Ein Plädoyer für die Psychoanalyse

Die dritte Kränkung

Wie der Widerwille gegen die Psychoanalyse das Denken zerstört.
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Manches kehrt einfach immer wieder. Zu den Konstanten der Sachbuchproduktion gehört seit Jahrzehnten die Abneigung gegen Sigmund Freud. Diese Abneigung, die ihren Ursprung bereits zu Freuds Lebzeiten hat, entzündete sich seither immer aufs Neue nicht nur an seinen wissenschaftlichen Entdeckungen wie den verschiedenen Erscheinungsformen der infantilen Sexualität (und der damit notwendig zusammenhängenden Annahme eines Unbewussten), sondern in außergewöhnlichem Maß auch an der Person des Entdeckers selbst. Nicht einmal Karl Marx, dessen missliebige Theorien ja auch gern mit seinen körperlichen Schwächen (Furunkelleiden) und seiner charakterlichen Fehlbarkeit (außereheliches Sexualleben) diskreditiert wurden, reicht in dieser Hinsicht an Freud heran. Vor nun bald 25 Jahren stellte sich der besonnene Rezensent einer Freud-Biographie in der Zeit deshalb die bis heute nicht hinreichend beantwortete Frage, wieso ausgerechnet dem Begründer der Psychoanalyse so übermäßig viel Häme zuteil werde: »Der Streit um die Psychoanalyse wird – selbst ein der Analyse wertes Phänomen – mit der Person ihres Begründers geführt, der (von wenigen Ausnahmen abgesehen) dabei regelrecht demontiert wird: Familientyrann, Rauschgiftabhängiger, Feigling – der angeblich mit Rücksicht auf seine Wiener Patienten nicht alles so veröffentlichte, wie er es erfuhr – und Versager.«

Der saubere Sexus

Obwohl solche Schmähliteratur zu diesem Zeitpunkt bereits seit Jahren in Mode war, ist sie als »ein der Analyse wertes Phänomen« bislang nicht recht ins Bewusstsein getreten. Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass die Flut der Schmähungen gegen Freud in die Zeit der erneuerten nationalen Selbstversicherung Deutschlands fiel, in die Zeit der Friedensbewegung und der postmodernen Salvierung Friedrich Nietzsches und Martin Heideggers, in jene Zeit also, als der deutsche Irrationalismus, vermittelt über den Rückimport aus Frankreich, hierzulande wieder salonfähig wurde. Die damals übliche Freud-Beschimpfung (Ende Dezember 1984 machte der Spiegel beispielsweise mit einer durch und durch hämischen Titelgeschichte über den »Angriff auf das Reich des König Ödipus« auf) variierte indessen althergebrachte Anwürfe. Anwürfe, wie sie, stellvertretend für viele, bereits der Psychiater und Neurologe Oswald Bumke, der in der Zeit des Nationalsozialismus Rektor der Universität München und Leiter ihrer Nervenklinik war und 1947 nach kurzzeitiger Suspendierung wieder in sein Amt eingesetzt wurde, in seiner 1938 erschienenen Schrift »Die Psychoanalyse und ihre Kinder« formuliert hatte: Freud zerstöre erbarmungslos alle Ideale, seine Zergliederung der Psyche in die Instanzen von Es, Ich und Über-Ich »zersetze« die Einheit der menschlichen Seele.
In den späteren Schmähungen gegen Freud werden diese Ressentiments auf bemerkenswerte Weise erneuert. Zentral bleibt zwar weiterhin das Bild des geltungssüchtigen Juden, der aber nun vom zersetzungswütigen Propheten einer gesundheitsschädlichen Sexualisierung des Seelenlebens zum verklemmten Krankredner einer an sich gesunden und sauberen Sexualität (und natürlich zum Leugner von sexuellem Missbrauch) mutiert ist. »Der prüde Freud«, orchestrierte entsprechend der Spiegel den in der erwähnten Titelgeschichte proklamierten »säkularen Denkmalssturz«, habe schließlich schon im Alter von 40 Jahren den Geschlechtsverkehr für immer eingestellt. Ein »Horror« sei dieser »für den zugeknöpften Mann« gewesen, »dessen einziges Laster im hemmungslosen Zigarrenkonsum bestand.« Auf diese Weise ist aus dem Zerstörer aller Ideale, dessen Trieblehre als heimtückischer Angriff auf die Selbstgewissheit des bürgerlichen Subjekts wahrgenommen wurde, in der gegenwärtigen Freud-Beschimpfung selbst ein bürgerlicher Spießer geworden, der aufgrund eigener Prüderie die an sich gesunde und saubere menschliche Sexualität in den Schmutz habe zerren wollen.
