Ahmet Şık im Gespräch über Zensur und Unterdrückung der Meinungsfreiheit in der Türke

»Machtkampf der Elite«

In der Türkei unterdrückt die Regierung massiv die Meinungs- und Pressefreiheit. Wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen wurde auch der türkische Journalist Ahmet Şık inhaftiert (siehe Seite 12). Ihm wird Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Er hat das Buch »Die Armee des Imam« geschrieben, in dem es um die Unterwanderung des türkischen Polizeiapparats durch Anhänger des Islamisten Fethullah Gülen geht. Vergangene Woche wurde er aus der Haft entlassen. Die Jungle World sprach mit ihm über die Zensur und den Machtkampf innerhalb des türkischen Staats.

Sie haben nach Ihrer Entlassung aus dem ­Gefängnis am 12. März erklärt, Sie seien Opfer eines politischen Komplotts. Wer ist daran beteiligt?
Ich habe über die Unterwanderung des Polizeiapparates durch Anhänger des Islamisten-Führers Fethullah Gülen ein Buch geschrieben. Das ist gar kein so neues Thema. Es gibt andere Bücher darüber. Aber es geht in diesem Fall um die Be­züge, die ich herzustellen versuche. Mein Spezialgebiet ist die Organisation Ergenekon. Da geht es um eine Art Loge von Leuten im politischen Apparat und der Staatsbürokratie, die illegale Operationen durchführen lassen. Meine These in dem Buch ist, dass die Gülen-Sekte sich mittlerweile der gleichen Mittel bedient.
Was ist daran so gefährlich?
Ich möchte ein Beispiel geben: Im Prozess zum Mord an Hrant Dink wurden Beweismittel zurückgehalten. Alle sollten glauben, dass dort Ergenekon am Werk ist. Dieser Mord trägt auch die Handschrift von Ergenekon. Eine Gruppe von Ultranationalisten wird politisch aufgehetzt und tritt als Attentäter in Erscheinung. Aber die Polizisten, die hier am nächsten dran waren, wollen den Fall nicht richtig untersuchen. Da wurde schlampig ermittelt, um zu vertuschen, welchen Anteil die Gülen-Anhänger bei der Polizei an diesem Mord wirklich haben. Die Polizei war durch V-Leute über die Mordpläne informiert worden und hat einfach abgewartet. Nach dem Mord an Dink war die Öffentlichkeit bereit, alles zu glauben, was ihr hinsichtlich der Organisation Ergenekon aufgetischt wurde.
Ich glaube, dass es hinsichtlich des Verfahrens gegen die Organisation Ergenekon einige Leute gibt, die fürchterliche Straftaten verantworten müssen. Sie wollten und wollen die Türkei durch Attentate, Bombenanschläge und ähnliches destabilisieren. Und sie haben ihre Straf­taten immer politischen Gegnern in die Schuhe geschoben. Glauben Sie, dass die Gülen-Bewegung jetzt Ähnliches mit der Organisation Ergenekon macht?
Es gibt schon seit den fünfziger Jahren diese Strukturen des »tiefen Staates«. Ob sie sich nun Ergenekon nennen oder nicht. Ich glaube nur nicht, dass alle in diesem Prozess Angeklagten und Inhaftierten dazugehören. Bei uns werden seit Jahrzehnten Leute auf Positionen innerhalb der staatlichen Institutionen gesetzt, die terroristische Akte durchführen oder andere dazu benutzen. Das machen leider alle, die in Machtpositionen aufsteigen, auch die Islamisch-Konservativen, die gerade von Demokratisierung reden. Und ihre schmutzigen Agenten sind Teile der Gülen-Bewegung, davon bin ich mittlerweile fest überzeugt. Es werden alle möglichen Leute, vor allem Gegner der Islamisch-Konservativen, wegen absurder Vergehen auf der Grundlage von manipulierten Beweisen angeklagt.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Jeder Verdächtige, wie auch ich, muss jetzt seine Unschuld beweisen. Ich habe Gutachten von unabhängigen Gutachtern außerhalb der Türkei vorgelegt, die nachweisen, dass Dokumente auf meinem Rechner manipuliert wurden. Das Gericht akzeptiert die natürlich nicht. Es wird jetzt ein neues Gutachten von einer türkischen staat­lichen Stelle gemacht. Da die alle manipuliert werden, wird bei mir und bei anderen je nach politischer Lage entschieden werden, ob die Beweise falsch sind oder nicht.
