Vorabdruck aus »Chelsea Horror Hotel«

Chelsea Horror Hotel

Dee Dee Ramone bittet zu einer autobiographischen Sightseeingtour durch das legendäre New Yorker Künstlerhotel.

König Alkohol

Mike ist achtundsechzig. Er ist ein Penner, ein Säufer. Total unzuverlässig. An einem Bein hat er einen total verdreckten Gips, den man ihm schon vor Monaten hätte abnehmen müssen. Er ist so versifft, weil er obdachlos ist. Außerdem hat er mir mal erzählt, er hätte 20 Jahre in einer New Yorker Vollzugsanstalt verbracht. Als ich ihn das erste Mal gesehen habe, saß er auf einer Holzbank vor »La Nouvelle Justine« – einem S&M-Restaurant für Homos und Heteros – in der Nähe der U-Bahnstation Seventh Avenue/23rd Street.
Obwohl er ein verwahrloster Obdachloser ist mit allem Drum und Dran und so, war er supergut gelaunt. Vielleicht weil er betrunken war.
Zu jedem vorbeilatschenden Fußgänger fiel ihm ein netter Spruch ein, aber niemand hat ihn sonderlich beachtet, weil er dabei nicht die Hand aufhielt. Trotzdem fand ich es komisch, dass die Leute von »La Nouvelle Justine« es zu­ließen, als er da vor ihrem Etablissement auf der Bank saß. Machten sie aber. Er war voll bis unters Schädeldach. Das Leben auf der Straße und das jahrelange Saufen hatten ihn reichlich mitgenommen. Er war ganz schön hinüber. Abgewrackt. Ihm gefiel mein Hund, Banfield. Banfield ist ein Airedale Terrier, und er zieht immer alle Blicke auf sich. Er hat ein gewinnendes Lächeln, und alle Welt liebt ihn.
Ich hatte gehofft, Banfield würde pissen, aber er war nur am Dumm-Rumblödeln, bis Mike ihn zu sich rief. Irgendwie zog mich Banfield an der Leine hinterher, dann legte er sich auf den Bürgersteig und machte es sich bequem. Ohne großen Aufwand hatte Mike uns um den Finger gewickelt, und das gefiel ihm endlos gut. Als Nächstes versuchte er sich daran, uns in ein Gespräch zu verwickeln: »Hey, wie heißt’n du? Seit wann biss du draußen? Das iss ein süßer, ein süßer Hund, den du da hast.«
»Yeah, er heißt Banfield.«
»Oh.«
»Ja, sag mal, mit dir redet keiner, was?« sagte ich zu ihm. »Schon heftig, eh? Wenn man keinen hat, mit dem man mal quatschen kann?«
Irgendwie verwandelte sich Mikes Gesichtsausdruck daraufhin; so ins abgedreht Verwirrte, würde ich sagen. Ich war ihm eindeutig zu viel. Ich weiß ja, dass ich nicht mehr ganz normal bin. Manchmal geht das Leuten erstmal gegen den Strich, aber Mike stellte sich schnell darauf ein, und schon hatten wir viel Spaß.
So richtig typisch New York ist das nicht gerade, dachte ich mir: mit einem wildfremden Typen mitten auf der Straße rumquasseln. Okay, ich bin ein herzensguter Kerl, mein Herz ist riesig und so weiter, aber solche Situationen wie diese hier mit Mike entwickeln sich meistens sehr schnell von nicht-so-richtig-pralle zu reichlich-ungeil. Mir ist klar, was es bedeutet, obdachlos zu sein und überall abgewiesen zu werden, aber ich war mittlerweile clean, außerdem hatte ich gerade gebadet und war nicht gerade scharf darauf, mir jetzt bei ihm einen Sack Flöhe einzufangen. Eher uncool fand ich es auch, als Mike völlig ohne Vorwarnung von der Bank irgendwie aufgesprungen und mir in die Arme gefallen ist. Für eine Umarmung. In dem Moment konnte ich ihn unmöglich loslassen, denn mit seinem kaputten Bein wäre er umgefallen, wenn ich ihn nicht gestützt hätte. Weil er sofort die Balance verloren hätte. Hinzu kam, dass er tierisch stoned war. Sternhagelvoll und stoned: zu auf allen Kanälen.
