Israel und das iranische Atomprogramm

Ist es Säbelrasseln oder Zähneklappern?

Israel ist einer realen Bedrohung durch den Iran ausgesetzt. Das Gerede über einen militärischen Präventivschlag gegen dessen Atomanlagen soll vor allem der Abschreckung dienen. Dennoch könnte es Krieg geben.

Bei einem Hintergrundgespräch im israelischen Außenministerium in Jerusalem zur Lage im Nahen Osten kam unweigerlich die Frage auf: »Wann wird Israel den Iran angreifen?« Ein Beamter volontierte eine Antwort nach Art von Erich Kästner: »Am 35. Mai.« Ein Reporter hatte nicht aufgepasst: »Und um wie viel Uhr?« Trotz einer Weisung des Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu, sich zum Thema Iran nicht öffentlich zu äußern, nannte der Israeli sogar eine exakte Uhrzeit: »Um 25 Uhr.« Obgleich das eindeutig ein Witz war, forderte der Beamte, seinen Namen nicht zu nennen, weil das ein »delikates Thema« sei. Denn anders als in der großen weiten Welt gibt es in der israelischen Regierung und auf offizieller Ebene kaum eine echte Debatte zu der Frage, ob und wann Israel den Iran angreifen werde.
Was Verteidigungsminister Ehud Barak dennoch behauptet, ist zweideutig. Seine Aussage, dass man keine Option ausschließe, kann sowohl als bloße Drohgebärde interpretiert werden als auch als feste Absichtserklärung. Abschreckung funktioniert jedenfalls nur, solange der Gegner auch tatsächlich einen Angriff befürchtet. Sowie das gewünschte Ziel, ein Ende des iranischen Atomprogramms, erreicht ist, könnte sich womöglich herausstellen, dass Israel niemals einen Angriff auf den Iran geplant hatte. Es verhält sich so ähnlich wie mit Israels vermeintlicher Atombombe. Deren Existenz ist offiziell nie bestätigt oder dementiert worden. Aber weil er fest an Israels Atombombe glaubte, hat Ägyptens Präsident Anwar al-Sadat 1979 Frieden mit Israel geschlossen. Seit 1973 haben arabische Staaten keinen Krieg mehr gegen Israel geführt. Angenommen, es stellte sich heraus, dass Israel gar keine Atombombe besitzt, könnten die Folgen für Israel fatal sein. Ganz ohne Drohgebärden ist Israel nie ausgekommen.

Israel droht nur deshalb mit der militärischen Option, weil es selbst einen iranischen Angriff fürchtet. Seit 15 Jahren bereits warnt Israel vor der Gefahr eines atomar bewaffneten Iran. Denn das Regime in Teheran besteht auf seinem angeblichen Recht, über sämtliche atomaren Technologien zu verfügen. Seitdem setzen die Israelis das Thema bei allen wichtigen politischen Treffen auf die Tagesordnung. Lange vor den Europäern haben die US-Amerikaner israelische Warnungen ernst genommen und Druck auf die Europäer ausgeübt, diese Sorgen ebenso zu beherzigen. Der frühere US-Vizepräsident Dick Cheney benutzte Israel sogar als Drohmittel. Falls sich die Europäer nicht zu Sanktionen gegen den Iran entschlössen, sagte er ihnen, könnten die USA ihren unberechenbaren Verbündeten Israel nicht zurückhalten. Erst die Angst vor Israel überzeugte die Europäer. Israel setzt jedoch weiterhin auf Diplomatie und Sanktionen, um den Iran von seinem Kurs abzubringen.
Grundsätzlich betrachtet Israel den Iran nicht als Feind. Die Regierung betont bei jeder Gelegenheit, dass der Iran bis 1979 enge Beziehungen zu Israel pflegte. Problematisch sei die Ideologie der Mullahs. Präsident Mahmoud Ahmadinejad sei nur ein »kleines Rädchen«, Ayatollah Ali Khame­nei sei weit gefährlicher. Der Iran kündigt Israels geplante Vernichtung regelmäßig mit unterschiedlichsten Formulierungen an. Übersetzungsfehler können ausgeschlossen werden. Dadurch, dass der Iran die Legitimität des Staates Israel grundsätzlich in Frage stellt und bei Paraden Langstreckenraketen mit der Aufschrift »Tel Aviv« auf dem Sprengkopf präsentiert, müsste jedem klar sein, dass es das Regime in Teheran ernst meint. Der Iran will keinen Regimewechsel in Israel, sondern das Verschwinden des gesamten jüdischen Staates.
Und der Iran hat bereits zwei Kriege gegen Israel angezettelt: 2006 im Libanon und 2008 in Gaza. Er unterstützt Israels radikalste Feinde finanziell, militärisch und politisch – die Hamas und den Islamischen Jihad im Gaza-Streifen sowie die Hizbollah im Libanon. Auch wenn diese Unterstützung seit einiger Zeit ins Stocken geraten ist, kann Israel iranische Drohungen nicht als bloße Rhetorik abtun. Derzeit jedenfalls stehen die bewaffneten Bündnispartner des Iran direkt an den Grenzen Israels. Auch die offenkundig von iranischen Agenten verübten Anschläge auf israelische Diplomaten in Indien, Georgien und Thailand in jüngster Zeit bezeugen den Ernst der Lage.

