Repression gegen Schriftsteller und Journalisten in der Türkei

Der türkische Traum vom Fliegen

In der Türkei werden Oppositionelle nicht mehr gefoltert oder umgebracht wie noch in den neunziger Jahren. Für kritische Berichterstattung oder ungewohnte publizistische Erzeugnisse muss man jedoch stets mit einer Anklage und Haftstrafen rechnen. Auch prominente Schriftsteller und Journalisten sind von dieser Art der Zensur betroffen.

Bahadır Baruter sitzt an seinem High-Tech-Zeichendesk bei seiner Lieblingsbeschäftigung. Zügig zieht er mit der Maus Linien auf dem Bildschirm, ein plumpes, niedliches Geschöpf entsteht: ein Vogel ohne Flügel. Der watschelnde Pinguin ist das Maskottchen der Satirezeitschrift Penguen. Baruter gehört zu deren Begründern und ist Teil der anarchistischen Avantgarde in der Türkei. Tabus interessieren ihn nur als Gegenstand beißenden Spotts. Im Oktober wurde zum zwölften Mal gegen ihn ein Verfahren wegen einer seiner Zeichnungen eröffnet.
Er veröffentlichte vor einem Jahr eine Karikatur, in der er sich über die fehlenden Arabischkenntnisse vieler gläubiger Türken lustig machte. Seine Karikatur zeigt das Innere einer Moschee mit Betenden darin. An einer Säule steht der Satz geschrieben: »Es gibt keinen Gott, die Religion ist eine Lüge.« Der Witz zielte auf den Umstand, dass niemand die Gotteslästerung verstehen würde, wenn sie so an der Wand stünde, betont Baruter. »In unseren Moscheen befinden sich an den Wänden und Säulen Koransuren auf Arabisch. Da die meisten Türken kein Arabisch verstehen, wissen sie nicht, was dort steht. Auch ihre Gebete sagen sie auswendig daher, ohne den Sinn der Worte zu verstehen. Darum geht es in dieser Karikatur. Es geht mir nicht um die Existenz oder Nichtexistenz Gottes.«

Das wollen viele lieber ganz anders verstehen. Ein bis zwei Jahre Haft könnten dem prominenten Cartoonisten blühen. Er ist in guter Gesellschaft. Irfan Sancıs Büro befindet sich auf einer bescheidenen Etage im Istanbuler Altstadtviertel Çemberlitaş, in der Nähe des Großen Basars. An der Wand hängen die Originale türkischer Maler mit skurrilen und fantastischen Motiven. Psychedelische Fratzen, die inhaltlich mit dem progressiven Programm seines Verlages korrespondieren. Sancı verlegt die türkische Übersetzung der »Nova«-Trilogie des Beatnik-Autors William S. Burroughs. Dazu gehören im Originaltitel »Soft Machine«, »The Ticket That Exploded« und »Nova Express«. Der Anglist Süha Sertabiboğlu hat die Meisterleistung vollbracht, eine türkische Übersetzung zu verfassen. Übersetzer und Verleger staunten nicht schlecht, als im April ein Ermittlungsverfahren gegen die Übersetzung von »Soft Machine« eingeleitet wurde. »Yumuşak makine« sei jugendgefährdend, befand die Staatsanwaltschaft. Sancıs und Sertabiboğlus Anwälte pochten vergeblich darauf, dass der Verlag ja keine Kinderbücher herausgebe. Im Oktober wurde ein Verfahren wegen der Verbreitung gefährdender, pornographischer Inhalte eröffnet. Ein Gutachter soll jetzt feststellen, ob es sich bei dem Buch überhaupt um Literatur handelt. Es ist zwar weiterhin im Handel frei erhältlich, dem Übersetzer und dem Verleger drohen jedoch ebenfalls Haftstrafen. Im Falle einer Verurteilung verschwinden die türkischen Übersetzungen aus dem Buchhandel. Die Originale auf Englisch kann weiterhin jeder über den Versandhandel beziehen. »Was mich am meisten ärgert«, meint Sancı lakonisch, »ist der Umstand, dass ich jetzt wirklich Probleme habe, Übersetzer für Kathy Ackers ›Portrait of an Eye‹ zu finden.«

