Die Entwicklung der »Occupy«-Bewegung in den USA

Besetzen statt wählen

Die »Occupy«-Bewegung erregt in den USA immer weniger Aufmerksamkeit. Am 1. Mai gab es Versuche, sie außerhalb des Internet wiederzubeleben. Die meisten Aktivisten wollen sich politisch nicht vereinnahmen lassen.

Es ist gar nicht lange her, da beherrschte die »Occupy«-Bewegung in den USA die Schlagzeilen. Doch schon seit Monaten war kaum noch etwas über sie zu hören oder zu lesen. In manchen Städten wurden die früheren Zentren der Bewegung, die »besetzten« Parks, mit Betonwänden und hohen Zäunen abgeschirmt. »Dieser Park ist geschlossen«, steht auf Schildern vor dem Rathaus­park von Los Angeles, der im November vorigen Jahres ohne weitere Zwischenfälle von einer Hundertschaft der Polizei geräumt worden war. Das Gras, das dabei niedergetrampelt wurde, kann jetzt wieder wachsen. Das Leben geht weiter, um die Bewegung ist es still geworden.

»Occupy« lebt unterdessen nur im Internet weiter, ohne Ort, an dem sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Bewegung versammeln können. Was bleibt von »Occupy«, wenn es weder Zelte noch Banner, weder Sprechchöre noch Trommeln gibt? Nicht umsonst nannte sich die Bewegung »Occupy«. Es waren die im Fernsehen übertragenen Bilder Tausender demonstrierender Menschen auf den Straßen und besetzten Plätzen, die die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf sich zogen. Ohne das konkrete Zusammensein der Menschen droht jede Bewegung zu zerfallen. Auch der arabische Frühling fand nicht nur auf Facebook statt.
Wesentlich initiiert wurde »Occupy« im Herbst vergangenen Jahres von Kalle Lasn, einem ehemaligen Werbeleiter aus Estland, der im kanadischen Vancouver lebt und in dem Anti-Konsum-Magazin Adbusters zur Besetzung der Wall Street aufgerufen hatte. In einer Gesellschaft, in der die soziale Ungleichheit wächst, traf das den Zeitgeist. Zu viele Menschen fühlen sich von der kapitalistischen Gesellschaft ausgestoßen und unerwünscht, haben Schulden, sind arbeitslos oder werden aus ihren Häusern vertrieben. In den USA sind Bildung und medizinische Versorgung teilweise zu privatisierten Luxusgütern geworden, die sich nur noch die Bessergestellten leisten können. Der Rest nimmt Kredite auf und verschuldet sich. Die Probleme bleiben bestehen – und somit auch die Ziele von »Occupy«.

Walid Hakim ist ein ehemaliger Marinesoldat und Veteran des Golfkriegs von 1990–1991. Seit fast 30 Jahren lebt der Familienvater in Lexington im US-Bundesstaat South Carolina. »Occupy« hat sein Leben verändert, denn als er gegen die Zwangsräumung der örtlichen Besetzerinnen und Besetzer von »Occupy« klagte, wurde er von den Medien kurzzeitig zum »Kopf« der Bewegung erklärt. Nun engagiert er sich in der Politik und gehört damit zu einer kleinen Gruppe ehemaliger »Occupy«-Aktivistinnen und -Aktivisten, die sich plötzlich bieder kleiden und gewöhnlichen Wahlkampf betreiben. Sie wollen das System von innen verändern. Zu ihnen gehört auch Nate Kleinman, ein 29jähriger Aktivist von »Occupy Philadelphia«, der in den Medien als der »erste Occupy-Kandidat« gilt. Auf seiner Facebook-Seite erklärt Kleinman, dass er »die Demokratie verteidigen will«, deshalb will er sich zur Wahl aufstellen lassen und in den Kongress einziehen. »Unsere Bürgerrechte schwinden«, so Kleinman. »Die uneingeschränkte Macht der Konzerne bedroht unser gesamtes System.«
Doch bis zu den Wahlen im November ist es ein langer Weg. Die Kandidaten müssen noch viel lernen. Zwar kennen sie sich mit Facebook und Twitter besser aus als die meisten Politikerinnen und Politiker der alten Garde, dafür gibt es in anderen wichtigen Bereichen Defizite. In Fernsehinterviews wirkt Hakim wie ein aufgeschrecktes Reh, ungläubig starrt er in die Kameras und stottert. Aber auch dafür gibt es eine App: Die Organisation »The Candidate Project« unterhält eine Website, auf der sich aufstrebende Jungpolitikerinnen und -politiker »coachen« lassen können, sei es durch Online-Kurse oder durch Kontakte mit lokalen Aktivistinnen und Aktivisten und Freiwilligen. Die »Sieben Grundsätze einer Wahlkampagne« werden ebenso vermittelt wie die Formen des Spendensammelns und Tipps zur richtigen Ernährung bei Wahlkämpfen: Auf Kaffee, Pizza und Bier sollte man verzichten.
Zudem konnte sich Hakim die Unterstützung der American Federation of Labor (AFL-CIO) sichern, die mit über elf Millionen Mitgliedern die größte Gewerkschaft der USA ist. Ohne sie kommen die Kandidatinnen und Kandidaten in der Regel nicht weit, denn Gewerkschaften sind de facto die wichtigsten Unterstützer der progressiven Bewegungen in den USA. Aufgrund ihrer hohen Mitgliederzahlen können sie eine Kandidatin oder einen Kandidaten effektiv unterstützen oder deren Karriere schnell beenden. Schon von Anfang an gab es Überschneidungen zwischen »Occupy« und den Gewerkschaften, und es scheint, als sei die Zusammenarbeit noch lange nicht vorbei. »Wir werden unsere Mitglieder mobilisieren«, gab die Gewerkschaftsvorsitzende der AFL-CIO in South Carolina, Donna Dewitt, bekannt.

