Die Fußball-EM beginnt: Schalten Sie den Ton aus!

The Europameisterschaft will be televised

… Und das ist auch schon das Problem. Unser Abhärtungs-Service mit einem detaillierten Überblick über alles, was gegen das deutsche Sportreportertum vorliegt.

Das Grauen von Göteborg
EM-Finale 1992, Deutschland gegen Dänemark in Göteborg. Die Zeichen stehen auf Sieg, das machen ARD-Hauptmann Heribert Faßbender und sein Adlatus Kalle Rummenigge an den Mi­krophonen von der ersten Minute an klar. Grenzenloser Hochmut, keinerlei Zweifel – unsympathischer geht es nicht. Beziehungsweise: geht es doch. Als das kleine Dänemark, das für Ju­gos­lawien ins Turnier gerutscht war, in Führung geht, packt Faßbender das Grauen: »Wenn die Dänen hier Europameister werden – nicht auszudenken!« Nach dem 2:0 in der 78. Minute nutzen Heribert und Kalle die verbleibende Zeit, um Legenden zu stricken und sich ihren Ruf als schlechteste Verlierer der Fußballreportergeschichte zu erarbeiten. »Es wird gelacht werden über die Deutschen!« prophezeit Faßbender. »Ein Mal Foul, ein Mal Hand. Beide Tore nicht korrekt, beide Tore nicht korrekt«, empören sich beide immer wieder und kriegen sich ob dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit gar nicht mehr ein. Lobende Worte für den Gewinner? Ehrlich gemeinte Glückwünsche? Fehlanzeige. 20 Jahre ist das nun her, und noch heute schüttelt es mich, wenn ich daran zurückdenke.
Sven Sakowitz
Ton aus, Twitter an
Kurz vor der Europameisterschaft stellt sich dem anspruchsvollen Fußballfan mal wieder die Frage: Was mache ich nur mit den nervigen Fußballkommentatoren im Fernsehen? Schon die ganze Saison über sind sie einem auf den Senkel gegangen. Auf Sat1 zum Beispiel Wolff-Christoph Fuss mit seiner zweifelhaften Methode, altbekannte Phrasen aus der Welt jenseits des Fußballs effekthascherisch für die Kommentierung des Spiels zu verwenden. Kostprobe: »Das ist Bunga-Bunga in Schalkes Hintermannschaft.« Was und warum da gerade etwas in der Abwehr einer Mannschaft nicht funktioniert, erfährt man hingegen eher selten. Immerhin bleibt Fuss einem bei der EM erspart, weil Sat 1 nicht überträgt. Aber auch bei den Öffentlich-Rechtlichen lauern Gestalten wie Béla Réthy oder Steffen Simon.
Leider hat sich die englische Variante mit zwei sich ergänzenden Kommentatoren in Deutschland nie durchgesetzt. Wer das nicht kennt, sollte es mal ausprobieren – im Internet soll man auch in Deutschland englische Sender per Stream bekommen können. Mein Geheimtipp aber für alle, die größere Ansprüche an die Kommentierung eines Fußballspiels haben als blöde Sprüche, redundantes Beschreiben des Offensichtlichen oder das Herbeiquatschen eines Bürgerkriegs, lautet: Ton aus, Twitter an. Unter www.twitter.com/spielvrlagerung (kein Druckfehler, wirklich ohne »e«) bekommt man dort von den Taktikbloggern um Tobias Escher kompetente Kurzanalysen geliefert – live, aber ohne Sprücheklopfen.
André Anchuelo
Tor-Bürokratie vs. Goooooool!
Zum Zeitpunkt der letzten EM vor vier Jahren lebte ich gerade in Santiago de Chile, und dort interessierte sich wirklich niemand für das Turnier. Dankenswerterweise wurde es dennoch im Fernsehen übertragen, und so saß ich fast jeden Morgen in meinem Zimmer und starrte auf den viel zu kleinen Fernseher, den ich mir eigens geliehen hatte. Obwohl das Turnier den Menschen in Chile total egal war, gerieten die Kommentatoren bei wirklich jedem Tor völlig aus dem Häuschen und schrien »gooooooo­ooool!«, als hätte Arturo Vidal Chile gerade zum Weltmeistertitel geschossen. Ein Tor ist in Südamerika eben immer ein Grund zum Feiern. Das bürokratische »Tor«, das deutschen Kommentatoren selbst bei Treffern der DFB-Elf entfährt, erinnert dagegen eher an einen Verwaltungsakt. Deutsche Kommentatoren machen sogar Spitzenspiele zur Einschlafhilfe. Im südamerikanischen Fernsehen hingegen wäre wohl selbst eine Partie zwischen Sandhausen und Wehen-Wiesbaden ein Erlebnis.
Jan Tölva
Der Ticker vom Kicker
»Das wird nun wieder Diskussionen geben.« Rudi Michel, den ich deswegen leiden mag, weil er mir mal bei einer historischen Recherche zu Kaiserslautern sehr geholfen hat, kommentierte so das Wembley-Tor 1966. Wo Michel Recht hatte, hatte er Recht. Wobei das Wort »Diskussion« zu bilateral war. Es gab ja bloß eine Welle der Empörung. Und zwar hierzulande. Und zwar bis heute.
