Über »Antikraak«, eine neue Form des Wohnens in Amsterdam

Wenn Wohnen zum Job wird

In einem Schloss wohnen für wenig Geld? Das kann man in den Niederlanden, wenn man auf sämtliche Rechte als Mieter verzichtet. »Antikraak« ist eine höchst prekäre Wohnform, die sich in Zeiten der Krise immer mehr verbreitet.

Margriet* hatte zuerst gedacht, die Nachbarskinder, die sie draußen vor ihrer Erdgeschosswohnung wähnte, würden gleich einen Klingelstreich machen. Sie hatte Zahnschmerzen und blieb im Bett liegen. Doch statt des Klingelns hörte sie das Geräusch eines Schlüssels: Jemand öffnete die Wohnungstür. Irritiert warf Margriet sich einen Bademantel über, trat aus dem Schlafzimmer in den Flur und traf auf den Kontrolleur. »Was zum Teufel machen Sie hier?« fragte sie. »Nur das, was Sie unterschrieben haben«, kam es knapp zurück.
Unterschrieben hat Margriet, eine Psychologiestudentin um die 30, eine Überlassungsvereinbarung, die ihr vorübergehend die Nutzung einer 60 Quadratmeter großen Wohnung einräumt. Überraschende Begegnungen im Flur sind seither Teil ihres Alltags. »Jederzeit«, so steht es im Vertrag, kann ein solcher Kontrollbesuch im Haus stattfinden, »um den Zustand der Wohnung zu prüfen.« Ob angekündigt oder nicht, Margriet ist verpflichtet, der Agentur Alvast Zugang zu gewähren. So ist das, wenn man »Antikraak« wohnt. So wird in den Niederlanden ein Zwischennutzungsmodell der besonderen Art genannt. Firmen wie Alvast verdienen ihr Geld damit, Zwischenmieter für Immobilien zu finden, die abgerissen oder verkauft werden sollen. Eigentümer und Versicherungen bewerten die Immobilien weiterhin zu ihrem Buchwert als Leerstand. Die Bezeichnung »Antikraak« verweist darauf, dass die Immobilien so vor Verfall und Vandalismus, aber eben auch vor Hausbesetzern geschützt sind. Die Zwischennutzer, die keine Mieter sind, da es keine Mietverträge gibt, können so relativ günstig wohnen, müssen sich aber auf viele Kompromisse einlassen.

