Das französische Atomprogramm im Wahlkampf

Mit derselben Energie

Der französische Präsident Nicolas Sarkozy will keinen Zweifel am Nutzen der Atomkraft aufkommen lassen und wirbt auch im Wahlkampf für die Nukleartechnologie. Kritische Debatten gibt es jedoch in Gewerkschaften und linken Organisa­tionen, die bislang die staatliche Atompo­litik unterstützten.

Eine Pumpe im Kühlkreislauf fiel aus, es brannte, und schließlich musste der Stromkonzern EDF einräumen, dass auch radioaktives Wasser austrat. Doch wie bei Störfällen üblich, hieß es auch nach der Notabschaltung des Atomkraftwerks Plenly am Donnerstag vergangener Woche, es habe »keine Auswirkungen auf die Umwelt« gegeben. Umweltschützer bezweifeln das, doch trotz zahlreicher ähnlicher Vorfälle in Frankreich und der Reaktorkatastrophe in Fukushima wird die Atomkraft nicht nur von den interessierten Konzernen, sondern auch von vielen Gewerkschaftern und Linken befürwortet.
Während die Regierungen anderen Länder die Nutzung der Atomenergie meist eher verschämt als ökonomischen Sachzwang rechtfertigen und langfristig den Ausstieg versprechen, kann sie in Frankreich der Anlass für pathetische Reden sein. So leistete Präsident Nicolas Sarkozy Mitte März auf einer Großveranstaltung in Villepinte vor rund 50 000 Menschen »einen Schwur«. Mit »derselben Energie« wie die Arbeitsplätze in der Stahl­industrie werde er »unsere Nuklearindustrie verteidigen, die von absolut kapitaler Bedeutung für unsere Unabhängigkeit, unsere Wettbewerbsfähigkeit, unseren Wohlstand ist. Schande denen, die die Arbeitsplätze von Zehntausenden im Tausch gegen ein armseliges Wahlabkommen verkauft haben!«
Als »armseliges Wahlabkommen« betrachtet Sarkozy die im November vergangenen Jahres geschlossene Vereinbarung zwischen der Sozialistischen Partei (PS) und der Wahlplattform Europe Ecologie-Les Verts (EE-LV), einem Bündnis der grünen Partei mit linksliberalen und linksbürgerlichen Gruppen. Es sieht vor, den Anteil der Atomenergie an der Stromproduktion von derzeit 74 Prozent bis zum Jahr 2025 auf 50 Prozent zu verringern. Konkret sieht das Abkommen zwischen Sozialdemokraten und Grünen für die im Mai beginnende fünfjährige Amtszeit des nächsten Präsidenten sowie die Legislaturperiode des nächsten Parlaments von gleicher Länge allerdings nur die Schließung einer einzigen Atomanlage vor. Es handelt sich um das Atomkraftwerk Fessenheim im südlichen Elsass, in der Nähe des Rheintals. Es wurde bereits im Jahr 1977 in Betrieb genommen, läuft also seit fast 35 Jahren.
Doch selbst ein so langsamer Abbau der Abhängigkeit von der Atomkraft wird von vielen Franzosen abgelehnt, auch von manchen Beschäftigten der Nuklearindustrie, die sehr engstirnige Ansichten zu hegen scheinen, wenn es um die Verteidigung ihrer Arbeitsplätzegeht. Denn sowohl die französischen Sozialisten als auch EE-LV betonen, der Umstieg von der Atomkraft auf andere Energiequellen solle und müsse notwendig mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze statt ihrem Abbau einhergehen. Diese Stellen würden für die Umstellung der Energieversorgung und die Entwicklung umweltfreundlicher Produktionsweisen ohnehin benötigt.

