Die Fotos von Mark Morrisroe

Ein kurzes, unaufgeräumtes Leben

In der ersten großen Schau seit der Aufarbeitung des Nachlasses von Mark Morrisroe zeigt die Villa Stuck das Werk des Fotokünstlers.

Neben dem nackten jungen Mann ist noch sehr viel Platz. Er hat es sich auf einem riesigen Bett bequem gemacht, den Kopf auf den Arm gestützt, das linke Bein aufgerichtet, um seinen Penis, der schlaff auf seinem Oberschenkel liegt, besser zur Geltung zu bringen. Die Fotografie erweckt den Eindruck einer privaten Aufnahme. Handschriftlich wurden die Worte »Self-Portrait (to Brent)« und »Sweet 16: Little Me as a Child Prostitute« an den Rand des Polaroid gekritzelt.
Das war 1976. Mark Morrisroe ging damals auf den Strich und finanzierte so seine erste eigene Wohnung und den Highschool-Abschluss. Mit seiner Mutter, die von einer guten Freundin als »einsame, traurige, trinkende Frau« beschrieben wird, wollte er nicht länger zusammen wohnen. Angeblich schämte er sich für sie.
Noch im selben Jahr, in dem das Foto entstand, wurde er von einem Freier angeschossen. Die Kugel, die nie entfernt werden konnte, beschädigte sein Rückenmark, seitdem hinkte er. 1986 erfuhr er, dass er HIV-positiv ist, nur drei Jahre später starb er in New York im Alter von 30 Jahren an den Folgen von Aids.
Morrisroe, der an der School of the Museum of Fine Arts in Boston Fotografie studiert hatte, machte sein Leben zum Thema seines fotografischen Werkes, er inszenierte sich vor der Kamera und spielte mit den Gerüchten, die er über sich selbst in die Welt gesetzt hatte. Er behauptete, dass sein Vater der Bostoner Serienmörder Albert DeSalvo sei, da dieser der Vermieter seiner Mutter gewesen sei.
Morrisroe porträtierte zu Beginn der achtziger Jahre vornehmlich sein eigenes Umfeld in Boston: die Wohnungen seiner Freunde, Punk-Konzerte, Bars, in denen sich die Schwulenszene traf. Er produzierte das Punkfanzine Dirt, das sich mit Musik und Pornographie beschäftigte. Mit seinem Freund Stephen Tashjian, der sich »Tabboo!« nannte, trat er unter dem Namen »Clam Twins« in Drag-Shows auf.
Morrisroe wird inzwischen wie Nan Goldin und David Armstrong der Boston School of Photography zugerechnet. In seiner ersten Einzelausstellung in der Bostoner Galerie »11th Hour« zeigte er Schwarz-Weiß-Porträts seiner Freunde und Liebhaber. Immer wieder fotografierte er nackte Männer in unaufgeräumten Wohnungen vor kitschigen Lampen, bunten Tapeten und zersprungenen Spiegeln.
»Die Erotik und Spannung dieser frühen Bilder verdanken sich wenigstens teilweise einer prekären Balance zwischen Tagebucheintrag und Melodram, zwischen strenger Inszenierung und spielerischer Improvisation«, schreibt Fionn Meade in dem die Ausstellung begleitenden Katalog.
Ähnlich wie Diane Arbus fotografierte Morrisroe Menschen, die sich tradierten Geschlechterrollen und Schönheitsidealen widersetzen. Eine Fotografie von 1981 zeigt eine zierliche Person mit behaartem Rücken und Stöckelschuhen von hinten. Ein anderes Bild zeigt das kantige, maskuline Gesicht eines lasziv lächelnden Mannes.
Es ist ein großes Glück, dass Morrisroes Fotografien jetzt in der Villa Stuck in München zu sehen sind. Denn das Unglück, das den Künstler zeitlebens verfolgte, hielt ihm auch über den Tod hinaus die Treue und verzögerte die Aufarbeitung seines Nachlasses.
Die Galeristin Pat Hearn, eine enge Vertraute Morrisroes, kümmerte sich zunächst um seinen Nachlass und ordnete die Fotos und Negative. Sie starb, bevor sie das Werk erschlossen hatte. Auch ihr Ehemann Colin de Land, der die Galerie übernahm, starb kurz darauf. Kurz vor seinem Tod hatte er Morrisroes Nachlass an den Sammler Michael Ringier verkauft, der es dem Fotomuseum Winterthur zur Aufbereitung überließ.
Eine erste umfassende Ausstellung fand 1987 in der Berliner Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) statt. Frank Wagner hatte die Ausstellungsreihe »Unterbrochene Karrieren« kuratiert. Das Ziel der Reihe war es, »auf unbearbeitete Nachlässe und die Defizite in der Betreuung hinzuweisen, der Frage nachzugehen, was mit dem Werk eines Künstlers passiert, der früh an den Folgen von Aids stirbt und noch keine Karriere gemacht hat«, so Wagner damals über sein Konzept. Die Ausstellung in der Villa Stuck ist die erste seit der Aufarbeitung des Nachlasses.
Morrisroes wichtigster Beitrag für die Entwicklung der Fotografie als künstlerisches Mittel ist wohl die Erfindung des Sandwichprint-Verfahrens: Er kopierte seine Farbnegative auf Schwarz-Weiß-Film und belichtete sie so übereinanderliegend. Das Ergebnis waren stark gedämpfte Farben, die Fotografien ähneln Malereien und büßen ihre Tiefenschärfe ein, Personen im Vordergrund verschmelzen mit ihrem Hintergrund. So zum Beispiel in der Fotografie »Ramsey, Lake Oswego«, die Morrisroe auf einer Reise nach Oregon 1988 gemacht hat. Er fotografierte das Gesicht seines damaligen Lebensgefährten unter Wasser. Die Bilder erinnern wegen der verschwommenen Konturen an Siegfried Kracauers Gedächtnisbilder: »Solange sie in das unkontrollierte Triebleben eingebunden sind, wohnt ihnen eine dämonische Zweideutigkeit inne; sie sind matt wie Milchglas, durch das kaum ein Lichtschimmer dringt.«
Eine »dämonische Zweideutigkeit« zeigt sich auch in den wenigen Landschaftsansichten, die Morrisroe gemacht hat. Sie erinnern an die Landschaften in den Filmen der Expressionisten, etwa an F. W. Murnaus »Nosferatu«, wo die Natur innere Prozesse, Ängste, Hoffnungen und Phantasien spiegelt.
Seinen eigenen Tod dokumentierte Morrisroe mit Röntgenaufnahmen und kolorierten Fotogrammen, die in provisorisch eingerichteten Fotolaboren in den Krankenzimmern der Kliniken entstanden. Die Bilder zeigen seine zerfressenen Lungen und die Wirbelsäule, in der die Kugel steckt.

Mark Morrisroe. Villa Stuck, München. Bis 28. Mai. Der Katalog zur Ausstellung ist bei JRP Ringier erschienen und kostet 45 Euro.