Margriets Fall ist keine Ausnahme. Die von ihr bewohnte Zweizimmerwohnung kostet monatlich 115 Euro zuzüglich Nebenkosten und gehört der Wohnungsbaugesellschaft Rochedale, genau wie die meisten der rotbraunen, viergeschossigen Mietshäuser in diesem schmucklosen Kiez in Amsterdam-Oost. Mit der Unscheinbarkeit soll hier aber bald Schluss sein, denn auch Rochedale renoviert derzeit den Bestand, wertet Wohnungen auf und verkauft sie als Eigentumswohnungen. Auch mit dem Haus, in dem Margriet wohnt, soll das passieren. Die letzten Mieter sind längst ausgezogen, wann der nächste Schritt folgt, ist ungewiss.
Lange war ein solches Objekt dazu prädestiniert, besetzt zu werden. Bis 2010 nämlich wurde »kraken« in den Niederlanden nicht strafrechtlich verfolgt, vorausgesetzt, die besetzte Immobilie stand mindestens ein Jahr lang leer. Zwischen 1965 und 1999 gab es zwischen Maastricht und Groningen rund 50 000 Hausbesetzer. Um ihnen die rechtliche Grundlage zu entziehen, engagierten Eigentümer schon ziemlich bald die ersten »Antikraaker«, die in den leerstehenden Immobilien wohnen durften und die Aufgabe hatten, diese zu bewachen. Das Wohnen wurde so zum Job. Inzwischen hat sich das Verhältnis verkehrt: Heute sind es rund 50 000 Menschen, die antikraak wohnen. Doch während die Antikraaker der ersten Stunde für ihre Wachschutzfunktionen bezahlt wurden, gibt es heute Wartelisten für diese Wohnform, und es sind die bewachenden Bewohner, die Agenturen wie Alvast für ihre Vermittlung bezahlen.
Das niederländische Geschäftsmodell Antikraak wird seit mehreren Jahren auch in andere europäische Länder exportiert. Marktführer ist dabei die Firma Camelot, die in Belgien, Großbritannien, Irland und seit 2010 auch in Frankreich und Deutschland (vor allem in Hamburg und Düsseldorf) tätig ist. »Die ökonomische Lebensdauer von Immobilien wie Schulen oder Bürogebäuden nimmt ab, so dass immer mehr Immobilien auf den Markt kommen, die modernisiert oder abgerissen werden müssen«, erklärt der CEO von Camelot Europa, Joost van Gestel, »und die Zeit dafür ist jetzt, die letzten zehn Jahre, die nächsten zehn Jahre.« Das Wohnen verlagere sich folglich von Wohnungen auf »Nicht-Wohnungen« wie »leerstehende Büros, Schulen, Kirchen und gelegentlich sogar Gefängnisse«, sagt van Gestel.
In den Niederlanden bewerben sich inzwischen rund 50 Agenturen meistbietend um die lukrative Bewirtschaftung von rund 313 000 leerstehenden Wohnungen (Stand 2009) und aktuell gut 7,5 Millionen Quadratmeter ungenutzter Bürofläche.
Auf angespannten Wohnungsmärkten wie in London, Amsterdam und Düsseldorf leisten die Bewohner bereits mietähnliche Zahlungen. So hat sich in den vergangenen Jahren neben Eigentum und Miete ein dritter Wohnungsmarkt etabliert.
Die Leerstandsverwaltung funktioniert dank eines Sanktionssystems, welches Abmahnungen, Bußgeld und schließlich die Kündigung vorsieht. Margriet erfuhr das im Herbst am eigenen Leib. Auf dem Weg zu ihrem neuen Job hatte sie ein paar Klamotten, ihre Sporttasche und den vollen Mülleimer im Raum zurückgelassen. Als sie zurückkam, fand sie eine schriftliche Beschwerde des Kontrolleurs vor, es folgte die Kündigung. Margriet schrieb an die Agentur und erklärte die Situation. Sie bekam einen Brief zurück. »Auch wir finden es furchtbar schade, dass unsere Zusammenarbeit so enden muss. Wir wollen nur ordentliche Bewohner. Auf unseren endlosen Wartelisten stehen Tausende Menschen, die auf eine Wohnung in Amsterdam warten.« Margriet schaltete einen Anwalt ein und konnte bleiben. Auf diese Idee aber kommen die meisten Antikraaker nicht.

In der Regel reicht zur Abschreckung der Katalog an Disziplinierungsmaßnahmen, die in den Überlassungsvereinbarungen enthalten sind: keine Kinder, keine Haustiere, keine Parties, Zusammenwohnen und Urlaub nur nach Absprache. Zudem ist kein direkter Kontakt zum Eigentümer erlaubt, und auch Medien gegenüber dürfen Antikraaker sich nicht über ihre Wohnsituation äußern.
Zur »dritten Klasse« auf dem Wohnungsmarkt gehören in den Niederlanden immer mehr junge, prekär beschäftigte Menschen, Künstler und Studierende. Sie sind die Zielgruppe für Zeitverträge, die vom Eigentümer terminiert und binnen zwei bis vier Wochen beendet werden können. Auch in Frankreich gibt es ein ähnliches Modell zur temporären Nutzung staatlicher Immobilien, dort sind Staatsbedienstete eine weitere Zielgruppe. Dafür hat die Regierung sogar eigens ein Gesetz namens »Lancelot« verabschiedet. In England verlangen die Agenturen ein polizeiliches Führungszeugnis.
Den Firmen geht es um ein Maximum an Flexibilität in der Immobilienwirtschaft, de facto betreiben sie die Abschaffung der Kündigungsfrist. Aus der Perspektive des Eigentümers eine phantastische Idee, aber was passiert, wenn aus der Nische ein Massenphänomen wird?

