Yoram Kaniuk im Gespräch über Antisemitismus in Deutschland

»Grass hat ein Problem mit Juden«

Yoram Kaniuk, 1930 in Tel Aviv geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Israels. Er veröffentlichte zahlreiche Romane sowie Kurzgeschichten und Kinderbücher. 2009 erschien in Deutschland sein autobiographischer Roman »Zwischen Leben und Tod«. Mit der Jungle World sprach Kaniuk über Günter Grass, Antisemitismus in Deutschland, den Iran und Israel.

Was war Ihre erste Reaktion, als Sie vom Inhalt des sogenannten Gedichts von Günter Grass erfuhren?
Um ehrlich zu sein: Es interessiert mich nicht besonders. Ich denke nicht, dass dieses Gedicht irgendeine Bedeutung hat. Grass hatte schon immer problematische Ansichten zu Israel und den Juden. Auch wenn andere seine Bemerkungen als Antisemitismus bezeichnen – ich würde es nicht so nennen. Es ist einfach nur so, dass er ein Problem mit Juden hat. Ich hatte 1991 eine Diskussion mit ihm im deutschen Fernsehen. Ich wandte mich gegen die Tatsache, dass die deutsche Linke gegen den damaligen Krieg der USA gegen den Irak protestierte, ohne gleichzeitig gegen die Giftgaslieferungen deutscher Firmen an Saddam Hussein in den achtziger Jahren zu protestieren: Deutsche, Juden, Gas – diese Verbindung sollte es nicht mehr geben, und das habe ich ihm gesagt. Wir hatten damals eine lange Diskussion und meine Schlussfolgerung daraus war, dass er eine sehr schwierige Person ist, und dass er ein Problem mit all dem hat.
Auch ich bin nicht dafür, den Iran anzugreifen. Die meisten Israelis sind das nicht. Ich kämpfe gegen die amtierende israelische Regierung und habe das schon sehr lange getan. Doch das ist unsere Sache als Israelis. Warum schreibt Grass kein Gedicht darüber, wie im Iran jeder Anflug von Opposition niedergemacht wird? Die iranische Führung erklärt ständig, dass sie Israel von der Landkarte radieren will. Ich weiß nicht, ob es in Deutschland so ruhig wäre, wenn der Iran immer wieder erklären würde, er wolle Deutschland ausradieren. Man muss sehen, dass es bei den Diskussionen über einen etwaigen Angriff auf den Iran um einen Angriff auf dessen Nuklearanlagen geht, die uns hier in Angst versetzen.
Grass stellt es so dar, als ob man in Israel einen atomaren Erstschlag auf den Iran plane und das gesamte iranische Volk auslöschen wolle …
Das ist natürlich absoluter Nonsens. Es gibt 75 Millionen Iraner. Nicht einmal die USA könnten 75 Millionen Iraner auslöschen. Worüber in Israel diskutiert wird, ist selbstverständlich nicht, den Iran auszulöschen, sondern dessen Nuklearanlagen zu zerstören. Zu behaupten, Israel wolle den gesamten Iran auslöschen, ist einfach Blödsinn. Das ist wie die Behauptung, die Juden würden zu Pessach Christen töten, um aus ihrem Blut Mazzen zu backen. Grass mag ein guter Schriftsteller sein, aber das ist alles völlig übertrieben. Ich bezweifle auch seine humanitären Beweggründe. Wie kann man gegen Krieg protestieren, ohne gegen Giftgas zu protestieren? Was weiß Grass schon über den Atomkrieg und was ein solcher für ein kleines Land wie Israel bedeuten würde? Und was weiß Grass überhaupt über diese Region, in der er gar nicht lebt?
Wenn Israel keine Atomwaffen hätte, wäre es schon vor langer Zeit zerstört worden. Und das ist nicht so, weil wir sie benutzen, sondern weil wir sie nicht benutzen. Israel ist ein kleines Land. Alles, was wir wollen, ist zu existieren. Und nicht bloß in Israel ist man besorgt über das iranische Atomprogramm. Es ist ein großes Problem, wenn man zulässt, dass jemand Atomwaffen bekommt, der ankündigt, sie gegen seine Nachbarstaaten einsetzen zu wollen.
Ist Mahmoud Ahmadinejad nur ein »Maulheld«, wie Grass behauptet?
Woher will er das wissen, wenn er ihn nicht persönlich kennt? Ahmadinejad spricht andauernd davon, den Staat Israel zu zerstören und die Juden zu töten. Das ist Fakt. Wir wissen nicht, ob er das ernst meint oder nicht. Auch Hitler kündigte in »Mein Kampf« die Auslöschung der Juden an, und niemand nahm das ernst. Jedenfalls ist klar, dass Ahmadinejad nicht der nette Typ von nebenan ist. Er ist ein Dummkopf. Und wenn Grass so über ihn denkt, macht ihn das auch ein bisschen zum Dummkopf. Wie gesagt, ich denke nicht, dass Grass ein Antisemit ist, denn ein Antisemit würde sich schlauer verhalten. Aber es ließen sich so viele schreckliche Dinge auf der Welt finden, über die er ein Gedicht schreiben könnte. Aber Grass möchte etwas haben, woran er den Juden die Schuld geben kann.
Grass behauptet, Israel sei eine Gefahr für den Weltfrieden …
