Eine Studie zur Gewalt gegen behinderte Frauen

Unterlassene Hilfeleistung

Dass sie häufig Opfer von Gewalt und sexualisierter Gewalt werden, haben behinderte Frauen schon vor Jahrzehnten öffentlich gemacht – doch interessiert hat das nur wenige. Eine aktuelle Studie der Universität Bielefeld offenbart erst jetzt das ganze Ausmaß der Gewalt.

»Geschlecht behindert – besonderes Merkmal Frau«, so nannte 1985 eine Gruppe von Autorinnen mit Behinderungen ihr Buch, eines der ersten über die Lebenssituation behinderter Frauen. Der Titel bringt es auf den Punkt: Als behindert zu gelten, überschattet alles andere in der Wahrnehmung der nichtbehinderten Welt. Behinderung schlägt Gender – das wissen nicht nur behinderte Frauen, sondern auch behinderte Männer, die ebenso entsexualisiert und als Neutren wahrgenommen werden. Dennoch werden behinderte Frauen oft stärker benachteiligt. Vielen von ihnen schlägt ein deutlicherer Sexismus entgegen als Frauen ohne Behinderung oder Männern mit Behinderung. Das von Carola Ewinkel und Gisela Hermes herausgegebene Buch versammelte erstmals die Themen der sich damals gründenden Bewegung behinderter Frauen: Gesellschaftliche Normen von Schönheit und Gebärfähigkeit, an denen behinderte Frauen in den Augen der nichtbehinderten Welt scheitern, geringe Einkommen, Arbeitslosigkeit, schlechtere Bildungschancen. Vieles werde behinderten Frauen nicht zugetraut, vor allem nicht eigene Kinder – würden sie dann doch schwanger, seien sie in den Augen der Gesellschaft »verantwortungslos«. Die traditionelle Geschlechterrolle, an der nichtbehinderte Frauen gemessen würden, werde bei den behinderten umgekehrt: Sie sollen kinderlos bleiben und für sich selbst sorgen können, eine Ehe sei für sie in der Regel nicht vorgesehen. Das könne behinderten Frauen zwar auch Freiheiten ermöglichen, diese blieben jedoch ambivalent: Sie blieben auf die Rolle als asexuelles »Neutrum« reduziert. Sie hätten seltener Liebesbeziehungen und lebten oft allein und unterprivilegiert. Gerade weil ihnen eine andere Geschlechterrolle als nichtbehinderten Frauen zugeschrieben wird, fällt der Sexismus, den behinderte Frauen erleben, kaum jemandem auf: zum Beispiel, dass sie weit öfter Opfer von alltäglicher Diskriminierung, Gewalt und sexualisierter Gewalt werden. Organisationen behinderter Frauen wiesen darauf schon vor Jahrzehnten hin, sie forderten verlässlichere Zahlen und Gegenmaßnahmen. Doch Studien gab es nur aus anderen europäischen Staaten.