Wenn das Freudsche Werk aber tatsächlich nur die durch und durch narzisstische Selbst­inszenierung eines durch strenge patriarchale Erziehung und bürgerliche Prüderie verkorksten Mannes wäre, dessen undurchsichtige Vexier- und Deutungsspielchen die Unwissenschaftlichkeit seiner Theorie übertünchen sollten und dessen Motive fadenscheinig bis suspekt seien – so soll Freud die sogenannte Verführungstheorie, der zufolge sexuell aufgeladene Kindheitserinnerungen immer einen missbrauchenden Vater oder Onkel zur Ursache hätten, nur zur Ehrenrettung seines eigenen Vaters aufgegeben haben, wie die Soziologin Marianne Krüll 1979 herausgefunden haben will (1) –, wenn also Thomas Szasz’ schon 1968 geäußerte Prognose, dass die Psychoanalyse von allein verschwinden werde, weil sie »moribund und überflüssig« sei, wirklich so zwingend wäre, warum werden Freud und die mit ihm in personaler Union verknüpfte Psychoanalyse überhaupt immer wieder publikumsträchtig erledigt? Zuletzt geschah dies mit der üblichen denkmalstürzlerischen Rhetorik im vergangenen Jahr, als der französische Philosoph und selbsternannte Atheist Michel Onfray mit seinem Buch »Anti Freud« die längst entzauberte Psychoanalyse erneut zu »entzaubern« vorgab, dabei jedoch nur all das wiederkäute, was längst schon zum Gemeinplatzvorrat für den gehobenen intellektuellen Small Talk gehört. Wieso also bestätigt die vorgebliche Kritik an Freud nolens volens allein schon durch ihre sture Gleichförmigkeit die Annahmen der Psychoanalyse darüber, was ein Wiederholungszwang ist?
Wohl, weil das Kränkungspotential, das Freud in seinen Entdeckungen vermutete, noch heftiger wirkt, als er es selbst befürchtet hatte. Denn es war weniger, wie viele Kritiker ihm vorwerfen, Freuds Größenwahn als vielmehr seine heimliche Hoffnung auf einen dem breit akzeptierten naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt analogen Prozess der menschlichen Selbstreflexion, die ihn 1917 zu der Formulierung bewog, dass mit der Psychoanalyse »der allgemeine Narzissmus, die Eigenliebe der Menschheit, bis jetzt drei schwere Kränkungen erfahren« habe: die »kosmologische Kränkung« nämlich, die die Pythagoräer, Astriarch von Samos und schließlich Nikolaus Kopernikus den Menschen bereitet hatten, indem sie die Erde als Trabanten der Sonne erkannten, die »biologische Kränkung«, die Darwin, stellvertretend für seine Vorgänger und Mitarbeiter, ihnen bereitete, als er den Menschen als »aus der Tierreihe hervorgegangen« erkannte, und schließlich die »dritte, psychologische Kränkung, die wohl am empfindlichsten trifft«.