Am 1. Mai kam es in vielen Städten der USA zu einem erneuten Aufflammen der »Occupy«-Bewegung. Am Union Square, im Bryant Park und auf der Williamsburg Bridge in New York demonstrierten Tausende Menschen. Wie schon im Winter verlief auch dieses Mal die Grenze zwischen politischem Protest und Volksfest fließend. Und wie zuvor kam es auch diesmal wieder zu Konflikten mit der Polizei, mindestens sechs Demonstrierende wurden verhaftet. Dabei wird eines der wesentlichen Probleme der »Occupy«-Kandidaten deutlich: Die Basis der Bewegung lehnt jede Form von Elitenbildung ab, die Einmischung in die Politik sehen die Aktivisten als Verrat an. Sie bevorzugen es, nur Krach zu machen. Selbst die stärkere Kooperation mit linken Basisorganisationen wie MoveOn.org beäugt der harte Kern der »Oc­cupy«-Bewegung mit Misstrauen. Viele der »Oc­cupy«-Ortsverbände weigern sich, Kandidatinnen und Kandidaten für den Kongress zu unterstützen. Sie wollen mit der offiziellen Politik nichts zu tun haben, die Demokratische Partei vertritt nur teilweise ihre Ansichten.
Auch dem Präsidenten stehen sie kritisch gegenüber. Tatsächlich ist die Kluft zwischen der »Oc­cupy«-Bewegung und Barack Obama groß. Zwar bedient sich Obama im Wahlkampf nun gerne der Themen, die auch »Occupy« bewegen, doch muss er dabei vorsichtig sein: Die hart umkämpften nicht parteiebundenen Wähler in entscheidenden swing states mit wechselnden Mehrheiten, wie Ohio und Virginia, sind zum Großteil wertkonservative Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter sowie Handwerkerinnen und Handwerker, die mit »Occupy« wenig anfangen können.
Somit ist die »Occupy«-Bewegung für die Demokratische Partei eher eine Belastung als ein Fundus möglicher Neuwählerinnen und -wähler. Obama ringt darum, so viele Jungwählerinnen und -wähler wie 2008 anzusprechen, doch viele sind von der Politik enttäuscht. Die »Occupy«-Bewegung hat einerseits die junge Generation politisiert, andererseits grenzen sich ihre Anhängerinnen und Anhänger bewusst vom politischen Betrieb ab. Die etablierten Parteien wissen damit nicht so recht umzugehen.
So steht kurz nach den Maidemonstrationen die »Occupy«-Bewegung vor wichtigen Entscheidungen. Die nächsten Monate werden zeigen, ob und wie sich der Unmut der Demonstrantinnen und Demonstranten in eine politische Organisation überführen lässt. Widerstand dagegen kommt sowohl von außerhalb wie von innerhalb der Bewegung.