»Tiefer Staat« ist für mich ein besserer Oberbegriff als Ergenekon. Das Perfideste ist, dass die eigentlichen Opfer der Verbrechen des »tiefen Staates« – Folteropfer, Angehörige von Verschwundenen und außergerichtlich Hingerichteten, Familienmitglieder von Attentatsopfern – nicht gehört werden. Es gibt so viele, die versucht haben, im Rahmen des Ergenekon-Prozesses als Nebenkläger aufzutreten. Das Gericht hat alle abgelehnt.
Also sind diese Verfahren eine Farce?
Der »tiefe Staat« ändert gerade seine Gestalt, aber seine Strukturen werden beibehalten. Einige derer, die jetzt in Untersuchungshaft sitzen, sind wirklich Straftäter. Andere sind politische Gegner, die jetzt auf immer und ewig von den Nachrückern stigmatisiert werden, die die alte Garde nur ablösen, aber gar keine Veränderung der Strukturen wollen. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben. Ich beschäftige mich seit Jahren mit Menschenrechtsverletzungen und auch mit dem »tiefen Staat«. Was ich bei dem Verfahren gesehen habe, waren aber nur Anklagepunkte, die die Gegner der AKP betrafen. Niemand interessiert sich für eine klare Benennung von Opfern und Tätern. Was hier passiert, ist ein Machtkampf einer Elite, die die alte ersetzt, ohne an einer Demokratisierung interessiert zu sein.
Wie ist die Situation in den Medien?
Ich bin vor Jahren entlassen worden, weil ich mich gewerkschaftlich engagiert habe. Das ist bei uns normal, ich kann also gar nicht von politischen Gründen im ideologischen Sinne sprechen. Ich bin da nur Opfer eines radikalen Kapitalismus. Aber wir haben de facto keine freien Medien mehr in der Türkei. Alle haben Angst vor Anklagen und ducken sich weg. Wir haben Kolumnisten in der islamisch-konservativen Presse, die ganz offen schreiben: »Ahmet, Mehmet, Ayşe und Nuray, passt auf, sonst lassen wir Euch wegen Ergenekon-Unterstützung festnehmen.«
Wie sieht die politische Perspektive aus?
Ich bin momentan sehr pessimistisch. Die Fraktionen, von denen wir sprechen, haben die gleiche Mentalität. Durch einen Missbrauch der Exekutive und Judikative wird die eigene politische Weltsicht durchgesetzt.
Derzeit sitzen Tausende Oppositionelle im Gefängnis, allein 6 000 Kurden aus dem Umfeld der KCK, der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans. Die Kurden sollen nicht mit der Waffe kämpfen, aber Politik dürfen sie auch nicht machen. Und nicht nur Hunderte Journalisten sind betroffen, sondern auch 600 Studenten. Studenten gelten bei uns als ultralinks, wenn sie sich für die Abschaffung von Studiengebühren einsetzen. Viele von denen haben einfach nur ihr Demons­trations­recht in Anspruch genommen. Auch Dorfbewohner werden als Terroristen angeklagt, weil sie in ihrer Umgebung kein Wasserkraftwerk haben wollten. Fast allen wird vorgeworfen, Mitglied, Unterstützer oder sogar Führer terroristischer Vereinigungen zu sein. Nach dem Anti-Terror-Gesetz kann die Justiz die Leute dadurch ewig in Untersuchungshaft halten.
Was müsste sich grundsätzlich verändern?
Das Anti-Terror-Gesetz müsste komplett abgeschafft werden, die Sondergerichte auch. Gerade erst wurden die Staatssicherheitsgerichte abgeschafft, aber im Namen der Demokratisierung und Säuberung der Gesellschaft von Ergenekon haben wir neue Sondergerichte. Die einzige demokratische Instanz, die wir momentan besitzen, ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Die Türkei ist dort das Land mit den meisten Beschwerden und Verurteilungen. In den siebziger bis neunziger Jahren wurde bei uns die Sicherheit von Leib und Leben bedroht. Folter, Exekutionen, provozierte Terroranschläge waren an der Tagesordnung. Heute wandert die Opposition für Jahre ins Gefängnis und wird mit Haft- und Geldstrafen bedroht. Das ist vielleicht eine qualitative Verbesserung, aber keine grundlegende.
Wie sehen Sie Ihre Freilassung?
Ich bin aus politischen Gründen festgenommen und aus den gleichen Gründen freigelassen worden. Entscheidend war da der Druck aus dem Ausland. Ich bin natürlich froh, nicht mehr im Knast zu sein. Aber politisch ist den Richtern ­eines geglückt: Ich habe keine Hoffnung mehr.