Die Führung der IG Metall vertritt nicht die Interessen der Gewerkschafter

Lohn rauf, Kopf auf

Die IG Metall versetzt die Unternehmer derzeit zwar mit großen Warnstreiks in Aufregung. Es gibt aber durchaus Anzeichen, dass sich die Gewerkschaftsführung mit einer Lohnerhöhung zufriedengeben könnte, die deutlich geringer ausfällt als gefordert.

Nicht lange ist es her, da war in den Medien vom Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske wieder einmal als »Krawallmacher« der Republik die Rede. Die Dienstleistungsgewerkschaft forderte im Frühjahr eine Lohnerhöhung von 6,5 Prozent. Nun ist die IG Metall am Zug: Sie fordert für die Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie ebenfalls 6,5 Prozent mehr Lohn und weitet seit dem 1. Mai ihre Warnstreiks aus. Wenn das Ultimatum der größten Gewerkschaft der Welt zu Pfingsten abläuft, könnte es zu unbefristeten Massenstreiks in Schlüsselbranchen der deutschen Wirtschaft kommen.

Latschen, lauschen, kauen. Zugegeben, die Gewerkschaftsdemonstrationen zum 1. Mai verliefen nicht anders als sonst. Doch angesichts der derzeitigen Tarifauseinandersetzung gaben sich die IG Metall und der DGB kämpferisch. Das vorliegende Angebot der Unternehmerseite von 2,6 Prozent sei eine reine Provokation, sagte der IG Metall-Vorsitzende Berthold Huber in Hamburg. Wer Verhandlungen blockiere, bekomme »die Antwort von den Beschäftigten im Betrieb geliefert«. Und diesen Worten folgten wirklich Taten. Am 2. Mai, an dem Gewerkschafter nach dem Arbeiterkampftag für gewöhnlich einfach an die Werkbank zurückkehren, zogen in diesem Jahr bundesweit mehr als 30 000 Arbeiterinnen und Arbeiter vor die Werktore. Wer das schon beeindruckend fand, konnte tags darauf umso mehr staunen: Mehr als 115 000 Beschäftigte gingen auf die Straße. Das macht sich nicht nur gut in der Streikstatistik. Es bereitet den Unternehmern offenbar Sorgen. Die Wirtschaftswoche befürchtete »die härteste Tarif­auseinandersetzung seit Jahren« und zitierte Jörg Crämer, den Chefvolkswirt der Commerzbank, mit den Worten: »Die Ära der Zurückhaltung ist definitiv vorbei.«
Es geht der IG Metall jedoch nicht nur um eine Lohnerhöhung. Daneben gehören die unbefristete Übernahme von Auszubildenden und die erweiterte Mitbestimmung beim Einsatz von Leiharbeitern zu den wichtigsten Forderungen. Dabei werden Gewerkschaftsvertreter nicht müde, die Gleichwertigkeit aller drei Aspekte zu betonen. Billige Kompromisse solle es nicht geben. Zumal die Branche, wie Jörg Hofmann, der Bezirksleiter der Gewerkschaft in Baden-Württemberg, feststellte, eine »hervorragende konjunkturelle Situation« aufweise.
Die IG Metall fordert nicht nur mehr, sie ist auch zu mehr bereit. So sagte Thomas Freels, Vertrauensmann der Gewerkschaft bei Ford in Köln, Ende April: »Wir haben überhaupt gar kein Problem damit, vier Wochen, fünf Wochen, sechs Wochen vor dem Werkstor zu stehen und für unsere Forderungen zu kämpfen.« Seit dem wilden Streik im August 1973 hat dieses Autowerk eine besondere Bedeutung. Während die Beschäftigten damals auf sich gestellt waren, können die Streikenden nun auf die Unterstützung der Gewerkschaft zählen. Der Umfang des Streikfonds ist zwar geheim, wird aber auf eine Milliarde Euro geschätzt. Zum Vergleich: In den vergangenen fünf Jahren soll die Gewerkschaft nicht mehr als fünf Millionen Euro für Streikgelder ausgegeben haben. Bereits im Februar versicherte der Kassenwart der IG Metall, Bertin Eichler: »Am Geld wird ein Arbeitskampf mit Sicherheit nicht scheitern.«