Dennoch sind viele Beschäftigte des Atomkraftwerks Fessenheim empört, und sie haben reichlich Gelegenheit, ihren Verdruss vor Kameras und Mikrophonen auszudrücken. Sarkozy wurde am 9. Februar von den Arbeitern in Fessenheim begeistert empfangen. Er wetterte gegen jene, die die Arbeitsplätze dort auf »einem grünen Silbertablett im Rahmen schmutziger politischer Geschäfte« verscherbelten. Am 19. März besuchte eine Delegation der in Fessenheim Beschäftigten, die eine siebenstündige Busfahrt absolviert hatte, dann das Wahlkampfhauptquartier François Hollandes in Paris. Dabei wurde der sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat von manchen Besuchern verbal scharf attackiert, einer verglich ihn sogar mit Marie Antoinette.
Allerdings hat inzwischen auch in den Gewerkschaften eine kontroverse Debatte über die Atomindustrie begonnen, nachdem jahrelang kaum jemand dem von der CGT vertretenen Dogma widersprochen hatte, die Atomkraft sichere Arbeitsplätze. 40 Gewerkschaftsmitglieder aus der CGT, der sozialdemokratischen CFDT und dem linken Bündnis von Basisgewerkschaften Sud meldeten sich am Donnerstag der vergangenen Woche in der elsässischen Regionalzeitung Dernières Nouvelles d’Alsace zu Wort. Am Vortag hatten sie einen Aufruf für eine sofortige Stilllegung des Atomkraftwerks Fessenheim unterzeichnet.

In der französischen Linken traten traditionell die Grünen und radikalere Organisationen wie die aus der trotzkistischen LCR hervorgegangene Neue Antikapitalistische Partei (NPA) für den Ausstieg aus der Atomenergie aus. Die NPA fordert den Austieg innerhalb von zehn Jahren, die Grünen sehen eine doppelt so lange Frist vor. Doch beide Parteien sind geschwächt. Die Grünen haben schon frühzeitig ihre eigene Kanditatin Eva Joly durch das Abkommen mit der Sozialdemokratie Hollandes desavouiert, bei dem schon im November die Wahlkreise bei den Parlamentswahlen aufgeteilt und viele Forderungen der Grünen geopfert wurden. Nach Ansicht vieler Parteimitglieder wurde die politische Eigenständigkeit aufgegeben. Die NPA ist überwiegend mit internen Streitigkeiten beschäftigt und weitgehend handlungsunfähig. Ihr Kandidat Philippe Poutou wird Umfragen zufolge weniger als ein Prozent der Stimmen erhalten, Joly wird wohl auf nicht mehr als drei Prozent kommen.
Die Kommunistische Partei hat erstmals seit 1974 auf einen Präsidentschaftskandidaten aus den eigenen Reihen verzichtet, sich stattdessen mit anderen Parteien zur Linken Front zusammengeschlossen und den ehemaligen Sozialdemokraten Jean-Luc Mélenchon aufgestellt. Dass die KP sich nun mit den linken Sozialdemokraten verbündet hat, könnte der geschwächten Partei zu mehr Popularität verhelfen. Auch frühere linke Grüne, seien es Abgeordnete – die linksökologische Parlamentarierin Martine Billard wurde eine der Hauptberaterinnen Mélenchons – oder bisherige Wähler, haben sich inzwischen der Linken Front angenähert.
Während die KP bislang aber kein Wort der Kritik an Atomenergie hören wollte und eher an rauchende Schornsteine denn an den Sinn von Umweltpolitik glaubte, spricht Mélenchon auch von »ökologischer Wirtschaftsplanung« und vom Atomausstieg. Formell haben beide Organisationen, die KP und Mélenchons Linkspartei (PG), sich auf einen Kompromiss geeinigt: »ein Referendum über Beibehaltung der Atomenergie oder Ausstieg«.

Auf der Gegenseite wettert die UMP unter Sarkozy gegen solche »gefährlichen« Pläne. Ende Februar ließ die Regierungspartei etwa in Paris Wahlwerbezettel unter die Scheibenwischer geparkter Autos klemmen: »Gigantischer Sozialplan: 400 000 Arbeitsplätze bedroht!« Der Grund für die harte Polarisierung in dieser Frage dürfte sein, dass das französische Kapital derzeit kein Interesse an »grünen« Technologien zeigt. Denn während wichtige Fraktionen der deutschen Wirtschaft relativ früh den Einstieg in die green economy vollzogen und sich davon Wettbewerbsvorteile erhoffen, scheinen französische Unternehmer sich weiterhin jenen Branchen widmen zu wollen, in denen sie bereits erfolgreich arbeiten und über spezifische Wettbewerbsvorteile verfügen.
Zu diesen Branchen gehört die Atomkraft. Nukleartechnologie gilt auch nach Fukushima als lukratives Exportprodukt. So erträumt es sich jedenfalls Nicolas Sarkozy. Eine erhebliche Zahl der erhofften Käufer sind jedoch Herrscher des Nahen und Mittleren Ostens. Muammar al-Gaddafi aber wird den Franzosen kein Atomkraftwerk mehr abkaufen können, und auch andere potentielle Kunden drohen auszufallen.