Samir Amghar im Gespräch über salafistische Bewegungen in Europa

»Die Salafisten wollen in das Goldene Zeitalter zurück«

In Deutschland verteilten Salafisten den Koran in den Straßen, in Frankreich erschoss Mohammed Merah, von dem die Ermittler glauben, er habe sich im Gefängnis dem Salafismus zugewandt, islamische Soldaten und jüdische Kinder. Welche Formen des Salafismus lassen sich unterscheiden, wie hat er sich in Europa entwickelt? Die Jungle World sprach mit Samir Amghar, der sich als Soziologe auf den Salafismus spezialisiert hat. Im vergangenen Jahr erschien in Frankreich sein Buch »Le salafisme d’aujourd’hui. Mouvements sectaires en Occident« (Der Salafismus heute. Sektiererische Bewegungen im Westen).

Auf welchen Ideen beruht der Salafismus?
Es gibt bei den Salafisten zunächst die Idee, zu dem sogenannten Goldenen Zeitalter des Islam zurückzukehren. Dieses »Goldene Zeitalter« korrespondiert mit einer besonderen Ära der islamischen Zivilisation, es beginnt mit der koranischen Offenbarung durch Mohammed und endet drei Jahrhunderte später. Es ist ein goldenes Zeitalter, weil die islamischen Theologen meinen, dass es zu der Zeit gute Muslime gegeben habe, während zur gleichen Zeit das muslimische Imperium sehr bedeutend war und politisch, ökonomisch und militärisch das Mittelmeer dominierte. Die zentrale Idee ist es, in dieses »Goldene Zeitalter« zurückzukehren, denn gegenwärtig seien die Muslime unter westlicher Herrschaft, und zwar als Strafe dafür, dass sie schlechte Muslime geworden seien.
Welche Formen des Salafismus existieren derzeit?
Es ist notwendig, drei Formen des Salafismus zu unterscheiden. Es gibt zunächst die quietistischen Salafisten. Das Besondere an ihnen ist, dass sie sich im Wesentlichen auf religiöse Aktivitäten beschränken: das Predigen, die islamische Ausbildung, tarbiya islamiya, wie es auf Arabisch heißt, nicht die politische Aktion. Das Ziel dieser salafistischen Tendenz ist es, die Muslime an den Islam zu binden. Es ist eine apolitische Bewegung, die keine Gewalt einsetzt. Sie ist sehr kritisch gegenüber den Organisationen der Muslimbrüder eingestellt, und sie kritisiert sehr stark die Jihadisten, weil sie denkt, dass die Jihadisten den Islam zu gewalttätigen Zwecken benutzen.
Die zweite Form ist der politische Salafismus. Die politischen Salafisten ähneln sehr stark den Muslimbrüdern. Die dritte Form bezeichnet man als revolutionären Salafismus. Er hat die Besonderheit, dass er es als Notwendigkeit betrachtet, die islamische Identität und die islamische Gemeinschaft durch gewalttätige Aktionen zu verteidigen.
Welche Geschichte haben die salafistischen Bewegungen in Europa?
Die Salafisten haben sich von den neunziger Jahren an in Europa entwickelt. Das Auftauchen der Salafisten in Europa korrespondiert mit der Rückkehr eines Teils der Diplomierten muslimischer Herkunft, die aus Europa nach Saudi-Arabien und auf die arabische Halbinsel gingen, um dort den Koran und den Islam zu studieren. Nach dem Studium sind sie nach Europa zurückgegangen und haben dort begonnen, den salafistischen Islam zu predigen, den sie in Saudi-Arabien studiert hatten. Der bekannteste von ihnen in Deutschland ist Pierre Vogel, der zu den politischen Salafisten gehört. Er hat von 2004 bis 2006 in Saudi-Arabien studiert und ein Diplom gemacht, dann ist er nach Deutschland zurückgekehrt.
Wie positionieren sich die Salafisten in Europa zu den Organisationen der Muslimbrüder?
Die quietistischen Salafisten und die revolutionären Salafisten sind sehr kritisch gegenüber den Muslimbrüdern. Sie haben nie mit ihnen zusammengearbeitet, weil sie denken, die Muslimbrüder hätten sich mit den europäischen Behörden zu sehr eingelassen, seien zu fortschrittlich, und weil die Muslimbrüder den Islam zu politischen Zwecken benutzen. Aus diesen drei Gründen treten die quietistischen und die revolutionären Salafisten sehr scharf gegen die Muslimbrüder auf.
Die politischen Salafisten hingegen unterhalten sehr gute Beziehungen zu den Muslimbrüdern. Ein Beispiel dafür ist Tariq Ramadan. Er wird regelmäßig in Moscheen eingeladen, die von politischen Salafisten geführt werden. In Belgien beispielsweise wird er von politischen Salafisten umkreist.