»Dee Dee, du bist ein guter Mensch. Der Herr segne und behüte dich.«
Das kam, wie wenn einem der Wind ein mit Pisse getränktes Tempo ins Gesicht klatscht. ­Irgendwie gelang es mir, alles wieder in den Griff zu kriegen. Dann habe ich Mike ein paar Dollars gegeben, auf Pump. Dass er sich davon Bier kaufen würde, war mir klar. Schon okay.
Ein bisschen hoffte ich, er würde sich vielleicht einen Karton Hühnersuppe kaufen oder sowas. Ich meine, Mike sah übel aus, wirklich krank. Von dem ganzen Alk war sein Gesicht rot und aufgedunsen. Seine Augen waren verschwollen und eiterten. Überall an ihm klebte alte, inzwischen getrocknete Kotze, und der Gips an seinem kaputten Bein war schon ganz gelb, weil er so vollgepisst war.
Später, als ich am selben Abend wieder in meinem Zimmer war, musste ich noch einmal an ihn denken. Ich machte mir Sorgen um ihn. Es war zwar August, aber die Nacht war kühl, es würde kalt werden da draußen. Meine Frau Barbara, die Latino-Sexbombe, lag neben mir im Bett – nackt bis auf den Schlüpfer. Keine Ahnung, warum die Weiber den immer wieder anziehen. Na ja, egal. Alles war still.
Gott sei Dank haben wir ein Zuhause, dachte ich mir, während Banfield es sich vor dem Fern­seher bequem machte.
Mike sah ich danach praktisch jeden Tag, immer irgendwo in der näheren Umgebung. Er bemühte sich, niemandem auf den Wecker zu fallen, sprich: nur so seinen eigenen Scheiß zu machen und fertig. Weil er aber so mitgenommen aussah, hat ihn die Polizei immer wieder weggejagt.
Das hat ihm einiges abverlangt: dauernd aufzustehen und weiterzuziehen. Aber er hat mit den Cops nicht groß rumgezankt. Er hat dann einfach seine Sachen zusammengekramt, meistens von seinem Stammplatz auf dem Bürgersteig in der 23rd Street, und dann ist er eben ans andere Ende der Straße geschlappt. Worauf ich hinauswill: Nichts an ihm war gewalttätig, was ja in New York City eine sehr gute Verteidigung sein kann. Ich bin mir allerdings sicher, dass Mike zu seinen besten Zeiten die härtesten Dinger abgezogen hat, ich würde sogar wetten, dass der Sachen gedreht hat, die wirklich nicht ohne waren. Einmal habe ich ihn gesehen, abends, gegen sieben. Regen lag in der Luft. Feierabend, alle auf dem Heimweg oder schon zu Hause. In der Stadt wurde es still. Alle Welt zu Hause, beim Abendessen um diese Uhrzeit, danach Fernsehen.
»Mike, wo machstn hin?«
»Ich geh runter zur U-Bahn, paar Runden Schlaf abdrehen, quasi unter Tage, bei dem Regen.«
»Kommst du klar?« fragte ich ihn.
»Oh yeah«, meinte er. »Ich komm schon klar.«
»Okay, man sieht sich. Komm, Banfield«, drängte ich dann meinen Hund, damit er seinen Arsch Richtung Zuhause bewegen statt dauernd die Schnauze in die Löcher der ganzen aufgeplatzten Müllsäcke stecken würde. Die ganze 23rd Street rauf und runter stapelten sich die Müllsäcke. Bis acht wollte ich daheim sein. Das habe ich mir für jeden Tag vorgenommen. Acht Uhr. Dann Fernsehen.

