Freiheit in der Popmusik

Die Chöre der Gefangenen

In der Popmusik ist der Ruf nach Freiheit immer dann attraktiv, wenn man diese nicht hat. Aus dem unbedingten Willen, rauszukommen aus diesem oder jenem Gefängnis, sind die besten Popsongs entstanden. Wenn man die Freiheit erstmal hat, stellt sich immer die Frage: Auf wessen Kosten hat man sie?

Pathetisch gesagt: Die Geschichte der Freiheit in der populären Musik ist die Geschichte von Befreiung und Anpassung. Pathetischer gesagt: Die Geschichte der Freiheit in der populären Musik ist die Geschichte von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung. Und: Die Geschichte der Freiheit in der populären Musik kann nicht diskutiert werden ohne die Frage, auf wessen Kosten die jeweilige Freiheit geht.
Als Ornette Coleman 1961 das Album »Free Jazz« herausbringt, da ist das zweierlei zugleich. Einerseits die Aufforderung, den Jazz aus Konventionen und Sackgassen zu befreien: Free Jazz! Andererseits die Geburt eines neuen Genres: Free Jazz. Genaugenommen heißt das Album »Free Jazz: A Collective Improvisation«, ist also bereits mehr Zustandsbeschreibung als Aufruf. Dennoch wird »Free Jazz« von vielen Künstlern als Akt der und Aufforderung zur Befreiung wahrgenommen, die Befreiung des Jazz bringt ein neues Genre hervor, den Free Jazz. Es folgt eine rauschhafte Phase der künstlerischen Freiheit, bis sich, wie nach jeder Revolution, Hüter der Ordnung mit Bewahrern des Reinheitsgebots zusammentun, um das neue Territorium einzuhegen und die neuen Freiheiten in Regeln und Gesetze zu gießen. Dieser Prozess geht einher mit einer (Selbst-) Marginalisierung des neuen Stils, die kurzfristig berauschten Massen wenden sich ernüchtert ab, um die Ecke warten Beat, Rock und Soul. Free Jazz richtet sich ein in der Nische, und wenn er nicht gestorben ist …

Als Bob Dylan 1965 »Like a Rolling Stone« aufnimmt, liegt die maximale Länge für eine radio­taugliche Single bei dreieinhalb Minuten. »Like a Rolling Stone« dauert fast doppelt so lang, ein stream of consciousness, destilliert aus einem »long piece of vomit, 20 pages long«, so Dylan. 20 Seiten Kotze. Die Plattenfirma veröffentlicht das Lied zunächst als Single in zwei Teilen, je drei Minuten auf der A- und B-Seite. Nach ersten Testeinsätzen fordern Radio-DJs den kompletten Song auf einer Single-Seite. »Like a Rolling Stone« wird zum bis dahin größten Hit für Bob Dylan und befreit die Popmusik aus dem Dreieinhalb-Minuten-Korsett. Drei Jahre später zeigen die Beatles mit »Hey Jude«, dass man das Single-Format mit einem drei Minuten langen Fade-Out auch über die Sieben-Minuten-Grenze dehnen kann. Zu diesem Zeitpunkt, 1968, gehören lange Songs in der Rockmusik längst zum guten Ton. Die Langspielplatte hat die Single als Leitmedium verdrängt, künstlerische Freiheit braucht ihre Zeit. Mit den Haaren der Sänger werden auch die Lieder länger.
Selbst im deutschen Radio laufen regelmäßig 16, 18, 20 Minuten lange Stücke, gerne in Live-Versionen: »Get Ready« von Rare Earth, »In-a-gadda-da-vida« von Iron Butterfly, »Dark Star« von Grateful Dead. Der Befreiung aus dem Drei-Minuten-Gefängnis folgt der Missbrauch der neuen Freiheit. Plötzlich muss jeder Gitarrist, der was auf sich hält, endlose Soli spielen, selbst Bassisten sind von diesem Fluch nicht ausgenommen. Man nennt das progressiv. Jahre später folgt die Befreiung vom Prog-Terror, als junge Menschen mit kurzgeschnittenen Haaren Zwei-Minuten-Songs raushauen, die »White Riot« heißen oder »Teenage Kicks«. Man nennt das Punk.
Generell ist Freiheit im Pop attraktiver, wenn man sie nicht hat. Die Sehnsucht nach Freiheit, der Ruf nach Befreiung, der unbedingte Wille, rauszukommen aus diesem oder jenem Gefängnis, daraus sind die besten Popsongs entstanden, Free Jazz inklusive. Wenn einer seine Freiheit feiert, dann kann das für eine Weile ganz schön sein, es kann aber auch schnell kippen, wenn diese Freiheit gefeiert wird und die entscheidende Frage offen bleibt: Auf wessen Kosten feierst du deine Freiheit? Wie viele Probleme der männlich dominierten Rockmusik wird auch dieses exemplarisch von den Rolling Stones verkörpert. »I’m free to do what I want any old time«, singt Mick Jagger 1965, und weiter: »So love me, hold me, love me … « Der Song steht mit einem Bein in der afroamerikanischen Tradition des Rhythm & Blues, mit dem anderen im aufkommenden Hippierock mit seinem Primat der Freiheit – und der freien Liebe. »Ich bin frei zu tun, was ich will, zu jeder Zeit«, diese Art Selbstermächtigung wird im Blues tausendfach variiert, und wenn diese Zeilen, was die Regel ist, von Männern gesungen werden, dann sind sie häufig flankiert von der Behauptung: »I’m a man«. Nun bedeutet man im Amerikanischen ja nicht nur »Mann«, es heißt auch Mensch.
Das beharrlich wiederholte »I’m a man« in einschlägigen Songs, die berühmtesten und meistgecoverten stammen von Muddy Waters und Bo Diddley, bedeutet also zweierlei: »Ich bin ein Mensch« und »Ich bin ein Mann«, und es lässt sich nicht trennen von der Geschichte der Sklaverei. »Damn right I am somebody« – Betonung auf »am« ist einer der zentralen Slogans der Bürgerrechtsbewegung, der in vielen Soul-, Funk- und R&B-Songs auftaucht: Verdammt nochmal, ich bin doch jemand, kein Nichts, kein Sklave, kein Nigger, kein »Invisible Man«, wie der Protagonist von Ralph Ellisons Epochenroman.