Es ist überhaupt kein Problem für die Muslimbrüder und die politischen Salafisten, zusammenzuarbeiten, sofern sie gemeinsam ein großes Gewicht haben. Ihre Ursprünge sind beinahe identisch. Man muss bedenken, dass die politischen Salafisten – abgesehen davon, dass sie sich als Salafisten bezeichnen – sich in die ideologische Tradition der Muslimbrüder einschreiben. Eine Mischung, wenn man so will.
Sie haben konstatiert, dass in Frankreich eine für die Salafisten günstige Dynamik herrscht. Was bedeutet das?
Diese Dynamik findet sich in Frankreich, in Großbritannien, in den Niederlanden, in Belgien und in Deutschland. Zunächst gibt es seit einigen Jahren eine wachsende Anzahl von Muslimbrüdern, die den Salafismus für sich in Anspruch nehmen. Aus mehreren Gründen: Einerseits weil der Salafismus eine junge Bewegung ist, also eine, die auf der Höhe der Zeit ist. Zum Zweiten, weil er eine Bewegung ist, die auf der Gegenüberstellung von Gut und Böse basiert; für einen Muslim, der sich dem Islam zuwenden oder für jemanden, der konvertieren möchte, ist er leicht verständlich. Und ein dritter Grund, vermutlich der wichtigste, ist die immer größere Rolle, die salafistische Medien in der Welt von heute spielen. Unter den arabischen islamischen Satellitensendern befinden sich auch salafistische, im Internet gibt es viele salafistische Websites auf Englisch, Französisch, Deutsch, Türkisch, Urdu etc. Und wenn Sie in irgendeine islamische Buchhandlung in Europa gehen, werden Sie über Werke salafistischer Theologen stolpern, die in die jeweilige Landessprache übersetzt sind. Der Aufwand, Werke salafistischer Theologen in europäische Sprachen zu übertragen, ist beträchtlich.
Was macht die Anziehungskraft des Salafismus für Jugendliche in Europa aus, die beispielsweise aus den Banlieues stammen?
Es ist jedenfalls eine starke Anziehungskraft. Jugendliche, die sich dem Islam zuwenden oder konvertieren wollen, kommen öfter in Kontakt mit Salafisten als mit Muslimbrüdern. Warum? In den Augen dieser Jugendlichen handelt es sich beim Salafismus um ein Modell, das dem Islam am nächsten scheint. In ihren Augen handelt es sich um die reinste Form des Islam, denn sie stammt von der arabischen Halbinsel, die die heiligen Stätten des Islam und die renommierten islamischen Universitäten beherbergt. Will man sich schon einmal dem Islam zuwenden oder konvertieren, dann auch der orthodoxesten Form des Islam. Und der Salafismus erscheint ihnen als die orthodoxeste Form.
Ist die Anziehungskraft des Salafismus in Europa und im Nahen Osten oder im Maghreb die gleiche?
Es ist ein wenig unterschiedlich. In der arabischen Welt ist der Salafismus sehr alt. Es gibt dort eine Reislamisierung, die ihm sehr entgegenkommt. Der Islam ist ein System von Werten, die bei den Muslimen in der arabischen Welt gesellschaftlich immer präsenter sind. Gibt es eine sehr starke Tendenz zur Islamisierung und Re­islamisierung, betrifft das sehr viele Muslime, die zu praktizierenden werden. Und wenn sie sich dafür entscheiden, den salafistischen Islam zu praktizieren oder zu ihm zu konvertieren, dann tun sie das in einer Logik der Distinktion. Dann heißt es: Gut, ich will ein Muslim werden, und ich will mich von den anderen Muslimen unterscheiden.
Die politischen Salafisten in Tunesien und Ägypten werden stärker. Was bedeutet das für die Salafisten in Europa?
Alles hängt davon ab, von welchen politischen Salafisten man spricht. In Frankreich ist der politische Salafismus sehr schwach, weil es sehr wenig Rückbindung im Verhältnis zur arabischen Welt und zu den politischen Salafisten der arabischen Welt gibt. In Großbritannien oder Deutschland hingegen haben sich die politischen Salafisten vergleichweise gut eingerichtet, insofern sie es verstanden haben, sich als Vorbild zu profilieren.
Tunesien und Ägypten sind jedenfalls deutliche Beispiele dafür, dass Muslime, die sich als politische Salafisten verstehen, erfolgreich ein politisches Niveau erreicht haben.