Zensur und Repression grassieren in der Türkei besonders dann, wenn neue Eliten versuchen, Krisen zu vertuschen, um die eigene Macht zu erhalten. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – hat die Türkei ausgezeichnete Schriftsteller, Cartoonisten, Liedermacher, Filmemacher und viele andere Kreative, die hohes Ansehen genießen. Das just zu Ende gehende Istanbul-Film-Festival ist seit einigen Jahren bereits vor der Eröffnung schon so gut wie ausverkauft. Die wöchentliche Lektüre der Satire-Zeitschrift Gırgır (Spaß) war gerade nach dem Militärputsch von 1980 für viele ein Muss. Nicht nur Studenten und Comicfans lasen das Heft, auch Polizisten, Staatsanwälte und Offiziere amüsierten sich köstlich. Zum Teil hat das mit ganz einfachen, marktwirtschaftlichen Dynamiken zu tun. Ein Gut wird umso wertvoller, je schwerer es erkämpft wird. Den Autoren winkt eine gesicherte Aufmerksamkeit, sobald sie der Arm des Gesetzes trifft. Der Preis, den sie selbst dafür zahlen müssen, ist allerdings viel zu hoch.
Der Journalist Ahmet Şık etwa saß 375 Tage in Untersuchungshaft, weil er ein Buch mit dem Titel »Die Armee des Imam« geschrieben hat (siehe Interview Seite 20). Er beschreibt darin die Unterwanderung des Polizeiapparates mit Anhängern des in den USA lebenden Islamistenführers Fethullah Gülen. Das Buch wurde nach Şıks Verhaftung von Polizisten direkt von seiner Festplatte gelöscht, eine Kopie kann aber im Internet frei heruntergeladen werden. Über eine Million Menschen haben es gelesen. Diese Menge an Lesern ist für ein mit Details gespicktes Sachbuch, das eigentlich wenig neue Erkenntnisse enthält, enorm hoch. Aber ist diese Neugier ein Indikator für ein wirklich interessiertes Publikum? Şık beschäftigt sich schon seit Jahren nicht mehr als Journalist mit der politischen Tagesordnung. Mittlerweile schreibt er nur noch investigative Bücher, weil er es gewagt hatte, sich gewerkschaftlich zu engagieren. Das Verfahren gegen ihn läuft auch nach seiner Freilassung am 12.März weiter. Angeklagt ist er wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Jede weitere Buchzeile birgt ein Risiko.

Am 10. April wurde nach Şık und Nedim Şener ein weiterer international bekannter türkischer Publizist aus der Haft entlassen, dessen Fall die internationale Medienlandschaft in den vergangenen Monaten ebenfalls beschäftigt hatte. Der Verleger und Menschenrechtsaktivist Ragıp Zarakolu wurde selbst so von seiner Freilassung überrascht, dass ein denkwürdiges Foto entstand. Darauf schiebt Zarakolu hastig einen Einkaufswagen, in dem unter blauen Müllsäcken verstaut seine persönlichen Sachen liegen. Der 65jährige erinnert dabei an einen Obdachlosen in New York City, der an der Central Station vor der Polizei flieht. Ein symbolträchtiges Bild in diesen Tagen.
Necati Abey rührt nachdenklich in seinem Tee­glas. Wir sitzen in einer Buchhandlung im hübschen Stadtteil Kadıköy auf der asiatischen Seite Istanbuls. Er ist der Vorsitzende der Plattform für Inhaftierte Journalisten. »Wir haben die Plattform 2003 gegründet, weil sich niemand um die Vertreter der oppositionellen Presse kümmert«, erzählt er. Fast alle der 100 noch inhaftierten Journalisten arbeiten für prokurdische oder marxistisch-leninistische Medien. Ihre Vergehen unterscheiden sich nicht von denen der gerade entlassenen Prominenten. Sie haben geschrieben, Radiosendungen geleitet oder Fernsehnachrichten produziert. Lange Inhaftierungszeiten sind das größte Druckmittel der türkischen Justiz. Füsun Erdoğan, Chefredakteurin des »Freien Radios« (Özgür Radyo), sitzt seit fünf Jahren in Untersuchungshaft. Ihr wird Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Das Radio ist weiterhin auf Sendung. Der Besitzer der auf kurdisch publizierenden Zeitung Azadiye Welat (Freies Land), Vedat Kurşun, ist seit drei Jahren in Haft. Die Anklage fordert 166 Jahre. Seit 1992 wurden 30 Journalisten und 76 Beschäftigte der prokurdischen Zeitung Özgür Gündem im Dienst getötet. Ein niederschmetterndes Bild. Weltweit ist die Türkei dem internationalen Pen Club zufolge zwar nicht das gefährlichste Land für Journalisten, aber dasjenige, in dem man am schnellsten angeklagt werden kann. Insgesamt sitzen 8 000 politische Gefangene in türkischen Gefängnissen, darunter 6 000 Kurden, 100 Journalisten und 600 Studenten.
Baruter vervollständigt seine Zeichnung. Auf dem Bildschirm ist ein tollpatschig watschelnder Pinguin zu sehen, der Hilfsflügel aus Holz trägt. Der Zeichner erzählt, wie der Name der Zeitschrift entstand: »Der Pinguin ist ein dicker Vogel, der nicht fliegen kann. Dabei wünscht er sich das so sehr. Dieser rührende Widerspruch verkörpert gut die politische Situation in der Türkei. Wir möchten fliegen, aber momentan werden uns die Flügel gestutzt.«

Siehe auch Interview Seite 20