Das psychoanalytische Erkenntnisinteresse beginnt nämlich dort, wo die autonome Erkenntnisfähigkeit des Ich in Bezug auf sich selbst an ihre Grenzen stößt: »Die beiden Aufklärungen«, welche die Psychoanalyse zu vermitteln sucht, »dass das Triebleben der Sexualität in uns nicht voll zu bändigen ist und dass die seelischen Vorgänge an sich unbewusst sind und nur durch eine unvollständige und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugänglich und ihm unterworfen werden, kommen der Behauptung gleich, dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus. (…) Kein Wunder daher, dass das Ich der Psychoanalyse nicht seine Gunst zuwendet«, schloss Freud lakonisch, zumal die Psychoanalyse »die beiden dem Narzissmus so peinlichen Sätze von der psychischen Bedeutung der Sexualität und von der Unbewusstheit des Seelenlebens nicht abstrakt behauptet, sondern an einem Material erweist, welches jeden Einzelnen persönlich angeht und seine Stellungnahme zu diesen Problemen erzwingt«. (2)

Die Vernunft wird zur Feindin

Bald ein Jahrhundert nach Veröffentlichung dieses Aufsatzes hat sich Freuds Skepsis gegenüber der Wirksamkeit seiner Lehre mehr als nur bestätigt: Ganz offenbar fällt es den Menschen leichter, ihre nahe Verwandtschaft mit den Affen hinzunehmen, als die Kräfte des Es, der kindlichen Sexualität, der ursprünglichen Impulse, und die Konsequenzen des immer brüchigen, weil erzwungenen Verzichts, diesen Impulsen ohne Umweg zu folgen, zu akzeptieren und auf sie zu reflektieren. Ein Verzicht, der tiefergreifend nicht sein könnte, weil er mit der elterlichen Regulation von Nahrung, Stuhlgang und Schlaf beginnt und auf nichts weniger zielt als auf die Disziplinierung des gesamten Alltags für die ganze Lebenszeit des Individuums.
Und so trifft der Zorn angesichts der Psychoanalyse den Überbringer der unangenehmen Kunde. Einer Kunde, die jeden Einzelnen daran erinnert – und das ist das besonders Irritierende an ihr –, was er dringend nicht zu erinnern sucht und was ihn deshalb in Träumen, Fehlleistungen, Zwangsgedanken, Schamgefühlen, heimlichen Lüsten, Obsessionen, immer wiederkehrenden dysfunktionalen Verhaltensmustern und rein sachlich oft kaum begründbaren, dafür umso heftigeren Ängsten und Projektionen heimsucht.
»Das große traumatische Ereignis in der menschlichen Entwicklung«, wie Herbert Marcuse diesen von jedem zu vollziehenden Verzicht, die erzwungene Vermittlung des Lustprinzips mit dem Realitätsprinzip nennt, ist, eben weil der Verzicht in der bisherigen Menschheitsgeschichte stets traumatisch erfolgte, auch nie endgültig und nie gänzlich akzeptabel: Das Realitätsprinzip, sedimentiert in Institutionen, Geboten und Strafen, aber auch in Wissenschaft und Technik, bot in der bisherigen Geschichte von Notdurft und Arbeitszwang dem Individuum eben keine wirkliche Kompensation für die eingebüßten egozentrischen und autoerotischen Lüste der frühen Kindheit und konnte dennoch immer die Notwendigkeit für sich reklamieren: Seine Alternative, das verallgemeinerte Lustprinzip nämlich, hätte angesichts der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Menschen leben, genau das bedeutet, was Thomas Hobbes als eigentlichen menschlichen Naturzustand fürchtete: »Keine Künste, keine gesellschaftlichen Verbindungen, stattdessen ein tausendfaches Elend; Furcht, gemordet zu werden, stündliche Gefahr, ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben.« (3) Freud charakterisierte diesen Schrecken eines innerhalb einer falschen gesellschaftlichen Ordnung verallgemeinerten Lustprinzips in seiner trockenen Art ähnlich: »Jeder andere hat dieselben Wünsche wie ich und wird mich nicht schonender behandeln als ich ihn.« (4)