Erst 2009 hat das Bundesfamilienministerium schließlich auf Drängen behinderter Frauen eine Studie in Auftrag gegeben. In der vorigen Woche wurde sie unter dem Titel »Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland« veröffentlicht und im Bielefelder Rathaus vorgestellt. Forscherinnen um das Interdisziplinäre Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Bielefeld haben rund 1 500 behinderte Frauen befragt. Ihr Fazit: Das Ausmaß der Diskriminierung und Gewalt an behinderten Frauen ist weit höher als bisher angenommen. Die Interviewpartnerinnen im Alter von 16 bis 65 Jahren hatten unterschiedliche Behinderungen – körperliche, »geistige« und psychische. Auch blinde und gehörlose Frauen wurden befragt. Viele haben ihre Behinderung erst im Laufe ihres Lebens bekommen. Knapp ein Drittel lebt in Einrichtungen für behinderte Menschen, davon rund 300 Frauen mit Lernschwierigkeiten oder »geistigen Behinderungen«. Die gehörlosen Frauen und die Frauen mit Lernschwierigkeiten wurden nicht im »Standarddeutsch« interviewt, sondern in der Gebärdensprache und in der vereinfachten, sogenannten Leichten Sprache – ein Novum in der Sozialforschung. Neu war auch, dass die Studie breit angelegt war: Die Wissenschaftlerinnen haben ungewöhnlich viele Frauen befragt und diese per Zufall ausgewählt. Das erst macht einen Großteil der Studie repräsentativ – dem Bundesfamilienministerium zufolge für dieses Thema weltweit zum ersten Mal.
Ein nicht ganz überraschendes Ergebnis ist, dass mehr als die Hälfte der befragten Frauen wenig Geld hat und viele von ihnen nicht arbeiten – weil sie keine Stelle bekommen haben oder in Rente sind. Ein Leben mit Behinderung ist mit höheren Kosten verbunden, doch gerade die können die meisten befragten Frauen nicht aufbringen. Die gehörlosen Frauen haben zwar am häufigsten Jobs, aber auch sie haben Existenzängste, wie die meisten der befragten Frauen. Rücksichtsloses Verhalten von Behördenmitarbeitern, Ärzten und Pflegediensten und Ausgrenzung durch eine nicht barrierefreie Umwelt kennen die meisten von ihnen. Besonders erschreckt hat die Forscherinnen die Häufigkeit, mit der die Interviewpartnerinnen von Diskriminierung, Gewalt und struktureller Gewalt erzählten. Fast alle Frauen fühlen sich zum Beispiel regelmäßig nicht ernst genommen, viele berichteten von Belästigungen und Bevormundungen: Leute starren, fassen sie unerlaubt an oder duzen sie, sprechen sie nur mit dem Vornamen an oder reden gleich ganz über ihren Kopf hinweg nur mit nichtbehinderten Begleitpersonen. Grenzüberschreitungen gehören für viele zum Alltag, vor allem wenn sie von anderen abhängig sind, zum Beispiel bei der Körperpflege.

Alle in der Studie befragten Frauen waren verschiedenen Formen von Gewalt häufiger ausgesetzt als der Durchschnitt der nichtbehinderten Frauen. Etwas mehr als die Hälfte der behinderten Frauen hat in der Kindheit psychische Gewalt durch die Eltern erlebt. Zum Vergleich: Rund 36 Prozent waren es bei einer Studie des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2004, bei der nichtbehinderte Frauen über ihre Gewalterfahrungen befragt wurden. Etwa zwei- bis dreimal häufiger als die Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt von 2004 machten die behinderten Frauen in der Kindheit auch Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. Allen voran die gehörlosen Frauen, jeder zweiten ist das in ihrer Jugend passiert, besonders in Internaten für Gehörlose. Zwischen Gewalt und Behinderung bestehe ein Wechselverhältnis, sagen die Wissenschaftlerinnen. Behinderte Frauen haben ein höheres Risiko, Gewalt zu erleben, und gleichzeitig tragen Gewalterfahrungen vor allem in der Kindheit zum Entstehen von Behinderungen bei – besonders zu psychischen Behinderungen.
Die frühen Gewalterfahrungen setzen sich später fort. Fast doppelt so viele behinderte Frauen wie Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt haben als Erwachsene körperliche Gewalt erfahren. Sexualisierte Gewalt erlebten sie rund zwei- bis dreimal häufiger als nichtbehinderte Frauen. Die gehörlosen und psychisch kranken erwachsenen Frauen waren von körperlicher und sexualisierter Gewalt mit Abstand am stärksten betroffen. Psychische Verletzungen wie Beleidigungen, Demütigungen und Drohungen haben rund 70 bis 90 Prozent der befragten Frauen erlebt. Die Täter – und vereinzelt Täterinnen – bewegen sich, so die Wissenschaftlerinnen, meistens im »sozialen Nahraum« der Frauen – Bekannte, Freunde, Familie, frühere und aktuelle Partner. Zwar komme die Gewalt auch an öffentlichen Orten häufig vor, doch noch öfter in Paarbeziehungen, vor allem wenn die Frau auf die Hilfe ihres Partners angewiesen ist. Oft fehlten andere enge und vertraute Beziehungen, und ein »von Kindheit an eingeimpftes Minderwertigkeitsgefühl« mache sie anfällig für die Dominanz des Partners: »Keine Ansprüche stellen zu dürfen, sich mit dem zufrieden geben zu müssen, was man bekommt.«