Später in der Nacht kommen die ganzen an­deren Penner aus ihren Löchern, die kommen da rausgekrochen und durchsuchen die Müllsäcke nach Flaschen und Dosen. Die ganze Nacht dröhnt und klappert das Rumgemache unten in der Straße vor meinem Fenster. Wenn ich dann morgens Banfield Gassi führe, ist die ganze Straße ein einziger Saustall. Und das stinkt! Überall Glasscherben und übers Trottoir verkleckertes Öl. Jeden Tag machen sie das sauber – die Leute aus den Läden und die von der Müllabfuhr. Ich weiß nicht warum, aber um sechs Uhr morgens hängen da jede Menge Penner rum – einige noch mit ganz schwerer Schlagseite – und amüsieren sich, anscheinend total happy mit sich und der Welt. Am westlichen Ende von 24th Street, also bei Seventh Avenue, vor »Caesar’s Deli« trinken die Penner Kaffee und essen dazu Doughnuts. Ich nehme an, das sind die, die die ganze Nacht Dosen und Flaschen gesammelt und dann gegen Pfand eingetauscht haben. Und nun feiern sie nach einer Nacht der harten Maloche.
Mein Freund Mike ist aber keiner von der Sorte. Der schuftet nicht so heftig wie manche der anderen. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, schlief er auf den Stufen zum »Thai Regional Taste Restaurant«, direkt neben »Caesar’s Deli«. Er sah übel aus, schwer mitgenommen. Total ausgetrocknet. Seine Augenlider waren geschwollen, von getrocknetem Eiter richtig zugeklebt und so. Ich bin also gleich rüber, um ihn von Nahem zu betrachten. Aber ich konnte nicht erkennen, ob er nun am Leben oder tot war. Also habe ich mich über ihn gebeugt, mit zugehaltener Nase, denn es stank fürchterlich, und versuchte, ihn auf mich aufmerksam zu machen.
»Mike«, sagte ich. »Kannste mal kurz aufwachen?«
Die Sache sah echt beschissen aus. Er brauchte Hilfe. Ich also zu einer Telefonzelle und die Notrufnummer gewählt. Neun eins eins. Der Frau von der Vermittlung erklärte ich, was los war, und sie war ein Engel. Total nett. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass die so hilfsbereit sind. Zehn Minuten später war ein Krankenwagen da. Sie packten Mike auf eine Trage und brachten ihn in ein Krankenhaus. Ein Wunder – besonders in New York, wo es wirklich ziemlich hart geworden ist. Die Sanitäter waren echt super. Riesige Typen mit richtig dicken Muckis. Die sahen aus, als könnten die alles stemmen. Bevor sie Mike angefasst haben, haben sie sich erstmal Plastikhandschuhe angezogen – was ich für ziemlich clever hielt.
»Seit wann haben Sie den schon?« fragte einer der Sanitäter und klopfte Mike dabei auf das Gipsbein.
»Fünf Monate«, sagte er.
»Der Gips muss abgenommen werden«, sagten sie ihm. »Auf, wir nehmen Sie mit, das machen wir im Krankenhaus.«
»Tschüss, auf Wiedersehen, Wiedersehen allseits. Der Herr segne und behüte dich. Du bist ein guter Mensch, Dee Dee«, sagte er, als sie ihn in den Krankenwagen hievten. Ich gab ihm 20 Dollar, damit er was auf der Hand hätte, wenn sie ihn wieder entlassen würden. Alle Umherstehenden schien es zu freuen, dass Mike nun noch einmal die Kurve gekratzt hatte. Und ich fühlte mich wie ein Held.
Scheiß drauf, scheiß auf alle, dachte ich mir. Ich fühlte mich richtig gut, und ich musste runter, nach Downtown, also machte ich mich vom Acker.