Eine Bedrohung besteht aber nicht nur für Israel. Der Iran benötigt Trägerraketen, um die Atombombe schließlich ans Ziel zu bringen. Mit diesen könnte er nicht nur Tel Aviv, sondern ebenso Berlin, London, Saudi-Arabien und amerikanische Stützpunkte im Persischen Golf erreichen. Niemand weiß, wie »pragmatisch« oder »unberechenbar« der Iran tatsächlich ist. Israel muss politisch abwägen, ob es riskanter ist, rechtzeitig die iranischen Atomanlagen anzugreifen und die Folgen in Kauf zu nehmen oder sich auf die Rationalität eines atomar bewaffneten Iran zu verlassen. Das fällt schwer, solange Irans Staatspräsident vor der Uno über den schiitischen Messias, den »Mahdi«, und die Apokalypse predigt oder beim ZDF unwidersprochen den Holocaust leugnet. Auch die Ausbildung Zehntausender Selbstmordattentäter, darunter auch viele Frauen, entspricht nicht dem Verhalten eines rational agierenden Staats.
Ein Präventivschlag, der die Zerstörung des Atomprogramms zum Ziel hat, müsste erfolgen, ehe der Iran und seine Anlagen unangreifbar geworden sind. Die Zeit drängt. Der Iran hat seine Lehren aus der israelischen Bombardierung des irakischen Atomreaktors Osirak bei Bagdad 1981 gezogen und die eigenen Anlagen zur Forschung oder zur Anreicherung von Uran im ganzen Land verteilt, unterirdisch an teilweise geheimen Orten. So besteht keine Sicherheit, alle Standorte entdecken, treffen und zerstören zu können. Niemand weiß mit absoluter Sicherheit, ob der Iran bereits mit dem Bau einer Atombombe begonnen oder sogar schon eine in Nordkorea getestet hat, wie kürzlich die Welt unter Berufung auf westliche Geheimdienstkreise mutmaßte.
Politisch spielt auch Syrien als wichtigster Verbündeter des Iran eine entscheidende Rolle. Heute könnte Syrien jeden Punkt in Israel mit ballistischen Raketen und chemischen Sprengköpfen treffen. Weil Syrien mit einem verheerenden israelischen Gegenschlag rechnet, funktioniert seit 1973 die gegenseitige Abschreckung. Russische Experten gehen davon aus, dass Israel den Iran frühestens zwei Monate nach dem Sturz Bashar al-Assads angreifen würde, und das auch nur im Rahmen einer Allianz mit den USA und den Saudis. Weil die russische Regierung Krieg und Aufstände in den ehemaligen sowjetischen Südprovinzen befürchtet, hätte auch sie ein Interesse, einen Krieg gegen den Iran zu verhindern.
Dazu hört man in Jerusalem, dass die »Ehre« des Iran eine entscheidende Rolle spiele. Die Welt könne von der Aufrichtigkeit des Iran nur überzeugt werden, wenn alle Anlagen für Inspektionen geöffnet würden. Doch der Iran würde »das Gesicht verlieren«, falls sich herausstellen sollte, dass er gelogen hat.

