Die anhaltenden Proteste in Russland

Protest ohne Plakate

Nach der Zerschlagung einer Massendemonstration besetzen russische Oppositionellen öffentliche Plätze in Moskau. Nur den Rasen darf niemand betreten.

Woodstock oder Bürgerkrieg? Auch wenn diese Zuspitzung nicht der Realität entspricht, werden Russlands Oppositionelle derzeit zu dieser Alternative befragt. Anders als noch vor wenigen Wochen wenden die Medien ihre Aufmerksamkeit allerdings auch neuen, bislang unbekannten Protagonisten der jüngsten Proteste zu. Das mag unter anderem daran liegen, dass einige der zu Oppositionsführern stilisierten Politiker in Moskau zu einem Ordnungsgewahrsam von zehn Tagen bis zwei Wochen verurteilt wurden. In jedem Fall aber zwingt dieser an sich wenig begrüßenswerte staatliche Eingriff die übrigen Teilnehmer der der Proteste zur Selbstorganisation.
Nach monatelanger disziplinierter Teilnahme an einem halben Dutzend Großdemonstrationen für freie und gleiche Wahlen schien sich die Taktik, massenhaft auf die Moskauer Straßen und Plätzen zu gehen, überlebt zu haben. Äußerlich betrachtet erreichten die Massenproteste keines ihrer Ziele. Für den 6. Mai, einen Tag vor der Wiedereinführung Putins ins Präsidentenamt, rief die Opposition zu einem »Marsch der Millionen« auf. Er schien die letzte Möglichkeit für eine Massenbeteiligung zu bieten, tatsächlich markiert er einen womöglich entscheidenden Wendepunkt.

Nicht weniger als 50 000 Menschen nahmen daran teil, etliche waren aus den Regionen angereist. Die Behörden hatten jedoch eine bescheidene Veranstaltung mit lediglich 5 000 Teilnehmenden genehmigt und die Polizei erhielt strenge Order, den Rasen auf dem Bolotnaja Platz frei von Menschen zu halten. Um auf den Platz zu gelangen, muss eine Brücke überquert werden, der ohnehin enge Zugang wurde von der Polizei zusätzlich eingeschränkt. Demonstrantinnen und Demonstranten setzten sich daraufhin zu einer Blockade, es flogen Steine und Rauchbomben. Der anschließende Prügeleinsatz in voller Montur angetretener Omon-Sondereinheiten mit mehreren 100 Festnahmen wurde zum Gegenstand ­öffentlicher Debatten. Bei der Frage der Schuldzuweisung indes bekennen Behörden und liberale Oppositionelle unisono, nicht allein Steinwürfe seien kriminell, selbst Sitzblockaden seien mit einem friedlichen Protest unvereinbar.
Ausdruck fand die Radikalisierung der Proteste in einem mehrtägigen Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. Mehrere Tage lang versuchten Protestierende in mobilen Gruppen vergeblich, einen Platz im Stadtzentrum zu besetzen – im Stile völlig legaler »Volksspaziergänge« ohne Zelte und Plakate. Das einzige erkennbare politische Symbol stellten weiße Bänder dar. Nach etwa 1 000 vorübergehenden Festnahmen gab die Polizei schließlich nach. Einige Polizisten weigerten sich, weitere Personen festzunehmen, die Polizeiwachen waren überfüllt und ihr Personal war sichtbar übermüdet. Nach dem »Tag des Sieges« über den deutschen Faschismus war endlich Ruhe eingekehrt und Hunderte Menschen richteten im Stadtzentrum am Fuß des Denkmals für den kasachischen Dichter Abai Qunanbajuly ein Protestcamp ein, wie es Moskau noch nicht gesehen hatte.
»#OccupyAbay«, so der Twitter-Name, erinnerte die Generation, die die Perestroika erlebt hat, an den Sommer 1988, als sich täglich Menschen im Zentrum versammelten und erstmals außerhalb ihrer vier Wände offen über die politischen Zustände im Land diskutierten. Die durchweg solidarische Atmosphäre rund um »Abay« wurde als ähnlich empfunden, die Besetzerinnen und Besetzer sind jedoch eine sehr viel heterogenere Gruppe. Die Protestierenden kommen aus allen sozialen Schichten, es dominieren junge Leute, aber es beteiligten sich auch etliche Menschen im Rentenalter.