20 Minuten später sah ich Mike, und zwar aus einem Taxi, mit dem ich zur West Side fuhr. Er war sehr, sehr, sehr besoffen. Im Vorbeifahren sah ich noch, wie ihm ein anderer Penner eine fast leere Flasche Bourbon aus der Hand nahm. Sofort nach Ankunft in der Notaufnahme muss Mike die Flatter gemacht haben. Mit dem 20-Dollar-Schein, den ich ihm zugesteckt habe, in der Tasche, muss er an nur das eine gedacht haben. Saufen. Er hat sich nicht einmal sein Bein behandeln lassen. Die wirklich nötige Behandlung hätten sie ihm verabreicht, so eine Gelegenheit bekäme er nicht so schnell wieder. Jedenfalls nicht in New York City. Mann, was für ein armes Schwein. Einmal mehr hat König Alkohol gesiegt.
Der Abend wurde nass und verregnet. Später in der Nacht dachte ich an ihn, da draußen in der nassen Kälte. So ein armer Tropf.

In der Lobby

Vor gar nicht so langer Zeit, okay?, neulich: Da geh ich im Treppenhaus des Chelsea Hotel runter zur Lobby. Von der ersten Etage. Ich latsche also gerade an dem silbernen Feuerlöscher neben Vali Myers’ Selbstporträt vorbei, und da gerate ich mitten in diese Szene, total heavy, die sich gerade am Empfang abspielt. Die ganze gläserne Oberfläche des Tresens an der Rezeption ist verschmiert mit echt gemeinem, dunkelrotem Blut.
Ein hünenhafter Typ mit Bart, bekloppt und voll bis zum Anschlag, umklammert seinen ­einen Arm mit einem von Blut verschmierten Geschirrhandtuch. Obwohl sein ganzes Auftreten dem eines Holzfällers gleicht, hat er irgendwas Feminines an sich. So eine Aura. Schwul, jede Wette. Er blutet echt wie ein Schwein, ­seine Augen schimmern irre, und er schreit dauernd hysterisch rum und bedroht jeden, der reinkommt. Das Männlein, das an der Rezeption gerade die Schicht schiebt, duckt sich hinter dem Empfangstresen so gut weg, wie es eben geht. Jeder, der das gesehen hat und dabei war, wird später sagen, dass es genau so war. Vor dem Blut haben alle wahnsinnig Schiss. Die Hosen gestrichen voll. Man will sich gar nicht vorstellen, wie das wäre, wenn man sich mit so einem riesenhaften Schwachkopf kloppt, denn das einzig Positive an ihm ist mit großer Wahrscheinlichkeit sein HIV-Wert. Jeder hätte darauf gewettet, dass der Aids hat und dass schon ein Spritzer seines Bluts genügt, und man könnte die Tage zählen, bis der Sensemann kommt. Dann ist da noch was anderes, eine leere Plastikflasche – halber Liter Franzbranntwein, den der Holzfäller vernichtet hat – auf dem Tresen.
Beim Dinner im »El Quijote«, dem Restaurant neben dem Chelsea Hotel, hat sich der Heini also vorher mit Reinigungsalkohol, pur, abgefüllt. Später hab ich gehört, dass er da Teller und Gläser und anderes Geschirr zerdeppert hat. Als er in die Scherben reingelangt hat, hat er sich an der einen Hand verletzt.
Der Typ also, der schwule Holzfäller, ist dermaßen voll vom Reinigungsalkohol, dass er gar nicht den Schmerz spürt, nix von den Wunden in seinen Armen und Händen. Er weiß, dass er da irgendwo verletzt ist. Was er anscheinend nicht merkt, ist, dass er den ganzen Laden hier mit seinem Blut vollsifft. Keine Ahnung, vielleicht merkt er’s nicht, weil er alle Hände voll zu tun hat, mit allen und jedem in der Lobby zu zanken.
Klare Sache: Der kleine Unfall im »El Quijote« war ein von ihm sorgfältig eingefädelter und inszenierter Trick, mit dem er die Zeche für sein Essen prellen wollte. Hat geklappt. Sein duselig vernebeltes Hirn, sein körperlicher Zustand und die Reaktion anderer Gäste machte es für ihn zum Kinderspiel, ungehindert im »El Quijote« die Biege zu machen, und ohne einen Cent zu zahlen. Dann ist er also ins Chelsea gewankt, bis zur Lobby, ohne sich einen Scheiß um irgendwas zu kümmern.