Merel* ist Mitte 20 und wohnt in Den Bosch. Seit sie ihr Studium abgebrochen hat, lebt sie von Sozialhilfe. Die Wartezeiten der Wohnungsbaugesellschaften betragen rund sechs Jahre, der freie Markt kommt für sie finanziell nicht in Frage, bei ihrer Mutter wollte sie auch nicht wieder einziehen. Antikraak ist für sie die letzte Alternative zur Obdachlosigkeit.
Sie selbst ist mit ihrer Geschichte eine Mischung aus Kraakerin und Antikraakerin. Ihre erste Antikraak-Wohnung hatte sie mit 17, diese lag in einem Bürogebäude. Es war kein Abrissobjekt, war aber zum Verkauf ausgeschrieben, weswegen die Kontrollen zahlreich und penibel waren. Irgendwann hatte Merel die ständigen unangekündigten Besuche satt und lebte fortan in besetzten Häusern. Aber auch das ist vorbei: »Nach dem Verbot hältst du es nicht mehr lange in einem Haus aus«, sagt sie, »und ich will etwas mehr Sicherheit in meinem Leben.« Diese besteht nun in dem Wissen, dass ihr Haus erst im nächsten Jahr abgerissen wird und sie bis dahin einigermaßen Ruhe vor Kontrollbesuchen hat.
Für die Wohnungsbaugesellschaft Brabant Wonen ist Antikraak aus zwei Gründen attraktiv: »Wir halten die Siedlung lebenswert und die Wohnung instand«, sagt Sprecherin Willemien van Rossum. »Dazu bieten wir jüngeren Zielgruppen eine Chance, schneller Wohnraum zu bekommen.« Beide Ansprüche sieht Brabant Wonen durch die Leerstandsverwaltung, mit der sie die Agentur Ad Hoc betraut hat, zur Zufriedenheit erfüllt. Dass Antikraakbüros Hausfriedensbruch vorgeworfen wird, sei ungerechtfertigt: »Wir haben Vereinbarungen getroffen, die akzeptiert wurden und in der Praxis gut funktionieren.«
Die oft betonte Freiheit, Antikraak-Überlassungsvereinbarungen zu unterschreiben, genießen Menschen, die vor der Entscheidung »Friss oder stirb« stehen. Die Verträge beinhalten eine Reihe bizarrer Klauseln, die rechtlich kaum haltbar sind. Demnach hat der Bond Precaire Woonvormen (BPW) über 50 Regeln gefunden, die gegen 20 verschiedene Gesetze verstoßen. Vor allem der Eingriff in die Privatsphäre, der Hausfriedensbruch durch Kontrolleure sowie Bewohner- und Menschenrechte sind betroffen.
BPW-Sprecher Abel Heijkamp sieht das Thema Antikraak in einem größeren Zusammenhang: »Dass Menschen keine vernünftige Unterkunft haben, ist ein politisches Problem. Kommunen entledigen sich ihrer sozialen Verantwortung, indem sie die Bewirtschaftung von Wohnraum an Antikraak-Büros auslagern.« Deshalb fordert er unumwunden, Antikraak abzuschaffen. Ende April rief der BPW landesweit Antikraaker dazu auf, eigenhändig ihre Wohnungsschlösser auszutauschen, um sich ein Minimum an Autonomie zurückzuholen und den Kontrollen einen Riegel vorzuschieben.
Die heutigen Bedingungen kommentiert Abel Heijkamp mit einem Wort: »Wildwest«. In der juristischen Grauzone Antikraak haben Bewohner zwar Pflichten, aber keine Rechte. Antikraaker sind Wachschutz, Hausmeister und Putzpersonal, nur keine Mieter. 2009 veröffentlichte Heijkamp unter dem sarkastischen Titel »Leegstand zonder Zorgen« (Leerstand ohne Sorgen) einen vielbeachteten Dokumentafilm über die Branche. Auf Heijkamps Frage an Geertje van der Rijt, einer Mitarbeiterin der Agentur Ad Hoc: »Sind die Bewohner also Angestellte?«, antwortet sie arglos: »Ja, so kann man das sehen.«
Ausgiebig zu Wort kommt in diesem Film auch der Direktor von Camelot, Remco van Olst, ein untersetzter 40jähriger mit weichen Gesichtszügen und einer sanften Stimme, die urplötzlich schneidend wird, wenn er auf die Praktiken seines Betriebs angesprochen wird. Mit süffisantem Grinsen sagt er dann Sätze wie: »Wir tun nichts Verbotenes. Wenn wir vermieten würden, wäre das nicht legal. Wir vermieten aber überhaupt nichts.«
Diese Darstellung ist durchaus umstritten. Neben einmaligen Gebühren von etwa 300 Euro für Einschreibung, Vermittlung und Verwaltungskosten zahlen Antikraaker der jeweiligen Agentur im Schnitt rund 150 Euro monatlich. Diese weigern sich in der Regel aufzulisten, wofür dieser Betrag erhoben wird – wenn nicht als Miete. Dass es sich genau darum handelt, darauf beriefen sich neun Antikraaker, die 1999 vor Gericht zogen, weil das von ihnen »bewachte« Haus verkauft werden und sie auf der Straße landen sollten. Der Richter sah damals alle Elemente eines Mietverhältnisses gegeben und gab ihnen Recht.
Trotzdem ist die Branche der Leerstandsverwaltung seither stark gewachsen. Denn Antikraak ist für immer mehr Menschen die einzige Möglichkeit, kurzfristig ein Dach über dem Kopf zu finden. Auf ihrer Website bietet Camelot Eigentümern ein »komplettes Dienstleistungspaket, welches auf die Minimierung der Risiken und die Maximierung Ihrer Rendite ausgerichtet ist«. Und verspricht den Nutzern Schlösser, Villen und Immobilien in bester Lage, die für vergleichbar wenig Geld nutzbar sind.