Der notwendige Verzicht auf das Festhalten am Naturzustand wird jedoch von der Kultur in ihren verschiedenen Entwicklungsstufen niemals kompensiert, geschweige denn, dass zur Sprache kommen dürfte, in welchem Maße die Aufrichtung des scheinbar selbstverständlichen Ich zugleich die Hauptquelle seelischen und sexuellen Elends darstellt. Die verdrängten, nicht ausreichend sublimierten und erhellten ursprünglichen Impulse gelangen trotzdem an die Oberfläche, gerade in Form geistiger Regressionen, welche die Individuen zwar fürchten, aber zugleich insgeheim ersehnen: »Von allem Anfang an, wenn das Leben uns in seine strenge Zucht nimmt, regt sich in uns ein Widerstand gegen die Anforderungen der Realitätsprüfung. Die Vernunft wird zur Feindin, die uns so viel Lustmöglichkeit vorenthält. (…) Ernsthaftere Feindseligkeit gegen ›Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerbeste Kraft‹, wartet ihre Gelegenheit ab, sie beeilt sich, dem Wunderdoktor oder Naturheilkünstler den Vorzug zu geben vor dem ›studierten‹ Arzt, sie kommt den Behauptungen des Okkultismus entgegen, solange dessen angebliche Tatsachen als Durchbrechungen von Gesetz und Regel genommen werden, sie schläfert die Kritik ein, verfälscht die Wahrnehmungen, erzwingt Bestätigungen und Zustimmungen, die nicht zu rechtfertigen sind.« (5)
Was Freud »Kulturfeindschaft« nennt, neigt also zur wahnhaften Systematisierung in Form irrationalistischer Ideologien, die gegen den Einspruch der Realitätsprüfung immun sind, auch weil sich in ihnen die nur repressiv überwundenen und nicht durch Reflexion erhellten frühen Schichten der je individuellen Lebensgeschichte (und damit der Menschheitsgeschichte) ausdrücken: In den antiwissenschaftlichen Affekten des Wunderglaubens, in Astrologie, Schamanismus, in der Vergötzung primitiver Lebens- und Glaubensformen, in den sadistischen Zwangsvorstellungen des Antisemiten, im analneurotischen Affekt gegen die Ungebundenheit des Geldes, in absurden Verschwörungstheorien, in geifernden Bestrafungswünschen oder auch in jeder Form esoterischer Naturerklärung klingen die nur widerwillig abgelegten und schließlich verdrängten kindlichen sexuellen Wünsche wieder durch, die notgedrungen zwischen narzisstischer Selbsterhöhung und tiefer Angst vor der Übermacht der Außenwelt oszillieren: »Das Unbewusste behält die Ziele des überwundenen Lustprinzips bei. Abgewiesen von der äußeren Wirklichkeit oder unfähig, sie überhaupt zu erreichen, lebt die volle Macht des Lustprinzips nicht nur im Unbewussten fort, sondern beeinflusst auf vielerlei Weisen die Realität selbst, die an die Stelle des Lustprinzips getreten ist. Es ist die Wiederkehr des Verdrängten.« (6)
Und diese ist es auch, die schließlich die lebensgeschichtlich erfahrene Repression in politisch-ideologische Regression umschlagen lassen kann. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben diese Tendenz im sechsten Abschnitt der »Elemente des Antisemitismus« an den im frühen 20. Jahrhundert aufblühenden Klein-Rackets aufgewiesen, die nur darauf warteten, in der vereinheitlichten Paranoia zu verschmelzen: »Die obskuren Systeme heute leisten, was dem Menschen im Mittelalter der Teufelsmythos der offiziellen Religion ermöglichte: die willkürliche Besetzung der Außenwelt mit Sinn, die der einzelgängerische Paranoiker nach privatem, von niemand geteiltem und eben deshalb erst als eigentlich verrückt erscheinendem Schema zuwege bringt. Davon entheben die fatalen Konventikel und Panazeen, die sich wissenschaftlich aufspielen und zugleich Gedanken abschneiden: Theosophie, Numerologie, Naturheilkunde, Eurhythmie, Abstinenzlertum, Yoga und zahllose andere Sekten, konkurrierend und auswechselbar. (…) Die paranoiden Bewusstseinsformen streben zur Bildung von Bünden, Fronden und Rackets. Die Mitglieder haben Angst davor, ihren Wahnsinn allein zu glauben. Projizierend sehen sie überall Verschwörung und Proselytenmacherei.« (7) Und doch ist der Wahn für den positivistischen Blick kaum vom Realitätsprinzip und von dessen Versachlichung in Wissenschaft zu unterscheiden, äffen doch die Sekten und Alternativideologien die Insignien des Akademischen in ihrer eigenen Organisation und Terminologie nach. Zugleich werden von ihnen die infantilsten Wünsche bedient: tiefe Geheimnisse mit kindischen Mitteln aufzudecken und dadurch teilzuhaben an höheren Mächten, sich also zugleich narzisstisch gegenüber den vermeintlich Unwissenden zu erhöhen, sadistisch von Zweiflern und Andersartigen zu phantasieren und masochistisch die so bedrohlich erscheinende, weil komplett unverstandene Umwelt zu besänftigen – durch das Ritual einer speziellen Verzichtskost beispielsweise.

