Zum Tod des Historikers Arno Lustiger

Kein Interesse an Nazis

Zum Tod des Historikers Arno Lustiger, der sich mehr für die Opfer des Antisemitismus als für die Antisemiten interessierte.

Die Nazis hatten sich vorgenommen, die Juden auszurotten. Ihr Vernichtungsfeldzug wurde gestoppt. Die Vorstellung aber, dass eine Welt ohne Juden eine bessere sein könnte, und entsprechende Versuche, diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen, haben seit 1945 an verschiedenen Orten und unter völlig unterschiedlichen ideologischen Vorzeichen immer wieder Konjunktur. Deswegen gibt es bis heute ein großes Inter­esse am Antisemiten, an den subjektiven Beweggründen für seinen Judenhass und den objektiven Voraussetzungen für dessen mörderische Entfesselung. Mal gilt es, die Beweggründe oder die Voraussetzungen für antisemitische Greueltaten zu historisieren, ein anderes Mal, sie gegeneinander abzuwägen. Immer noch wird unter Historikern darüber gestritten, ob die Vernichtung der Juden eine Folge des Eroberungskrieges oder sein Zweck war.
Arno Lustiger, der am 15. Mai mit 88 Jahren gestorben ist, war einer der wenigen Historiker, die sich für diese Fragen nicht interessierten. Das lag wahrscheinlich daran, dass er gar kein studierter Historiker war. 1924 im polnischen Bedzin geboren, überlebte er die Vernichtung, wie alle anderen, die überlebten: zufällig. Sein Vater und viele Angehörige wurden ermordet. Als einer der wenigen, die die Todesmärsche der Häftlinge überstanden hatten, forderte er 2005, als er am 27. Januar vor dem Bundestag sprach, dass dieser mörderische Höhepunkt des nationalsozialistischen Terrors endlich gründlich historisch untersucht werden müsse. Im April 1945 war er von einem der Todesmärsche geflohen und von Volkssturm-Leuten gefangen genommen worden, konnte abermals fliehen und wurde dann von amerikanischen Soldaten mehr tot als lebendig gefunden.
Den Todesmärschen fielen in den letzten Kriegsmonaten noch einmal Hunderttausende KZ-Häftlinge zum Opfer, bis zuletzt sollten die Spuren der Nazi-Verbrechen vertuscht werden. Und obwohl die Volksgenossen eigentlich um ihr eigenes Überleben kämpften, fanden sie noch Zeit genug, auf geflohene Häftlinge Jagd zu machen. Die Barbarisierung der deutschen Gesellschaft fand in dieser Zeit ihren Höhepunkt, als nicht nur der Krieg in Form alliierter Bomben, sondern auch die Überlebenden der Vernichtung im Osten in den Todesmärschen heimkehrten. Diese Monate bis zum Mai 1945 waren der Beweis dafür, dass die Vision von einer Welt ohne Juden und »Untermenschen« nicht in eine bessere Welt, sondern in die Entfesselung des vormals an die Juden gebundenen Hasses auf ­alles und jeden führt. Die Alliierten haben die Deutschen nicht befreit, sie haben sie in erster Linie davor bewahrt, sich gegenseitig umzubringen; im Osten, indem »die Russen« Angst und Schrecken verbreiteten, im Westen mittels Reeducation.
Lustiger ging nach Frankfurt am Main, wo er bis zu seinem Tod lebte, und beteiligte sich am Wiederaufbau der Jüdischen Gemeinde. Von 1945 bis 1948 lebte er zusammen mit seiner Mutter und seinen Schwestern im Displaced-Persons-Lager Zeilsheim, arbeitete als Redakteur der jiddischen Zeitung Unterwegs und als Übersetzer für die amerikanischen Truppen. 1950 machte er sich als Textilfabrikant selbstständig, heiratete und bekam zwei Töchter. Lange engagierte sich Lustiger nicht öffentlich, sondern in der von ihm 1951 mitgegründeten Zionistischen Organisation in Deutschland, deren langjähriger Vorsitzender und späterer Ehrenvorsitzender er war. Ein wichtiger Bereich seiner Tätigkeit war die Unterstützung osteuropäischer und sowjetischer ­Juden, die nach Israel ausreisen wollten.