Banfield ist ausgeflippt. Terrorisiert von der ganzen Szenerie schmeißt er sich auf den Boden und tobt da rum. Er bellt kein einziges Mal, knurrt den Arsch nicht mal an. Scheiße, oder? Er müsste mich beschützen oder so. Stattdessen macht Banfield alles noch schlimmer. Stattdessen macht er diesen Hundesalto – wo er sich auf den Boden duckt und dreht, sein Herrchen mit der Leine einwickelt und sich dann am liebsten das Halsband über den Kopf zieht, wegrennt, meistens raus auf die Straße, mitten in den Verkehr, so dass du ihm hinterherrennen und ihn einfangen musst, bevor er von einem Laster plattgefahren wird oder von einem Taxi oder einem Skater gerammt wird.
Weil Banfield also gerade diese Show durchzieht, schenkt ihm der Arsch seine ganze Aufmerksamkeit und sabbert irgendwas in der Art wie: »Ooooh … ooooh bitte … ooooh bitte …  ooooh ja, bitte!«
Dann verkündet er: »Ich liebe Airedales. Will er spielen? Ey … kann ich ihn ein bisschen tätscheln? Biiitte! Bitte, bitte, lass mich mal!« kommandiert er immer lauter, jetzt ganz wütend, und mit Südstaaten-Akzent.
Im selben Moment beginnt die Jagd durch das Chelsea Hotel. Mit ein paar ziemlich cleveren Schritten gelingt es mir, ihm auszuweichen und Banfield davor zu bewahren, mit HIV-positivem Blut vollgespritzt zu werden. Der Typ ging ab wie eine Rakete, ziemlich trickreich. Mich fängt man nicht so leicht, aber die Jagd war schnell rum. Nach Minuten steht er wieder vor mir, und ihm war anzusehen, dass er nur eines im Sinn hatte: mir etwas Fürchterliches zuzufügen. Vielleicht würde er unter seinem Hemd ein Fleischerbeil hervorzaubern? Keine Ahnung. Die Lobby des Chelsea Hotels wollte er jedenfalls nicht ohne Trouble oder gar kleinlaut verlassen. Was blieb mir übrig?
Es war auf derselben alten Schiene, diesem »typisch wie immer«, mit dem ich mir so einen Stuss zurechtreime. Ich meine, das sollte man nicht vergessen, ich habe schon einiges gesehen und mitgemacht, okay? Aber das war wirklich eine Nummer zu dick aufgetragen.
So richtig haut mich eigentlich nichts mehr um. Aber obwohl ich gar nicht mehr zählen kann, wie oft ich das Chelsea Hotel wegen rücksichtsloser Gefährdung hätte verklagen können, ist mir gleichzeitig klar, dass den Cops meine Rettung am Arsch vorbeigeht. In meiner Verzweiflung versuche ich also, die Situation so hinzubiegen, dass ich wenigstens noch ein bisschen kranken Spaß daran finde – notfalls mit Gewalt –, um den ganzen verdammten ­Citystress, der sich in mir aufgestaut hat, zu lindern. Aber man kommt da schon ins Schwitzen, bei dem ganzen Blut und HIV, und weil der Typ so ein Junkie-Arsch ist.
Ich bleibe also auf der Hut. Ich flitze dem Typen irgendwie davon, an der Rezeption angekommen mache ich so eine Art Bruce-Lee-Kung-Fu-Backflip, wodurch ich direkt vor dem Lift lande – wo, wie ich weiß, ein zylinderförmiger Aschenbecher aus Stahl steht, den ich mir greifen kann, um dem Typ damit die Fresse zu polieren oder um den auf den Typen zu schmeißen und dann die Treppe hochzurennen und auf dem Weg noch den Feuerlöscher aus seiner Halterung ruppen und ihm damit das Gesicht zurechtzurücken. Dann würde ich ihn mit Tränengas einmachen.