Netanyahus umstrittene Äußerung zur Angst vor einem »zweiten Holocaust« entspricht dem Selbstverständnis des jüdischen Staates. Die Juden sind einmal wie »Schafe zur Schlachtbank« zum schlimmsten Genozid der Menschheitsgeschichte geführt worden. Der Staat Israel ist entstanden, damit Juden nie wieder Opfer eines Völkermordes würden. Deshalb nimmt Israel die Vernichtungsdrohungen der Ayatollahs sehr ernst. Und deshalb ist Israel bereit, ein hohes Risiko einzugehen, die Gefahr einer Atombombe auf Tel Aviv abzuwenden.

Klar ist aber, dass nur ein Überraschungsangriff erfolgreich sein könnte. Das Gerede über Israels vermeintliche Fähigkeit, mit bunkerbrechenden Bomben die Anlagen zu zerstören, wird von offiziellen Sprechern daher weder bestätigt noch dementiert. Verärgert reagierten die Israelis auf die Meldung über angebliche Pläne, Flugplätze in Aserbaidschan zu benutzen. Die dortige Regierung dementierte den Bericht. Die Absicht jener, die das in der amerikanischen Presse lancierten, dürfte gewesen sein, einen israelischen Alleingang zu verhindern. Israelische Kommentatoren monierten, dass die USA so den militärischen Druck auf den Iran sabotierten. Sowie sich der Iran in der Gewissheit wiegen kann, nicht angegriffen, sondern nur mit Sanktionen unter Druck gesetzt zu werden, kann er sein Atomprogramm erst recht vorantreiben.
Ein atomar bewaffneter Iran bedroht nicht nur Israels physische Existenz, sondern ist eine globale Gefahr. Betroffen fühlen sich auch arabische Staaten wie Ägypten, Saudi-Arabien und die Öl­emirate am persischen Golf. Vor etwa zwei Jahren begannen sie mit militärischer Aufrüstung, teilweise sogar mit dem Segen Israels. Sollte der Iran Atommacht werden, befürchtet Israel ein atomares Wettrüsten in der ganzen arabischen Welt. Die Stabilität in den arabischen Staaten ist aber spätestens seit dem Ausbruch des »arabischen Frühlings« nicht mehr garantiert. So könnten unberechenbare Fanatiker in den Besitz atomarer Waffen gelangen.
Weil hier US-amerikanische und arabische Interessen übereinstimmen, erscheint schon aus praktischen Gründen ein israelischer Angriff eher unwahrscheinlich. Die USA haben exakt die gleichen Kampfflugzeuge, bessere bunkerbrechende Bomben und Stützpunkte, die näher am potentiellen Ziel liegen. Ob aber Israel oder die USA, im Verbund oder unabgesprochen, einen Militärschlag durchführen würden, das politische Ergebnis wäre ohnehin dasselbe. Der Iran und seine Verbündeten würden den »großen Satan« für einen Angriff des »kleinen Satans« verantwortlich machen. Und selbst wenn Israel nicht angreift, muss es mit Raketenangriffen rechnen. Den Präzedenzfall lieferte der Irak 1991. Israel hatte sich aus dem Irak-Krieg herausgehalten und wurde dennoch mit Scudraketen beschossen.