Deutsche Islamverbände und die Morde von Toulouse

Nichts als Beileid

Auf die Morde von Toulouse reagieren deutsche Islamverbände mit einer reflexhaften Abwehr kritischer Fragen.

Die Abwehrmechanismen nichtmuslimischer und muslimischer Konservativer in Deutschland gleichen sich in erstaunlichem Maße. Wenn Neonazis morden, zeigen sich konservative Parteien betroffen, eine Verbindung der Taten mit alltäglichem Rassismus, deutschem Nationalismus und den eigenen politischen Kampagnen, die diese Ideologien bestätigen, möchte man aber nicht erkennen. Wenn islamistische Terroristen morden, reagieren die konservativen islamischen Dachverbände ganz ähnlich: Man zeigt sich entsetzt über die Taten, verurteilt die Täter und kondoliert den Opfern, aber nur um im nächsten Atemzug zu betonen, das Morden habe mit dem Islam rein gar nichts zu tun.
Die Presseerklärung, die der älteste der großen Islamverbände in Deutschland, der Verband der Islamischen Kulturzentren in Deutschland (VIKZ), nach den Morden von Toulouse veröffentlichte, ist exemplarisch für diese Haltung. Im ersten Absatz spricht der Verband sein »aufrichtiges und herzliches Beileid« aus und erklärt im zweiten, dass die »Attentate des ­Extremisten und jede andere Form der Gewalt (…) in keinster Weise mit dem Islam vereinbar« seien. Dieser Routine konnte der Verband treu bleiben, weil er sich erst öffentlich äußerte, nachdem der islamistische Tathintergrund bekannt geworden war. Ein Problem dagegen hatten jene Verbände, die ihre Erklärungen schon abgaben, als Ermittlungsbehörden und Öffentlichkeit noch von einem rechtsextremen, rassistischen Hintergrund ausgingen.
In solchen Fällen greift nämlich eine andere verbandsislamische Praxis, bei der man die Taten als Ausdruck gesellschaftlich verbreiteter Feindbilder versteht und dabei Antisemitismus, Rassismus sowie Islamfeindlichkeit parallelisiert oder gleichsetzt. So gab die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, die dem reformistischen Islamismus zugerechnet wird, schon einen Tag vor Bekanntwerden des islamistischen Tat­hintergrundes eine Presseerklärung heraus. Darin hieß es, die Täter hätten »offensichtlich« aus fremdenfeindlichen und antisemitischen Motiven gehandelt. Nun sei es wichtig, den gesellschaftlichen und politischen Kontext der Morde zu thematisieren, denen eine »wochenlange ausländerfeindliche Stimmungsmache von französischen Regierungspolitikern im Zuge des Wahlkampfes« vorangegangen sei. Solche Kampagnen bestärkten die Täter in dem Glauben, »sie setzten das Unausgesprochene um oder täten das, was andere sich nicht trauen«.
Der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), der vor allem nicht türkischstämmige Muslime vertritt und dem eine Nähe zur islamistischen Muslimbruderschaft nachgesagt wird, spitzte diese Behauptung weiter zu. Der ZMD-Vorsitzende Aiman Mazyek sagte, die Morde atmeten »den Geist der NSU«. Es sei »leider nicht auszuschließen, dass es in Deutschland Trittbrettfahrer gibt«. Weil unter den Ermor­deten auch zwei Muslime waren und der Rechtsextremismus in Europa gut organisiert sei, behauptete Mazyek eine besondere Gefährdung muslimischer Einrichtungen in Deutschland, deren Polizeischutz nicht ausreichend sei.
Die Forderung, politische Morde in ihrem ideologischen und gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, entspricht im Grunde der anti­faschistischen Übereinkunft, Rechtextremismus als »Extremismus der Mitte« zu verstehen und bereits dessen alltägliche Erscheinungsformen zu problematisieren.
Als sich herausstellte, dass der Täter kein rechtsextremer Rassist, sondern ein Islamist war, der angab, die Morde zur Verteidigung der Gemeinschaft der Muslime und aus Rache für tote palästinensische Kinder begangen zu haben, hätte freilich ein anderer Kontext betrachtet werden müssen. Den Hintergrund der Morde von Toulouse bilden nicht die fremdenfeindlichen Wahlkampfkampagnen der französischen Rechten, sondern islamische Strömungen, die die Muslime als weltweite Gemeinschaft von Opfern einer feindlichen Umwelt und Is­rael als verbrecherischen Staat darstellen. Bei Milli Görüs, zu deren Repertoire solche Ansichten zählen, sucht man eine derartige Reflexion freilich vergeblich. Stattdessen schwieg man sich nach Bekanntwerden des islamistischen Tatmotivs beredt aus und verlor keine Worte mehr über einen Zusammenhang von Tat, Ideologie und gesellschaftlichem Kontext. Der ZMD brachte es sogar fertig, eine Kehrtwendung zu vollziehen und innerhalb weniger Stunden von der routinierten Verurteilung von Rassismus und Islamfeindlichkeit zur ebenso routinierten Verleugnung jeglicher Zusammenhänge von Tat, Ideologie und Kontext überzugehen. In einer neuen Presseerklärung drückt man sein »tiefstes Beileid« aus und betont, dass es »keinerlei Rechtfertigung im Islam für solche niederträchtigen Schandtaten« gebe. Statt das islamische Selbstverständnis des siebenfachen Mörders Mohammed Merah zu thematisieren, sieht man sich weiter in der Opferrolle, wofür die Tatmotive kurzerhand uminterpretiert werden.
Mazyek erweckt den Eindruck, Merah sei kein Terrorist, der aus aus religiöser Überzeugung vermeintliche Feinde des Islam töten wollte, sondern ein krimineller Unruhestifter, der einzig darauf zielte, »die Religionen gegeneinander aufzuhetzen«. Eindringlich wird davor gewarnt, eine Verbindung zwischen Islam und Terrorismus herzustellen. Wer die Ideologie des Mörders ernst nehme, verhöhne »zusätzlich die Opfer« und kränke »die Muslime weltweit«.
Dass kritische Selbstreflexion auch innerhalb des deutschen Verbandsislam möglich ist, demonstrierte der Zentralrat der Muslime. Neben den oben zitierten offiziellen Presseerklärungen findet sich auf der vom Verband unterhaltenen Website islam.de ein Essay des Autors Muhammad Sameer Murtaza. Murtaza thematisiert genau das, was die Verbände sonst lieber verschweigen: Dass islamistische Attentäter nicht einfach voluntaristisch »im Namen des Islam« morden und die Religion für ihre politischen Zwecke »missbrauchen«, sondern an bedeutende islamische Strömungen anknüpfen; dass ihre Ideologien und Feindbilder sich nicht in völliger Isolation vom muslimischen Mainstream entwickeln, sondern eine extreme Form von unter Muslimen verbreiteten und in Moscheegemeinden teils geförderten Haltungen sind; und dass der Islam keine reflexartigen Abwehrerklärungen, sondern Selbstreflexion, innere Debatte und Reformen braucht. Denn »zu sehr ist diese Religion zu einer reinen Gehorsam fordernden Gesetzesreligion verkommen, die sich in den Begriffen Halal und Haram erschöpft«. Auch dies gehöre zum Hintergrund von Attentaten wie denen in Toulouse. Solange die offiziellen Erklärungen der Islamverbände aber in ihren bequemen Abwehrritualen verbleiben, behindern sie einen solchen Prozess eher, als dass sie ihn fördern.