Nachts hielten bis zu 100 Menschen die Stellung, tagsüber versammelten sich bis zu 1 000 oder mehr auf dem Platz. Es war für alles gesorgt: Spenden ermöglichten eine kostenlose Verpflegung für alle, Linke und Anarchisten betrieben ein Informationszentrum einschließlich eines Fundbüros. Verantwortlich für die Müllentsorgung und regelmäßiges Kehren waren rechte Fußballfans, die Security auf dem Platz stellten Kader aus dem rechten Milieu. Die Mehrheit aber bildeten politisch noch Unentschlossene, darunter nicht wenige, die sich erst nach dem Prügeleinsatz der Polizei vom 6. Mai zum Protest entschlossen hatten. Zu einem sonntäglichen Spaziergang Richtung »Occupy Abay« hatten bekannte Literaten wie Boris Akunin und Ludmilla Ulitskaja aufgerufen. Über 10 000 Menschen waren dem Aufruf gefolgt.
Trotz zahlreicher Konzerteinlagen hat »Occupy Abay« mit Woodstock wenig gemein. Protestiert wird nicht gegen gängige Konventionen, vielmehr konzentrieren sich die Forderungen auf die Absetzung Wladimir Putins und Ermittlungen gegen Omon-Angehörige. In einer Resolution heißt es: »Wir, die freien Bürger auf dem Gebiet von ›Occupy Abay‹, erkennen Wladimir Putin als Präsidenten nicht an und halten ihn für einen Usurpator und Verbrecher.«
Diskussionen, Vorlesungen und Seminare widmeten sich allerdings vielen weiteren Themen, Feminismus, Homophobie und die Bildungsreform sind nur einige davon. Über gewaltfreie Formen des Widerstands im Sinne von Mahatma Gandhi oder Martin Luther King wurde ebenso debattiert wie über Streiks oder gar die Wiedereinführung der Sowjets. Initiiert wurde ein Großteil der Debatten von Linken, ebenso wie die allabendliche Vollversammlung. Da die Nutzung von Lautsprecheranlagen oder Megaphonen einer behördlichen Genehmigung bedarf, nutzten die Versammelten das Prinzip des »lebendigen Mikrophons« nach dem Vorbild von »Occupy Wall Street«: Einer spricht, alle anderen sprechen das Gesagte im Chor nach. Anfängliche Irritationen waren schnell beigelegt.
Überhaupt hat es wohl selten einen so gesetzestreuen Protest gegeben. Auf dem Platz herrschte absolutes Alkoholverbot, nach politischen Losungen und Plakaten suchte man vergeblich, selbst die Blumenbeete rund um das Abai-Denkmal waren durch Plastikband abgesperrt. Nach einem Gerichtsbeschluss erfolgte am Dienstag vergangener Woche dennoch die Räumung. Über eine halbe Million Euro soll der Schadenswert von »Occupy Abay« betragen, dabei war der Platz, an dem man sich sonst zum allabendlichen Wodka trifft, wohl selten so aufgeräumt wie zur Zeit seiner Besetzung.

Der Proteststimmung tut dies jedoch bislang keinen Abbruch. Am Donnerstag vergangener Woche wurde ein Platz nahe der Metrostation Barrikadnaja besetzt – ein symbolischer Name in einem Stadtteil Moskaus mit langer revolutionärer Vorgeschichte. Die erneute Ortsverlegung ging mit dem letztlich gescheiterten Versuch einher, mit Unterstützung der oppositionellen Stadtteilabgeordneten das Camp ohne Zelte auf lokaler Ebene als Festival anzumelden. Nach drei Tagen ließ die Polizei den Platz räumen, obwohl keinerlei Gesetzesverstöße vorlagen. Zwischenzeitlich bröckelte auch das friedliche Miteinander rechter und linker Gruppen, das bis dahin breite Zustimmung gefunden hatte. Für politische Neulinge war wohl die bloße Zahl der Protestierenden entscheidend, während sich die erfahreneren Kader pragmatischen Überlegungen beugten. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse gelang es bei der Vollversammlung nicht einmal, das provokative Verhalten der nationalistischen Security zu thematisieren.
Die Moskauer Behörden wollen mit repressiven Maßnahmen die Entstehung eines weiteren »Occupy Abay« verhindern. Der Protest geht indes weiter, doch ist mit schärferen Gegenmaßnahmen zu rechnen. Über die Erhöhung der Strafe für die Verantwortlichen von Demonstrationen auf knapp 40 000 Euro soll demnächst in der Duma diskutiert werden.