Michel aber hatte die Empörung nicht angefacht, auch das spricht für ihn. Andere, nach ihm, hätten das getan: die Rubenbauers und Faßbenders und vielleicht auch die Hanschs. Aber es gab gegenteilige Strömungen: In den Achtzigern machten auf einmal »Junge Wilde« genannte junge wilde Sportreporter beim ZDF ambitionierten Sportjournalismus. Zitiert man deren Namen, glaubt es vermutlich keiner, dass die mal gut gewesen sein sollen: Rolf Töpper­wien, Günter-Peter Ploog, Jörg Dahlmann, Marcel Reif. Für die Begründung fehlt hier der Platz. Hier muss der Hinweis genügen, dass danach die Faßbender-Generation wieder alles dominiert hat. Bis, ja bis auf einmal Leute wie Marcel Reif beim Pay-TV versuchten, Fußballverstand einzubringen. Ein großer Fortschritt schon deswegen, weil er anders als die Schreihälse nicht die Fernsehbilder kommentiert hat und – noch schlimmer – so getan hat, als würden die Fernsehbilder das Spiel zeigen (das tun sie nicht, sie zeigen die Inszenierung des Spiels durch die Bildregie; das ist ein riesiger Unterschied). Die Idee, dass das ein Fortschritt sei, hinter den kein Rückpass möglich wäre, trog. Mittlerweile sind sie wieder da, die Stammtisch-Schwadroneure, die bloß nach originellen Formulierungen suchen, die Benders und Fuss’ und Simons. Tonabdrehen? Geht auch nicht, denn dann ist man den Bildern ausgeliefert, die ja auch lügen. Geht überhaupt was, wenn man nicht im Stadion sein kann? Ich lese den Ticker auf kicker.de. Da erfahre ich mehr vom Spiel.
Martin Krauß
Parteiisches Geblubber
Das Schlimmste an den deutschen Fußballkommentatoren sind gar nicht mal die haarsträubenden Ausfälle, an die man sich noch Jahrzehnte später erinnert (die übrigens ganz sicher auch bei dieser EM wieder vorkommen werden).
Das Schlimmste ist der ganz normale Reporterbrei zwischen eben diesen Ausfällen. Genauer: das hysterisierte Geschwätz, bei dem jeder Pass, jede Standardsituation, kurz alles, was auf dem Spielfeld passiert, aus der deutschen Perspek­tive gesehen wird. Genannt wird das, was mit Journalismus kaum etwas, dafür um so mehr mit Fan-Sein zu tun hat, dann »emotionaler Kommentar« – wobei die Emotionen eben nur vordergründig mit dem Spielgeschehen zu tun haben, denn wie das bewertet wird, entscheidet der Kommentator nach der Nationalität der auf dem Rasen Agierenden und nicht etwa mit einem Blick ins Regelbuch.
Der Alleinunterhalter am Mikrophon agiert dazu meist völlig ungebremst, Fußballkommentator sein war schließlich in den vergangenen Jahren nur ein Zwischenschritt zu Höherem: Comedian oder gar Talkshowmoderator.
Dass es auch anders geht, zeigt sich in einer ganz anderen Sportart, im American Football. Dort gibt es Kommentatorenteams – pro Spiel sind zwei bis drei Reporter in der Kabine, die sich als Journalisten verstehen und für erfolgreiche Aktionen beider Seiten begeistern. Da dadurch jeder dieser Reporter Zeit hat, Gedanken zu entwickeln, bevor er sie ausspricht, entfällt das assoziativ-parteiische Geblubber, mit dem deutsche Moderatoren so gern die Stille füllen.
Boris Mayer
Europameister der Nerven
Rund um die diesjährige Fußballeuropameisterschaft der Männer droht wieder einmal ein ­Inferno deutscher Fernsehunterhaltung. Mit einem Paket aus sportlicher, organisatorischer, politischer und moralischer Überlegenheit reist die deutsche Journalistendelegation schon vorher als Gewinner der Herzen in zwei Schurkenstaaten an der Peripherie eines Kontinents, dessen Führung Deutschland längst übernommen hat.
Jörg Schönenborn, der diesjährige Kopf des ARD-Teams, machte schon im Vorfeld klar, dass dies die politischste EM werde, die es je gegeben habe. Man darf also eine Mischung aus Jubelberichterstattung vom Hof des Teamchefs, folkloristischem Kitsch und sinnentleertem Gerede von Demokratie und Timoschenko erwarten. Todesmutige Reporter werden gewagte Berichte aus zwei Ländern liefern, in denen zwar nicht alles schlecht ist, auf jeden Fall aber die Autobahn. Das eigentliche Ereignis, ein Fußballturnier, in dem alles andere als der schon fest eingeplante Titel der deutschen Elf eine nationale Katastrophe darstellen würde, wird kommentiert von sachunverständigen, dafür aber um so fester in den Stühlen sitzenden Deutschland-Fanatikern, die ihre journalistische Inkompetenz durch Herabwürdigung des Gegners wettzumachen suchen. Statt sachlicher Sportberichterstattung wird es einmal mehr die geballte mediale Verblödung von Deutschen für Deutsche geben. Und so wird das Land gestärkt aus der Euro 2012 hervorgehen, wie auch schon aus zahlreichen Turnieren, Krisen und Kriegen zuvor.
Gregor Mothes