Das Elend des »wilden Denkens«

Die griffigste Parole für die Auflösung der Trennung zwischen den magischen Praktiken und der aus ihrer Kritik entstandenen neuzeitlichen Wissenschaft lieferte der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss: »Das wilde Denken«, so auch der Titel seines 1962 erschienenen Buches, verschrieb sich weniger der reflektierenden Beobachtung des Denkens derer, die man früher die »Wilden« nannte, als dass es die retrospektive Angleichung daran betrieb. Nicht die Reflexion auf die Ursprünge des Denkens, sondern der Widerwille gegen dessen historische Ausdifferenzierung bestimmte Lévi-Strauss’ Forschungen. Forschung und Mythologie sollen in einem falschen Universalismus ineinander verschwimmen, die Lust am Archaischen somit endlich dem Realitätsprinzip strukturell gleich gemacht werden – und moralisch zugleich der neuzeitlichen Wissenschaft überlegen erscheinen. Das »wilde Denken« wurde so mit und nach Lévi-Strauss zur Blaupause der postmodernen Wende in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, in der sich akademisch der Umschlag der politischen Protestbewegung in Esoterik und Ökologie, in Psycho-Boom und Ethno-Fimmel spiegelte.
In diesem Umfeld wurden Freud, die Psychoanalyse und ihr konstitutiver Beitrag zur Kritischen Theorie zu einem wahrhaft provokativen Anachronismus. Das billig erheiternde Schauspiel, mit dem man bis heute meint, die Freudsche Lehre vom Unbewussten erledigen zu können, inszeniert sich stets als emanzipatorische Befreiung von allerlei »Dogmen«, während die Psychoanalyse in Wirklichkeit weder im akademischen Betrieb noch im Alltag je auch nur annähernd jene Geltung besaß, die ihre Erlediger ihr bis heute zuschrieben; deren heftige Idiosynkrasie gilt insgeheim dem entlarvenden Impuls, den diese Lehre in sich birgt. Anstößige Begriffe Freuds wie »Peniswunsch« oder »Ödipuskomplex« sind natürlich leicht geeignet, um Schindluder mit ihnen zu treiben, sofern man sie aus dem Zusammenhang von Unbewusstem und Verdrängung löst. Nur dort aber ergeben sie Sinn, weshalb die gängige Kritik an Freud ihn nicht nur verfehlt, sondern hinter ihn zurückfällt.
Die Feministin Juliet Mitchell bemerkte dieses Missverständnis deutlich, auch wenn sie auf dessen interessierten Charakter nicht reflektierte: »Die Schwierigkeit rührt aber m. E. gerade daher, dass der Gedanke des Peniswunsches nicht im Zusammenhang mit den Mechanismen des unbewussten Seelenlebens gesehen wird; die Gesetze des Primärvorgangs (die Gesetze, die die Funktionsweise des Unbewussten bestimmen) werden von diesen Kritikern mit denen des Sekundärvorgangs (bewusste Entscheidungen und Wahrnehmungen) verwechselt, wodurch der Kern der Argumentation völlig verfehlt wird.« (8)
Und das war und ist beileibe keine Frage akademischen Beliebens: Mit der Negation des Unbewussten und der Verdrängung wird auch die Erkenntnis entsorgt, dass die Vernunftfähigkeit jedes Einzelnen nur eine immer vom Rückfall gefährdete Grenzüberschreitung der Naturgeschichte ist, dass der Geist sich von der je eigenen Natur seines Trägers nicht abgehoben, sondern diese in sich aufgehoben hat; dass das Ich allein durch innere Fähigkeit und äußeren Zwang umgeformtes Es ist, dass realitätsgerechtes Denken wie auch ästhetischer und sinnlicher Genuss allein aus der Sublimierung urtümlicher Impulse entstehen und die Spur dieser Entstehung immer in sich tragen. Daraus aber folgt, dass nur, wer dieser Fragilität des Geistes, des sich selbst denkenden Ich, inne wird, auch ein Sensorium entwickelt für die Regressionen, die das Ich stets locken, wieder Es zu werden, sich im Dunkel des »unerhellten Triebs« (9), dem Horkheimer und Adorno konsequent den Antisemitismus zurechneten, zu verlieren, ja, ihm voll und ganz dienstbar zu werden, um dann, im schlimmsten, auf Kollektivität dringenden Fall, Paranoia als praktische Politik zu betreiben.