Dieser Impuls der Selbstbehauptung und der Befreiung von der Versklavung geht verloren, wenn ein weißer Student der Wirtschaftswissenschaften seine Freiheit im Swinging London der mittleren Sechziger anpreist. Dafür kommt ein anderer Aspekt hinzu, wenn Mick Jagger singt: »I’m free to choose what I please any old time«. Die Freiheit, auszusuchen, was einem gefällt, und das jederzeit, das ist die Freiheit des ökonomisch wie sexuell privilegierten Rockstars, der Zugriff auf Sexualpartnerinnen seiner Wahl hat, any old time. Die Freiheit des gratis zum Zug kommenden Freiers, der von der jederzeitigen wie allseitigen Verfügbarkeit der auserwählten Frauen ausgeht. Man nannte das freie Liebe. Ins BRD-Hippie-Deutsche übersetzt: »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.« Die Parole war ein 68er-Hit, die Konter-Coverversion ist gefloppt. Oder hat irgendwer irgendwo gehört, dass jemand geschrieen hätte »Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment«? Die trotzig-selbstermächtigende Feier der eigenen Freiheit hat also schon ihre Tücken, als es den Ausdruck »political correctness« noch gar nicht gibt und niemand sich heroisch gegen die Zumutungen der Korrektheit zur Wehr setzen muss, indem er zum Beispiel das Freiheitsrecht beansprucht, sich gegen das Holocaust-Diktat zu wehren. Oder war es ein Freibeuterrecht?
Freiheit und Backlash sind halt mitunter zwei Seiten einer Single. Wer wüsste das besser als Nina Simone? In ihrem »Backlash Blues« fragt sie einen Mr. Backlash nach den zweifelhaften Freiheiten der offiziell von der Sklaverei befreiten Afroamerikaner. »You give me second class houses, and second class schools, do you think all colored folks are just second class fools?« Auf der B-Seite dieser Single – okay, das ist ein Wunschtraum, die beiden Songs waren nie auf einer Single – singt Nina Simone »I wish I knew how it would feel to be free«. Es spielt wie immer keine Rolle, wer den Song geschrieben hat (Billy Taylor), Nina Simone ist die Auteur-Interpretin par excellence und verwendet den doppelten Konjunktiv als politische Waffe. Es ist 1967, die Schwarzen haben die Sklaverei überlebt, im Bus dürfen sie vorne sitzen, wählen dürfen sie auch. Und dann kommt diese toughe schwarze Frau daher und suggeriert, dass sie in Unfreiheit lebt. Es gibt plumpere Möglichkeiten zu behaupten, dass Freiheit ohne Gleichheit nicht zu haben ist.