Es war ein Wunder, dass es mir gelungen ist, auch Banfield heil die Treppe hochzukriegen und zu meinem Appartement zu gelangen, wo ich mir einen Baseballschläger geschnappt habe, um wieder rauszurennen und dem Idioten hinterherzusetzen. Dann kam da das, typisch wie immer – aarrrgh rrrr … rrr!!! und grrr bamm bamm autsch!!!

Später musste ich auf dem Weg zur 23rd Street wieder durch die Lobby. Banfield musste dringend pissen, deshalb mussten wir raus. Beim Durchqueren der Lobby fühlte ich mich total paranoid. Vor dem Hotel parkten ein Krankenwagen und ein Einsatzwagen der Polizei.
Der Korridor war, wie ich sah, befleckt von fast getrockneten, bräunlichen Blutspritzern. Ich machte so eine Art Witz darüber, während ich meine Zimmertür verschloss. Außerdem waren auf dem Fußboden Abdrücke meiner Turnschuhe zu sehen und an den hepatitisgelben Wänden des Korridors noch weitere Blutspritzer. Der Irre hatte versucht, meinen Namen an die Wand zu schmieren, und zwar anscheinend mit dem Blut, das ihm aus dem Schädel spritzte, aufgeknackt mit dem Baseballschläger.

Diese ganze blutverschmierte Sauerei wird den Flur bis Montagmorgen schmücken. An den Wochenenden macht hier keiner sauber. Der Dreck bleibt also erstmal, wo er ist – was die Gäste und die Bewohner des Hotels traumatisiert. Es ist genau diese Sorte von unkontrolliertem Verfall, an Wochenenden aufgehäuft, durch die für mich die Sonntage im Hotel ­unerträglich werden.
Der ganze Laden stinkt wie eine Absteige für Seemänner. In den Korridoren und im Lift sind Pfützen mit Pisse, überall ist Müll, Säufer haben abgestandenes Bier und Wein verkleckert, zwischen Saufgelagen in den umliegenden Bars und ihren Zimmern im Hotel. Es ist ziemlich ekelhaft. Ganz besonders jetzt, um sechs Uhr morgens, wo ich mit Banfield rausgehen muss.
Seine Nervosität, sein Mangel an Begeisterung, seine fehlende Freude angesichts meiner hingebungsvollen Aufopferung für ihn, das ­alles raubt mir die letzten Energiereserven, die ich bis eben noch hatte. Mental befinde ich mich im Tiefflug, ziemlich knapp über dem absoluten Wahnsinn. Eine schwere Depression ist das Einzige, was mich davor bewahrt, total auszuklinken.
Wofür bist du überhaupt zu gebrauchen? Das frage ich mich, während ich diese verdreckte, bittere Last betrachte, an die ich gekettet bin. Banfield gelingt es immer, tagtäglich, mich in meiner auswegslosen Verzweiflung noch ein Stockwerk tiefer zu ziehen – als bestünde der Sinn seiner Existenz einzig und allein darin, mir noch einen reinzuwürgen.
Ich hasse dich! Das sage ich mir, während ich von dem Hund weggucke, um wenigstens vo­rübergehend abgelenkt zu werden. Um mich wieder einigermaßen in die Wirklichkeit ein­zuklinken.
Als Nächstes ist dann das passiert: 200 oder mehr dieser riesigen, einen halben Zoll fetten und zweieinhalb Zoll langen Kakerlaken, die das Chelsea Hotel befallen haben, labten sich wie Gespensterfledermäuse an dem die Wände verklebenden, halb getrockneten Blut. Zu großkotzig, um sich aus dem Staub zu machen, lärmen sie dabei so sehr, dass ich davon aufwache. Auf meine Laune wirkt sich das eher ungünstig aus. Sogar Banfield macht das ganz verrückt. Wir beide hassen diese Viecher, eines zu zerbeißen oder zu zerschlagen ist aber widerlich. Man kann sie kaum umbringen. Sie haben eine Menge Innereien, und jedes Mal, wenn man sie zerschlägt, spritzt einem alles Mög­liche um die Ohren.