Wohin der Verzicht auf Psychopathologie, also die Ansehung des Antisemitismus als x-beliebigen Forschungsgegenstand, führen kann, demonstriert überdeutlich der klägliche Irrlauf des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung und seines Leiters, Wolfgang Benz: Weil er Antisemitismus erst post festum an ermordeten Juden feststellen kann, aber die spezifische Mordlust partout nicht versteht, die die Gesetzesreligion samt ihrem Opferverbot für alle historischen Versagungen seither büßen lassen möchte, weiß Benz alles über die Shoa und hat doch nicht das Geringste von ihr begriffen. (10) Er erkennt nicht die pathologischen Muster der Zivilisationsfeindschaft, wo sie nicht explizit von Juden spricht, sondern beispielsweise von Bonzen und Politikern oder Imperialisten und Kreuzrittern, und hat aus seiner Forschung nichts anderes gelernt, als sinnentleerte Schablonen wie die der »Fremdenfeindlichkeit« oder der »Mehrheitsgesellschaft«, welche der »Minderheitenkultur« gegenüber stehe, beliebig zu applizieren. Und deshalb, wegen völligen Fehlens eines Blicks für die libidinösen Quellen der »Kulturfeindschaft«, deren aggressivster Ausdruck eben die Judenfeindschaft ist, scheitert der Historiker Benz gleich doppelt mit seiner Verortung des Antisemitismus in der Bundesrepublik heute: Zum einen sind die Muslime keineswegs Objekte antisemitischer Stereotypien – kein Mensch wirft ihnen Ritualmorde vor oder macht sie für Börsenkrisen verantwortlich –, zum anderen sind derlei Stereotypien in keinem anderen gesellschaftlichen Milieu auch nur annähernd so wirkungsmächtig und verbreitet wie eben im islamischen.

Antiautoritarismus und Strafbedürfnis

Ein Wissenschaftsbetrieb, der die Freudsche Theorie gänzlich aus den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften ausschließt – was im akademischen Milieu Psychologie heißt, hat meist viel mit Neurologie, aber fast nie etwas mit der Freudschen Trieblehre zu tun –, kann beim Thema Antisemitismus nur maximalen Schiffbruch erleiden, weil hier mehr noch als irgendwo sonst das gefordert wäre, was Herbert Marcuse an den oft verspotteten anthropologischen Spekulationen Freuds gerade besonders schätzte: nämlich, dass »Freuds ›Biologismus‹ Gesellschaftstheorie in einer Tiefendimension« ist, die »den Menschen auch in Begriffen« deutet, welche »die explosiven Grundlagen der Kultur« verrieten. (11) Ärger noch als in der seriösen Geschichtswissenschaft sieht es dort aus, wo die »condition postmoderne« (Lyotard) den bunten Flickenteppich der Meinungen einfach in einer allgemeinen »Agonistik« belässt, in der verschiedene »Sprachspiele« miteinander ringen, ohne dass das eine je größere Legitimität als das andere beanspruchen könnte. Nichts ermöglicht hier mehr eine Unterscheidung zwischen Verdrängtem und Reflektiertem, zwischen Hasspamphlet und Kritik. Indem alles zulässig, diskutabel und gleichwertig wird, kehrt sich die Wendung gegen die Psychoanalyse zugleich gegen die Restbestände von Vernunft. Die nämlich verdient ihren Namen nur dann, wenn sie aufs Unvernünftige reflektiert, aus dessen Kritik sie überhaupt erst hervorgeht. Ohne Bewusstsein um diese negative Genese dürfte man von Vernunft gar nicht sprechen.
