Die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung

Speichern oder zahlen

Nach dem Ablauf der Frist für die gesetzliche Einführung der Vorratsdatenspeicherung will die EU-Kommission Deutschland verklagen. Die Debatte um die Speicherung von Kommunikationsdaten wird auf nationaler und europäischer Ebene zwar heftig geführt, eine inhaltliche Auseinandersetzung findet jedoch kaum statt.

Wird sie den europäischen Angriff auf die Bürgerrechte abwehren können? Oder droht der Verrat durch den Koalitionspartner oder gar die bittere Niederlage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg? Die »Jeanne d’Arc der Bürgerrechte« – so nannte jüngst Rainer Brüderle (FDP) seine Parteifreundin, die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger – wehrt sich tapfer gegen die »schwarzen Sheriffs« (Brüderle) aus den Reihen der Union und beharrt darauf, die europäische »Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung« in Deutschland nicht zu befolgen. Auch die Drohung der EU-Kommission, Deutschland deshalb vor dem EuGH zu verklagen, konnte sie bislang nicht umstimmen.

Angesichts dieser Standfestigkeit werden Erinnerungen wach an die Debatte um den »Großen Lauschangriff« in den neunziger Jahren: Auch damals war Leutheusser-Schnarrenberger Bundesjustizministerin, trat jedoch 1996 aus Protest gegen die geplante Einführung der akustischen Wohnraumüberwachung von ihrem Amt zurück, nachdem sich ihre Partei mehrheitlich dafür ausgesprochen hatte. Zurzeit sieht es anders aus: Leutheusser-Schnarrenberger habe die »volle Rückendeckung der Partei«, versicherte der Vorsitzende Philipp Rösler. Angesichts der miserablen Umfragewerte versucht die FDP, ihr bürgerrechtliches Profil zu schärfen, und hofft, dass nicht ganz so viele Wähler zur Piratenpartei abwandern. Ob aber deshalb auch die Vorratsdatenspeicherung verhindert wird, ist fraglich.
Gemäß den Vorgaben der EU aus dem Jahr 2005 müssen die EU-Staaten die Telekommunikationsanbieter per Gesetz verpflichten, personenbezogene Kommunikationsdaten – wie unter anderem den Namen, die genutzten Rufnummern, die IP-Adressen oder Daten zur geographischen Ortung eines Mobiltelefons – mindestens sechs Monate zu speichern. Die EU-Richtlinie wurde 2007 in Deutschland als Gesetz verabschiedet. 2010 erklärte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dieses jedoch für verfassungswidrig, weil die Datensicherheit nicht gewährleistet und die Nutzung der Daten nicht hinreichend eingeschränkt worden sei. Das Gericht stellte zugleich fest, dass eine Vorratsdatenspeicherung nicht per se unzulässig sei.
Seitdem streitet die Regierungskoalition um ein neues Gesetz. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) warnt davor, »sehenden Auges europäisches Recht zu verletzen«. Er fordert eine der Richtlinie entsprechende sechsmonatige Speicherfrist. Leutheusser-Schnarrenberger und die FDP plädieren für eine Überarbeitung der Richtlinie und die Einführung des »Quick Freeze«. Bei diesem Verfahren könnten Bestands- und Verkehrsdaten, die üblicherweise von den Unternehmen wieder gelöscht werden, auf eine Speicher­anordnung einer Strafverfolgungsbehörde hin für einen längeren Zeitraum »eingefroren«, also aufbewahrt werden, um später mit richterlichem Beschluss etwa in einem Strafverfahren auf sie zugreifen zu können. Die verdachtsunabhängige Vorratsdatenspeicherung soll nach dem Willen der FDP hingegen auf die IP-Adressen und hier auf sieben Tage beschränkt werden, dies sei insbesondere zur Bekämpfung von Kinderpornographie erforderlich.