Ein Leben in Behinderteneinrichtungen scheint diese Risiken zu verschärfen. Die Wissenschaftlerinnen sprechen von struktureller Gewalt in Heimen, von einem Mangel an Intimsphäre und von Reglementierungen des Alltags. Ein Fünftel der Frauen in Einrichtungen hat kein eigenes Zimmer, viele leben in Wohngruppen mit fünf und mehr Bewohnern, die sie sich nicht selbst aussuchen können. Zwei Fünftel können in ihrer Einrichtung ihre Toiletten und Waschräume nicht abschließen. Viele sehen sich regelmäßig durch Lärm und Beschimpfungen ihrer Mitbewohner belästigt, von manchen Betreuern fühlen sie sich bevormundet. Kinder haben Frauen in Einrichtungen nur selten und in einer Paarbeziehung leben nur wenige – die mangelnden Rückzugsmöglichkeiten scheinen dies zu verhindern. Abhängigkeit ist auch hier ein großes Thema: Pflegebedürftige Frauen können sich in Einrichtungen oft nicht aussuchen, ob sie von einer Frau oder einem Mann gewaschen und angezogen werden. Gibt es hier sexuelle Übergriffe, könnten die Frauen oft nicht unterscheiden, ob sie zur Pflege gehören oder nicht – zu sehr seien viele daran gewöhnt, dass fremdbestimmt etwas mit ihnen gemacht werde, so die Studie. Vom »hierarchisch höherstehenden« Heimpersonal sind sie abhängig, und das hindert sie oft am Protest. Vielen Frauen mit Lernschwierigkeiten würde ohnehin oft nicht geglaubt. Beschwerdestellen und eine Kontrolle des Personals gebe es in Einrichtungen kaum. »Die Interviewbeiträge machen deren Charakter als in sich relativ geschlossene Systeme und das damit verknüpfte Risiko unentdeckt bleibender Übergriffe sehr deutlich«, schreiben die Autorinnen der Studie. Die Studie empfiehlt unter anderem Gewaltprävention in Einrichtungen. Die Frauen sollen gestärkt werden, zum Beispiel durch Selbstbehauptungskurse, schließlich seien sie nicht nur Opfer. »Nicht alle Frauen mit Behinderung leben in Einrichtungen und es stimmt auch nicht, dass sie sich nicht wehren können«, schreibt auch der Verein Weibernetz in einem Kommentar zu den Presseberichten über die Studie. Die bundesweite Organisation behinderter Frauen fordert Sensibilisierung und Schulung von Ärztinnen und Psychotherapeutinnen und, dass Frauen in Einrichtungen ihre Rechte selbst vertreten können sollen. Im Projekt »Frauenbeauftragte in Einrichtungen« hat Weibernetz 14 Frauenbeauftragte mit Lernschwierigkeiten ausgebildet. Sie sind Ansprechpartnerinnen für Kolleginnen und Mitbewohnerinnen in Werkstätten und Wohnheimen und beraten auf Augenhöhe. Das vom Bundesfamilienministerium geförderte Projekt stößt auf viel Interesse bei Einrichtungen und Behindertenverbänden, dennoch ist die weitere Finanzierung ungeklärt.
»Zugang für alle« heißt ein weiteres Projekt, das Beratungsstellen und Frauenhäuser zugänglicher und barrierefreier machen soll. Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, BFF e.V., hat einen Leitfaden für die Beratung entwickelt und versucht, die Kommunikation zwischen Beratungsstellen und Einrichtungen zu verbessern. Denn einen Grund für das späte Erscheinen der Studie sieht Martina Puschke von Weibernetz auch in der mangelnden Zugänglichkeit von Beratungsstellen und Frauenhäusern: »Die behinderten Frauen waren einfach nicht im Fokus des Hilfesystems – die kamen ja gar nicht erst dahin. Entweder weil die Barrieren zu hoch waren, weil sie nichts von den Beratungsstellen wussten oder weil sie nicht aus ihren Einrichtungen rauskamen.«