Von solchem Ambiente ist in dem kleinen Haus in Dordrecht, in dem die junge Lehrerin Lizette* auf den monatlichen Besuch des Kontrolleurs wartet, wenig zu spüren. Die Arbeitersiedlung liegt am Rande der Stadt, der Bebauungsplan sieht den Abriss vor. Weil die Häuser nicht mehr den Vermietungskriterien entsprechen, werden sie nicht mehr renoviert, sondern von Camelot verwaltet. Dann kommt »Henk«. Mehr als ein Ärgernis, findet Lizette. »Ich nenne ihn ›Gestapo‹, weil er seine Nase überall reinsteckt, egal ob in Kleiderschränke oder Kühlschrank. Es ist wie eine Razzia.«
Lizette hat ein kleines Kind, es schläft eine Etage höher. Aber auch sie hat einen Vertrag unterschrieben, in dem steht: »keine Kinder«. Die alleinstehende Mutter erinnert sich, wie sie vor einigen Jahren bei Camelot anrief: »›Ich bin schwanger‹, sagte ich. ›Herzlichen Glückwunsch!‹, war die Reaktion ›Wann ziehst du aus?‹«. Lizette hat ihr Haus bis heute nicht verlassen. Noch während der Schwangerschaft drohte Camelot, sie per einstweiliger Verfügung auf die Straße zu setzen. »In der Vergangenheit hat Camelot diverse Male angegeben, dass es nicht zugelassen und wünschenswert sei, mit einem Kind für Camelot zu wohnen«, heißt es darin. Lizette nahm sich einen Anwalt, der die Sache für eine leere Drohung hält.
Hohe Mobilität der Bewohner und die Möglichkeit einer kurzfristigen Räumung der Immobilien, darum geht es bei dieser Wohnform. Denn der Leerstand wird nur nutzbar, wenn die bewachenden Bewohner sämtlichen Wohn- und Mietrechten entsagen. Sie müssen mit dem Risiko des Vertragsbruchs leben und in der Lage sein, sich binnen weniger Wochen ein neues Obdach zu organisieren. Eine bizarre Situation, meint auch Viktor* aus Groningen, der für Carex wohnt und dessen Wohnsituation in einer offiziell nicht bewohnbaren Schule geduldet, aber nicht als »Wohnen« anerkannt wird. Die Anerkennung des Wohnverhältnisses würde ein Mietverhältnis bedeuten, das wäre »zweitklassiges« Wohnen. Viktor spielt drittklassig. Und es sieht so aus, sagt er, als würde das auch noch eine ganze Weile so bleiben.

* Namen von der Redaktion geändert