Wo also – nach postmodernem Strickmuster – Trieb, Verdrängung und Unbewusstes als essentialistisch-biologistische Konstrukte gelten, wird auch jedes Wahrnehmungsmuster potentiell fähig zur »Hegemonie«, gleich, wie maßlos es sein mag, gleich, wie deutlich seine Abkunft aus dem seelischen Abgrund des Äußernden ins Auge fallen mag, gleich auch, wie offensichtlich zwang- und wahnhafte Züge daran zutage treten.
In der sogenannten Missbrauchsdebatte, die mit dem linksakademischen Angriff auf die Psychoanalyse Ende der siebziger Jahre einsetzte, kommt das voll zum Tragen. Was damals mit den Thesen von Jeffrey Moussaieff Masson, Marianne Krüll und anderen begann – Freud habe die gesamte Theorie der verdrängten frühkindlichen Sexualität nur entwickelt, um zu vertuschen, dass sexueller Kindesmissbrauch der familiäre Normalfall sei –, entwickelte sich im Zuge der neuen sozialen Bewegungen der achtziger Jahre zu einem reaktionären Haberfeldtreiben: Während jeder Mann als potentieller Vergewaltiger erschien, wurde zugleich die eigenständige, nicht auf empirische Erlebnisse reduzierbare Welt später verdrängter kindlicher Sexualphantasien geleugnet und skandalisiert, so lange, bis das pseudoviktorianische Bild von der sauberen und sexualitätsfreien Kindheit und dem bösartigen Phallus, der sie von außen bedrohe, zu einer Art Alltagsreligion geworden war. Erst der öffentliche Einspruch der Feministin und Pädagogin Katharina Rutschky Anfang der Neunziger brachte die Hysterie in den Folgejahren zum Abebben und zum Rückzug in bestimmte Milieus, setzte aber die Autorin des Buches »Erregte Aufklärung« über »Fakten und Fiktionen« des Kindesmissbrauchs bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren permanenten persönlichen Anfeindungen aus.
Rutschky bekam so einen Teil des Hasses ab, der sich ansonsten gegen Freud selbst und gegen die auf seine Erkenntnisse sich stützende Kritische Theorie richtet: Deren auch empirisch begründete Erkenntnisse über eine bestimmte Sorte strafwütiger, pathisch sexualisierender Zwangscharaktere und über die ihrem Verhalten zugrunde liegende antisemitische Disposition wären schließlich auch ziemlich entlarvend mit Blick auf die Feinde der Psychoanalyse selbst. Liest man die in der unmittelbaren Nachkriegszeit veröffentlichten Untersuchungen zum »autoritären Charakter«, wird dessen moderne Inkarnation leicht als der Typus kenntlich, der am stärksten auf den Fragenkomplex zur »ego-alien-sexuality« ansprach: »A readiness to believe in ›sex orgies‹ may be an indication of a general tendency to distort reality through projection, but sexual content would hardly be projected unless the subject had impulses of this same kind that were unconscious and strongly active«, heißt es in Horkheimers und Adorns Studien. (12) Adorno schreibt prägnant an anderer Stelle: »Das psychologische Geheimnis des Revoluzzers ist Strafbedürfnis.« (13)
Das Versagen des Historikers Benz vor dem Fortleben des Antisemitismus und das rasche Umkippen der diffamierenden Freud-Kritik in projektiven Verfolgungswahn sind zwei ebenso drastische wie verschiedene Beispiele dafür, wie die pathische Abwehr der Psychoanalyse das Denken bis ins Innerste angreifen kann. Aber sowohl der szientifische Versuch, das offenkundig Verrückte dennoch in Modelle zweckrationalen Handelns zu pressen, als auch gerade der postmoderne Unwille, Vernunft und Unvernunft überhaupt noch voneinander zu unterscheiden, enden schließlich in der Rationalisierung des Irrationalen. Hier genau sperrt sich die Psychoanalyse absolut und spiegelt gerade dadurch »etwas von objektiver Unvernunft wider«. (14) Deshalb wird Freuds Werk so unverzichtbar bleiben, wie es allgemein geschmäht wird.

