Die Debatte über das Rederecht im Bundestag

Demokratie simulieren

Die Aufregung über die geplante Einschränkung des Rederechts im Bundestag war groß. Doch abweichende Meinungen werden im Parlament ohnehin fast nie geäußert.

Puh! In letzter Sekunde konnte der Untergang der Demokratie abgewendet und ein Staatsstreich verhindert werden. Diesen Eindruck erweckte jedenfalls die kurze, aber lautstarke Aufregung über den sogenannten Maulkorb, der den Abgeordneten des Bundestags angeblich verpasst werden sollte.
Was war geschehen? Am 14. April hatte die Süddeutsche Zeitung gemeldet, Union, SPD und FDP planten in Kürze eine Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages: Der Parlamentspräsident solle künftig nur mehr Rednern das Wort erteilen, die von ihrer Fraktion dafür vorgesehen seien. Andere Abgeordnete sollten dann nur noch ausnahmsweise und nur noch drei statt wie bisher fünf Minuten lang reden dürfen.
Wer sich gelegentlich den Livestream des Bundestags ansieht, weiß, dass das Vorhaben am parlamentarischen Geschehen wenig geändert hätte: Schon bisher waren eingeschlafene Füße prickelnder als die vermeintlichen Parlamentsdebatten, die nur deshalb so heißen, weil der Begriff »Demokratiesimulation« zu ehrlich wäre. Ab und zu darf Christian Ströbele sagen, dass er die Zustimmung seiner Partei zu Bundeswehreinsätzen nicht so gut findet, im vergangenen Jahr wurden zwei Abgeordnete von FDP und CDU ans Rednerpult gelassen, die sich gegen den »Euro-Rettungsschirm« aussprachen. Auf den Ausgang der jeweiligen Abstimmungen haben solche Einsprüche dank des Fraktionszwangs den gleichen Effekt wie im Brettspiel »Junta« die Ereigniskarte »Studenten verteilen Flugblätter«: gar keinen.
Dennoch sorgte die Meldung der Süddeutschen Zeitung eine halbe Woche lang für einen Wirbel im Politikbetrieb, als sei die freiheitlich-demokratische Grundordnung bedroht. Von einer »Entmündigung des Parlaments« war die Rede, Abgeordnete kündigten den Gang vor das Verfassungsgericht an. Nach einigen Tagen der Aufregung hieß es dann, die Gesetzesvorlage solle noch einmal überarbeitet werden, am Ende lehnte die FDP das Vorhaben doch ab. Die liberale Partei bewegt sich in jüngsten Umfragen wieder auf die Fünfprozenthürde zu; sich als Retterin der Demokratie zu präsentieren, kann vor den kommenden Landtagswahlen nicht schaden.
Dabei hat der ganze Lärm um nichts kaum etwas anderes deutlich gemacht als die Tatsache, dass Parlamentarismus und Demokratie so viel miteinander zu tun haben wie das Gucken einer TV-Kochshow und der Genuss eines mehrgängigen Menüs in einem Sternerestaurant. Die Medien strapazierten kaum einen Begriff so sehr wie den des »Abweichlers«, meist wurde er ohne Anführungszeichen verwendet. Dabei ist der Anteil an »Abweichlern« in den Fraktionen gering, denn wer für mangelnde Parteidisziplin bekannt ist, hat nicht die besten Chancen auf einen guten Listenplatz. Und die wichtigen politischen Entscheidungen werden nicht von den Rednern im Parlament getroffen, sondern von den Kapitalinteressen bestimmt. Wenn also in der nächsten Scheindebatte über die Freiheit des Parlaments wieder eine kritische Öffentlichkeit ­simuliert wird, kann es helfen, sich eine alte anarchistische Weisheit ins Gedächtnis zu rufen: Wenn Wahlen etwas verändern würden, wären sie verboten.