Die Scheiße hat mir gerade noch gefehlt. Also latsche ich zurück in mein Zimmer, hole das Spray gegen Ungeziefer – was die Viecher ankotzt, aber sie aus irgendeinem Grund nie umzubringen scheint. Manchmal versuchen wir’s mit Mäusefallen. Das funktioniert besser, irgendwas geht immer in die Falle.

Wenn es ein sonniger Tag ist, oder wenn es ein düsterer Tag mit grauem Himmel ist, wenn es nix zu tun gibt, weil es draußen regnet, dann ist es hier im Hotel ganz okay, dann lässt es sich hier aushalten wie in einem Albtraum.

Straight und schwul

Leonardo ist einer der Dauergäste im Chelsea Hotel. Als ich im fünften Stock gewohnt habe, war er mein Nachbar. Er ist ein abartiger Kauz mit einem Hang zu unflätigem Benehmen. Gleichzeitig bemüht er sich hartnäckig, wie ein Gentleman rüberzukommen. Ständig bricht er sich einen ab, mir gegenüber pseudonett zu sein, irgendwie sarkastisch, was ich genauso erwidere.
Ich habe mich immer bemüht, zu Leuten nett zu sein, weil ich von Natur aus ein netter Mensch bin. Aber bei Typen wie Leonardo ist Vorsicht angesagt. Ich habe nämlich herausgefunden, dass Leonardo gar kein Gentleman ist.
An einem schönen sonnigen Morgen, ich stehe gerade im Schatten unter dem Vordach des Chelsea Hotel auf der 23rd Street, trug Leonardo also diese altmodische Sonnenbrille von Ray Ban, und ich hatte eine nettere und teurere Sonnenbrille von Gucci auf meinem Zinken. Hochwertige Qualität. Beide hatten wir gerade nix Besseres zu tun, also gingen wir zusammen Frühstücken beim »Chelsea Cottage Square Diner«, die Straße runter zur Tenth Avenue.
Nach gut einer halben Stunde in absolut unterirdischer Atmosphäre mit ihm hier in aller Öffentlichkeit wurde mir klar, dass es für einen Hetero kein Leichtes ist, mit einem Schwulen befreundet zu sein. Ich habe nix gegen Schwule, aber es ist nicht so richtig witzig, mit einem Typen beim Essen zu sitzen, wenn der lauthals verkündet, wie er sich neulich einen gerubbelt hat und dabei nix anhatte außer einer Strumpfhose – oder wenn er dauernd rumschreit, welche Pornos und wie viele dicke Dödel er in letzter Zeit gesehen hat. Alles dauernd nur auf dem Streifen, okay? Und seinem befangen lauschenden Publikum gegenüber benimmt er sich gleichzeitig total herablassend. Soll er doch, meinetwegen. Ich nehme an, sein ganzes Getue ist einfach eine der Nebenwirkungen von ein paar Crack-Pfeifen zu viel.

Vor ein paar Tagen habe ich in der Lobby eine halbe Ewigkeit auf den Aufzug gewartet. Ich war schon kurz vorm Ausrasten, als Leonardo vorbeispaziert kommt, was meine Nerven nicht gerade beruhigt hat, eher im Gegenteil: Meinen Stress am frühen Morgen hat das noch was höher geschraubt. Er hatte mal wieder einen seiner Crack-Koks-Exzesse hinter sich, war in entsprechend mitgenommener Verfassung – und mit seiner Miete hinterher.
Stanley Bard, der Besitzer des Hotels, stand an der Rezeption und war mal wieder in erlesen übler Verfassung. Für ihn, eingeklemmt zwischen dem Empfangstresen und der Wand hinter sich, waren wir vermutlich kein besonders toller Anblick, weder ich noch Leonardo. Wahrscheinlich hoffte er so sehr wie ich, dass der verdammte Aufzug endlich kommen und uns aus seiner Lobby abtransportieren würde, damit jeder in Frieden seinem Kram nachgehen könnte und sich vor dem Anblick des jeweils anderen wegducken – aus den Augen, aus den Sinnen.