Anmerkungen
(1) Ihr Werk heißt »Freud und sein Vater – Die Entstehung der Psychoanalyse und Freuds ungelöste Vaterbindung«. Der Erstveröffentlichung im Beck-Verlag sind seither zwei überarbeitete Neuauflagen (1992 und 2004) gefolgt. Weitere Titel der damaligen Flut von antifreudianischen Publikationen waren Frank J. Sulloways pompöse Hass-Biographie »Freud, Biologe der Seele« oder das geradezu besessen wirkende Pamphlet »Was hat man dir, du armes Kind, getan?«, in dem der Tierrechtler Jeffrey Moussaieff Masson Freuds »Unterdrückung der Verführungstheorie« zu kritisieren beansprucht. Auch hier wird Freuds angebliche Verharmlosung sexuellen Missbrauchs mit seiner eigenen Biographie in Verbindung gebracht.
(2) Zitiert nach: Sigmund Freud: Abriss der Psychoanalyse, Frankfurt/Main 1994, S. 185 ff.
(3) Thomas Hobbes: Leviathan. Erster und zweiter Teil, Ditzingen 1986, S. 115 f.
(4) Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion, in: ders.: Studienausgabe IX, Frankfurt/Main 2000, S. 149
(5) Ders.: Traum und Okkultismus, in: Studienausgabe I, S. 474
(6) Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1979, S. 21
(7) Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, zitiert nach: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften 3, Frankfurt/Main 1981, S. 221 ff.
(8) Juliet Mitchell: Psychoanalyse und Feminismus. Freud, Reich, Laing und die Frauenbewegung, Frankfurt/Main 1976, S. 22. Hervorhebung U. K.
(9) Adorno/Horkheimer, S. 196
(10) In seinem Aufsatz »Antisemitismus und Massen-Psychopathologie« von 1946 hat Ernst Simmel den historischen Hintergrund solcher Verdrängung prägnant dargelegt: »Der spezifische Beitrag der jüdischen Religion zur Zivilisierung des Menschen hat anscheinend ein besonderes kollektives Trauma gesetzt. Mit der Abschaffung des Tieropfers beraubte die jüdische Religion (…) die Juden (und damit letztlich die Menschheit) der Möglichkeit, ihre aufgestauten destruktiven Kräfte abzuführen. (…) Das war der wichtigste jüdische Beitrag zur Zivilisation und zugleich das Verbrechen der Juden.« E. Simmel (Hg.): Antisemitismus, Frankfurt/Main 2002, S. 84. Darauf reagiert der Antisemitismus mit der Vorstellung vom Ritualmord, mit der Fixierung aufs »Blut« (ob nun »minderwertig« oder »rein«) und der Vorstellung von den Juden als Verursachern gesellschaftlicher Krisen.
(11) Marcuse, S. 11 ff.
(12) Theodor W. Adorno: Studies in the Authoritarian Personality, in: ders.: Gesammelte Schriften 9, Frakfurt/Main 1975, S. 210
(13) Theodor W. Adorno: Ad vocem Hindemith, in: Gesammelte Schriften 17, Frankfurt/Main 1982, S. 241
(14) Theodor W. Adorno: Die revidierte Psychoanalyse, in: Gesammelte Schriften 8, Frankfurt/Main 1975, S. 40

Der Text ist Teil von Überlegungen, die dem im Ça-Ira-Verlag angekündigten Buch »Der Wert und das Es« zugrunde liegen. Der Autor kommt hin und wieder dazu, an dessen Fertigstellung zu arbeiten. Der Veröffentlichungstermin ist jedoch vorerst ungewiss.