Für den Künstler und Datenschützer Padeluun vom »AK Vorratsdatenspeicherung« ist der Vorschlag der FDP deshalb ebenso wenig akzeptabel. »Jede verdachtsunabhängige Datenspeicherung, auch wenn sie nur die IP-Adressen betrifft, ist ein Dammbruch, die Folgen wären unabsehbar«, sagt er im Gespräch mit der Jungle World. Außerdem hätten bislang weder die Unionsparteien noch die FDP erklärt, wie einem Datenmissbrauch vorgebeugt werden soll, wie es das BVerfG fordert. Padeluun nimmt an, dass dies angesichts der Masse an Daten ohnehin nicht möglich wäre: »Ich denke nicht, dass irgendein Gesetz die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts einhalten kann.«
An dem Streit um die Vorratsdatenspeicherung sind nicht nur die Koalitionsparteien und das BVerfG beteiligt. Die EU-Kommission hatte der Bundesregierung eine letzte Frist bis Ende April gesetzt, um die Richtlinie gesetzlich umzusetzen. Da dies nicht geschehen ist, will sie Deutschland nun vor dem EuGH verklagen. Eine Verurteilung könnte eine Geldbuße von etwa 30 Millionen Euro nach sich ziehen. Ein solches Vorgehen ist nicht ungewöhnlich, derzeit laufen mehr als 70 Verfahren gegen Deutschland. Zweifelsohne ist Deutschland verpflichtet, die Richtlinie zu befolgen. Auch wird der Vorschlag der FDP den Vorgaben nicht gerecht. Die Kommission kann eine derart eindeutige Missachtung einer Richtlinie nicht einfach geschehen lassen.
Andererseits haben auch zahlreiche andere europäische Regierungen datenschutzrechtliche Bedenken wegen der Vorratsdatenspeicherung in ihrer derzeitigen Form, nicht alle anderen EU-Staaten haben die Richtlinie zu einem nationalen Gesetz gemacht. Die Kommission hat daher zugleich angekündigt, bis zum Sommer einen Änderungsvorschlag zu unterbreiten. Dass dieser die Forderungen der FDP aufnimmt, ist jedoch nicht zu erwarten. Die EU-Kommissarin für Innenpolitik, Cecilia Malmström, hat das Quick-Freeze-Verfahren wiederholt als unzureichend für die Verbrechensbekämpfung abgelehnt. Mit einer neuen Richtlinie würde die EU allenfalls versuchen, die Kritiker zu besänftigen, etwa indem sie die Mindestspeicherfrist auf drei Monate senkt.
Weitere datenschutzrechtliche Vorgaben könnten sich aus einem anderen bevorstehenden Urteil des EuGH ergeben: Der irische High Court hat im Januar dem Gericht die Frage vorgelegt, ob die Richtlinie mit den europäischen Grundrechten vereinbar sei. Der EuGH hat sich bislang nur selten mit datenschutzrechtlichen Fragen auseinandergesetzt, anhand eines Urteils, gleich welchen Inhalts, ließe sich zugleich erkennen, ob das Gericht eine ähnliche Stellung wie das BVerfG in Deutschland einnehmen will, indem es Einschränkungen von Bürgerrechten regelmäßig korrigiert, oder ob es der Politik weiterhin große Befugnisse gewährt.

Nun streiten die beteiligten Parteien und Institutionen auf nationaler und europäischer Ebene heftig über juristische Fragen. Eine inhaltliche Debatte über den Sinn oder Unsinn der Vorratsdatenspeicherung findet aber kaum mehr statt. Zwar forderte Innenminister Friedrich zuletzt, »auch immer mal auf die Experten zu hören, die dringend anmahnen, dass eine Vorratsdatenspeicherung umgesetzt werden muss, um nicht für Terrorismus und organisierte Kriminalität Tür und Tor zu öffnen«. Tatsächlich kommen zahlreiche Experten jedoch zu ganz anderen Ergebnissen: Nach einer Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht von diesem Januar trägt die Vorratsdatenspeicherung kaum zur Verhinderung oder Aufklärung von Straftaten bei, es entstehe keine »Schutzlücke« ohne sie. Und selbst hinsichtlich der Verfolgung von Kinderpornographie, die häufig als Argument für die Speicherung herangezogen wird, stellte das Institut fest: »Die Entwicklung der Fallzahlen zeigt keinen erkennbaren Einfluss der Speicherung von Verkehrsdaten.«