Leonardos wichtigtuerische Haltung, diese Ignoriere-alle-Desaster- und Mach-alles-schlimmer-Einstellung, war dann der Auslöser, bei dem Stanley Bard ausgerastet ist. Bard fing an, wie ein Irrer rumzubrüllen, er wurde ganz hysterisch, drohte damit, Steve hochzuschicken, damit der Leonardos Tür aufbrechen und sein Zeugs runter auf die Straße schmeißen würde, weil er seine Miete einfach nicht abstotterte. Steve war der zuständige Hausmeister des Hotels. Alle warteten also auf den klapprigen, alten Lift, der nun endlich ankam. Ich quetschte mich rein, mit allen anderen außer Leonardo. Der platzierte seinen Fuß auf die Schwelle zum Fahrstuhl, so dass die Tür nicht schließen konnte, was wiederum den Lift dazu brachte, rüttelnd und nervös hoch- und runterzuwackeln.
Ich versuchte, das alles möglichst schnell auszublenden, aber dann kippte in dem Gedrängel einer der Hotelgäste seinen Kaffee auf mich, womit es mit meiner Gelassenheit vorbei war. Dieser Kriecher trug seinen Kaffee von »Caesar’s Deli« ins Hotel, weil kein Laden mehr bereit war, Essen oder Trinken ins Chelsea Hotel zu liefern – außer den chinesischen Noodle Shops, die die ganze Gegend verpesten. Aber selbst wenn die was bringen, ist keiner von denen doof genug, heiße Sachen hierher zu tragen – außer diesem Affen. Und der Affe ist jetzt supernervös, weil er erwartet, ich würde ihn für das, was er gerade vergossen hat, zusammenstauchen. Jeder hasst ihn sowieso, weil er ein armseliger, naiver, dämlicher Tourist ist. Ginge es nach mir, dann sollte er sich in dem Hotel gar nicht aufhalten, wenn er meint, er sei was Besseres als die ganzen HIV-Infizierten, oder wenn ihn die vielen Homos und die Geister in manchen der Zimmer verrückt machen, die gigantischen Kakerlaken, die Mäuse in den Schränken, oder wenn er Schiss davor hat, im Flur in Pfützen voller Urin oder Bier auszurutschen, wenn er Angst hat vor launischen Lesben oder durchgeknallten Bisexuellen – homo oder hetero –, oder wenn er glaubt, er sei ein doller Hund, nur weil er sich seinen Kaffee selbst holen geht oder so!
Ziemlich schnell war ich auf 180, meine Aufregung überwältigte meinen Verstand, und ­allen wurde es zu eng. Klaustrophobisch, das. Leonardo hatte seinen Fuß immer noch fest in der Tür, und Stanley Bard brüllte mit voller Lautstärke, war jetzt kurz davor, nach seiner Knarre zu greifen. Panisch geworden, drängelte ich mich an allen vorbei aus dem Lift und nahm stattdessen die Treppe – ein Stockwerk, wo mein Semi-Studio-Appartement ist. Als ich die Treppe hochgelaufen war, war ich total verschwitzt und schlapp, bei Ankunft in meinem Zimmer hatte ich dann einen üblen Bronchitis-Hustenanfall.
Ich muss sowas von aufhören mit dem Rauchen, verfluchte ich mich.

Dee Dee Ramone, eigentlich Douglas Glenn Colvin, war 1974 Gründungsmitglied und seither Sänger, Bassist und Komponist der New Yorker Punkband Ramones. Seit seinem Ausscheiden aus der Band 1989 arbeitete er als Solomusiker, Schriftsteller und Maler. Er hat selbst längere Zeit im Chelsea Hotel in New York gelebt. Am 5. Juni 2002 starb er mit 50 Jahren an einer Überdosis Heroin.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Dee Dee Ramone: Chelsea Horror Hotel. Mit keinem Nachwort von Sid Vicious. Aus dem ame­rikanischen Englisch übersetzt von Matthias Penzel. Milena-Verlag, Wien 2012, 214 Seiten, 19,90 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.