Scheitern könnte er aber am Kalkül der Gewerkschaftsleitung. Derzeit demonstriert die IG Metall eindrucksvoll, wie koordinierte Massenaktionen und eine wirksame Eskalationstaktik aussehen können. Aber schon an den Forderungen wird deutlich, dass alles unter Kontrolle des Vorstands ist. Zu Beginn des Jahres, als die Tarifrunde vorbereitet wurde, sprachen sich nicht nur die gewerkschaftlichen Vertrauensleute im Mannheimer Standort des Alstom-Konzerns für acht Prozent mehr Lohn, mindestens aber 250 Euro, und gegen das gewerkschaftliche Co-Management in der Leiharbeit aus. Ähnlich äußerte sich die »Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken«, die zudem betonte: »Die Tarifrunde 2012 muss vor dem Hintergrund der Systemkrise des Kapitalismus betrachtet werden.«
Und selbst offizielle Veröffentlichungen der Gewerkschaft hätten mehr erwarten lassen als die geforderten 6,5 Prozent. Wie bescheiden die Lohnforderungen von Gewerkschaften sind, lässt sich am »verteilungsneutralen Spielraum« ermessen, also der Summe aus Inflationsausgleich und Produktivitätszuwachs, die in Tarifverhandlungen eine große Rolle spielt. Nach Angaben der IG Metall lag der Produktivitätszuwachs im Branchendurchschnitt zuletzt bei 6,7 Prozent. Addiert man eine erwartete Inflationsrate von 2,5 Prozent hinzu, könnte die Forderung der Gewerkschaft durchaus bei neun Prozent liegen.
Der Jungle World sagte der IG Metall-Sprecher Jörg Köther jedoch, man orientiere sich am gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwachs. Der Grund hierfür sei eine »zusammenhängende Tarifpolitik« der DGB-Gewerkschaften, die alle Beschäftigten im Blick habe. Zudem hätten die Ansichten der Gewerkschaftsbasis, abhängig von der wirtschaftlichen Lage des eigenen Betriebs, teils weit auseinander gelegen.
Die Initiative der Gewerkschaftslinken moniert indes: »Über die Forderungen, Verhandlungstaktik oder gar etwaige Aktionen entscheidet letztlich die Bürokratie.« Ähnlich sieht es auch Ali Yaylaci, Betriebsrat bei Mercedes-Benz in Sindelfingen, der wegen seiner Aktivität in der oppositionellen Gewerkschaftergruppe »Alternative« aus der IG Metall ausgeschlossen wurde. Die Beschäftigten, sagt Yaylaci der Jungle World, seien kampfbereit, gleichzeitig aber auch »frustriert, weil sie ganz genau wissen, das ist ein abgekartetes Spiel«. Tom Adler von der »Alternative« bei Daimler in Untertürkheim unterstreicht, dass durchaus klar sei, dass die aktuelle Lohnforderung nicht ausreiche, »wenn wir die Umverteilung von unten nach oben umdrehen wollen«. Doch sobald die offizielle Forderung formuliert sei, stelle sich die Frage der Angemessenheit für die große Masse der Kollegen nicht mehr. Adler bleibt dennoch zuversichtlich. Sollten die Verhandlungen bis Ende Mai nicht zum Erfolg führen und sollte es zu unbefristeten Streiks kommen, wäre das »ein Szenario, das politisch hochinteressant wäre«, denn soziale Proteste erwiesen sich immer als Momente, in denen »die Köpfe aufgehen«.

Mit einer allzu nachgiebigen Haltung könnte sich die Gewerkschaft, die jüngst ein leichtes Mitgliederwachstum verzeichnete, selbst schaden. Es gibt noch keine Anzeichen dafür, dass die Unternehmerverbände in Kürze ein besseres Angebot vorlegen als das bisherige. Anfang April sagte Berthold Huber, der Verdi-Abschluss im Öffentlichen Dienst – 6,3 Prozent binnen 24 Monaten statt der geforderten 6,5 Prozent in zwölf Monaten – sei »auch nach den Maßstäben der IG Metall ordentlich bis ambitioniert«. Auch wenn der IG-Metall-Sprecher Köther dies lediglich als Lob für die Dienstleistungsgewerkschaft verstanden wissen will: Es deutet auf die Kompromissbereitschaft der Leitung der IG Metall hin. Bei Verdi ging es gut. Drei Viertel der Mitglieder stimmten Ende April für die Annahme des Verhandlungsergebnisses. Aber ein »Ende der Zurückhaltung« sieht anders aus.