf: Der Autor wagt sich ganz schön weit vor.
Wo sonst liest man, dass der Staat seine Ausgaben nicht begrenzen, sondern vervielfachen muss, um in Bildungsangebote und Infrastruktur der »Problembezirke« zu investieren, da hier unsere Zukunft liege? Wann wird derart offensiv die These einer Einwanderungsgesellschaft ohne Wenn und Aber vertreten und die restriktive deutsche Einwanderungspolitik als völlig verfehlt bezeichnet? Wer traut sich zu fordern, nicht die gebildeten, sondern gerade die schlechter ausgebildeten Einwanderer ins Land zu holen – um den »Brain Drain« in den Herkunftsländern zu verhindern und den Migranten wirklich einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen? Sicherlich wirkt es zuweilen naiv, wenn der Autor sich mit Ratschlägen an die Politik wendet. Doch in Zeiten des Sozialabbaus und des Rassimus liest man so etwas ganz gern.

Doug Saunders: Arrival City. Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städte. Von ihnen hängt unsere Zukunft ab. Aus dem Englischen von Werner Roller. Blessing-Verlag, München 2012, 576 Seiten, 22, 95 Euro