Dieses Interesse an den Juden des Ostens, zu denen er selbst gehörte, und dem ungeheuer­lichen Verrat der Kommunisten, insbesondere Stalins, an ihnen, war das Thema seines Lebens. Nachdem die Töchter aus dem Haus waren und Lustiger genug Geld verdient hatte, um nicht mehr arbeiten zu müssen, begann er ­Mitte der achtziger Jahre mit seinen historischen Forschungen. Sein erstes Buch »Schalom Libertad« erschien 1989 und widmete sich der Beteiligung von Juden am Spanischen Bürgerkrieg. Dass in der kommunistischen wie in der anarchistischen Geschichtsschreibung des Krieges die Beteiligung der Juden ausgeblendet wurde, veranlasste ihn zu einer akribischen Aufrechnung – mit dem Ergebnis, dass die Beteiligung der Juden an der Verteidigung der Republik im Vergleich zu den Angehörigen anderer Nationen überdurchschnittlich hoch war.
Lustigers 1998 erschienenes Werk »Stalin und die Juden« über das Jüdische Antifaschistische Komitee und die Juden in der Sowjetunion verdeutlicht dagegen auf nachdrückliche Weise, dass die sowjetischen Juden, die schon in den dreißiger Jahren während der Moskauer Prozesse immer wieder antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt waren, sich nach dem Überfall auf die Sowjetunion an Stalins Seite stellen mussten. Ihnen wurden Hoffnungen gemacht auf einen eigenen Staat, denn auch Stalin wollte die Juden loswerden. Während des Krieges, als die Vernichtung im europäischen Teil der Sowjetunion am grausamsten ins Werk gesetzt wurde, kämpften auch hier sehr viele Juden, sei es als Partisanen, sei es in der Roten Armee, und gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil waren sie auch hier überdurchschnittlich vertreten. Das Ende der Vernichtung und die Niederlage der Deutschen kam, die Befreiung der Juden blieb in der Sowjetunion jedoch aus. Nach 1945 setzte Stalin mehrere antisemitische Kampagnen in Gang, die den Zweck hatten, die Juden als Handelnde aus der Geschichte des Krieges zu streichen. Nach der Gründung Israels 1948 keimte Hoffnung für die sowjetischen Juden auf, als Golda Meir als erste israelische Botschafterin in Moskau von einer begeisterten Menge durch die Straßen getragen wurde. Doch was folgte, waren Hinrichtungen von Juden nach der sogenannten »Ärzteverschwörung« und dem Prozess gegen den tschechoslowakischen Kommunistenführer Rudolf Slansky in Prag. Die bereits geplante Deportation der Juden wurde nach Stalins Tod nicht mehr verwirklicht.
Mit der damals noch recht jungen Jungle World reisten wir Ende der Neunziger mit Lustiger durch einige deutsche Städte, um sein Buch vorzustellen und Werbung für die Zeitung zu machen. Damals wollte das Publikum eher rührselige Geschichten aus dem jüdischen Widerstand hören, garniert mit Partisanenliedern wie »Sag nie, du gehst den letzten Weg«. Der Historiker Lustiger verweigerte sich dem ebenso wie jedem anderen Angebot zur Identifikation. Die sein ganzes Werk durchziehende Intention zielt zum einen auf historische Gerechtigkeit – auf den wissenschaftlichen Nachweis, dass die Juden überproportional am Kampf gegen den Nationalsozialismus beteiligt waren – und zum anderen darauf, ohne dass er es ausgesprochen oder bewusst reflektiert hätte, die Vernichtung als jene Katastrophe darzustellen, als die sie sich für die Juden darstellte. Sein letztes, im vergangenen Jahr erschienenes Buch »Rettungs­widerstand« über nichtjüdische Judenretter vertieft diese Sichtweise auf die Vernichtung. Mit Arno Lustiger ist ein Historiker gestorben, dem es, um es mit Walter Benjamin zu sagen, nicht darum ging, »zu erkennen, wie es denn eigentlich gewesen ist«, sondern der versucht hat, »sich einer Erinnerung (zu) bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt«.