Israel ist ein kleines Land mit sieben Millionen Einwohnern. Schauen Sie sich die Weltkarte an: Man muss seinen Namen auf das Meer daneben schreiben, weil Israel so klein ist. Wie können wir da für Kriege auf der ganzen Welt verantwortlich sein? Wie können wir der Fluch der ganzen Welt sein? Wir haben dieses Land geschaffen, um die Juden vor ihrer Vernichtung zu retten. Darum existiert Israel. Seitdem ist das Land stärker geworden, aber wir bedrohen niemanden. Die Israelis sagen nicht einmal: Wir mögen die Deutschen nicht. Auch wenn wir natürlich ein Problem damit haben, was Deutsche vor 70 oder 80 Jahren getan haben. Ahmadinejad hingegen sagt, die Juden sind Abschaum und Israel muss vernichtet werden. Wenn Günter Grass das gefällt, ist das sein Problem. Aber Grass war schon immer so. Schon als ich ihn in den sechziger Jahren traf, war Israel ein Problem für ihn. Er konnte nie über einen Juden schreiben. Er hat nie über den Holocaust geschrieben. Dabei war das so sehr ein Teil seiner Vergangenheit. Er sah, wie jüdische Kinder nicht mehr zur Schule kamen und stattdessen in Lager gebracht wurden. Er hatte jüdische Lehrer, er kannte Juden. Und doch konnte er nie darüber eine Geschichte schreiben.
Könnte es da einen Zusammenhang geben mit der Tatsache, dass Grass seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS sechs Jahrzehnte lang verschwieg?
Ich hatte so etwas schon vor langer Zeit erwartet, aber niemand glaubte mir. Als ich 1991 im Zusammenhang mit dem ersten Irak-Krieg die Fernsehdebatte mit Grass führte, hatte ich das Gefühl, als redete ich zu einem Feind, denn er zeigte eine selektive Moral. Danach sprachen wir nicht mehr miteinander. Dass Sie mich nach meiner Meinung fragen, bedeutet mir offen gesagt mehr als das, was Grass sagt. Ich denke, er ist passé. Ihm gefällt es, Aufmerksamkeit zu erregen. Denn viele gute Bücher hat er nicht mehr geschrieben. Sein erstes Buch »Die Blechtrommel« war großartig, und auch noch einige andere, aber inzwischen … Ständig sagt er seine Meinung über Dinge, von denen er keine Ahnung hat. Wir hier in Israel leben in der Mitte einer arabischen Revolution – in Syrien, in Ägypten, in Nordafrika. Erhebt Grass Einspruch dagegen, dass Syriens Herrscher Bashar al-Assad fast 10 000 Angehörige seiner eigenen Bevölkerung hat umbringen lassen? Das passiert 200 Kilometer von hier. Darüber müssen wir uns Sorgen machen. Denn das ist ein Gemetzel, ein Massenmord.
Schon vor einigen Jahren, als Grass sein Buch »Im Krebsgang« veröffentlicht hatte, nannten Sie ihn einen »miesen Lügner«.
Ja, das stimmt. Aber das heißt nicht, dass ich ihn hasse oder ihn für einen Antisemiten halte. Ich denke einfach, dass er ein Problem hat.
Ist dieses Problem, das er hat, nicht in Wahrheit die deutsche Vergangenheit?
Es ist ein deutsches Problem – für Leute, die damals aufwuchsen und heute noch am Leben sind. Es ist hart für sie. Wenn ich Deutscher wäre, würde ich jede Woche eine Stunde weinen. Als man kein billiges Gas mehr hatte, entschied man, die Kinder direkt ins Feuer zu werfen. Das machte man mit Tausenden jüdischer Kinder. Ist das der Fehler von Günter Grass? Nein. Ist das Ihr Fehler? Nein. Aber es passierte in Ihrem Land. Darüber sollte Grass nachdenken. Denn 70 oder 80 Jahre sind historisch betrachtet gar nichts. Die Deutschen sollten sich nicht so viele Gedanken über Grass machen. In Deutschland hat man so viele positive Initiativen im Hinblick auf die deutsche Vergangenheit unternommen.
Wenn man sich die Kommentare unter vielen Artikeln über Grass durchliest, kann man durchaus bezweifeln, dass die Mehrheit der Deutschen so ganz anderer Meinung ist als Grass. Denken Sie auch an die Umfragen, wonach zwei Drittel der Deutschen Israel als größte Gefahr für den Weltfrieden betrachten – vor Iran, Irak oder Nordkorea.
Uns Juden wurde 2 000 Jahre lang die Schuld an allem gegeben. Tief drinnen gibt es in Europa dieses Gefühl, die Juden seien ein dämonisches Volk. Sie seien es, die immer Erfolg hätten. Sie seien es, die sich nicht höflich verhielten. Was auch immer. Egal was ist, man beschuldigt die Juden. Oder die Israelis. Heute gibt es viele Juden, die in Deutschland leben. Ich muss zugeben, für mich ist das seltsam. Ich denke, Juden sollten für mindestens 100 Jahre nicht dort leben, denn dort hat das alles begonnen. Auf der anderen Seite lebten Deutsche und Juden viele Jahre miteinander und es gibt wunderbare junge Deutsche. Von daher gibt es da eine starke Verbindung. Und deswegen gehen heute so viele junge Israelis nach Berlin, um dort zu leben. In die Stadt, von der aus damals die Juden in die Gaskammern geschickt wurden. Schon vor über 1 000 Jahren wurden Juden in Deutschland ermordet, weil sie Juden waren. Und es kamen wieder Juden. Und wurden wieder umgebracht. So gesehen ist es vielleicht auch ein jüdisches Problem. Günter Grass jedenfalls repräsentiert die zu Luther und Goethe zurückreichende Kontinuität der deutschen Seite – die, die Juden immer wieder ermordet hat.
Aber mich interessiert das alles nicht mehr. Ich spreche darüber, weil Sie mich fragen. Doch zwei Minuten nach unserem Gespräch werde ich nicht mehr daran denken.