Erkenntnis unter Folter

Hinterher ist man immer klüger. Dass seine bisherige Meinung falsch war, musste der Brüsseler Lehrer für Geschichte und Politik, Pierre Piccinin, wortwörtlich am eigenen Leib erfahren. Bis vor kurzem war er einer der Lautesten unter denen, die nach dem Ausbruch der Rebellion in Syrien noch eine Lanze für das Regime Bashar al-Assads brachen. Im Juli 2011 fuhr er mit einer offiziellen Erlaubnis nach Syrien, um anschließend zu behaupten, die Massenproteste und Aufstände seien hauptsächlich auf eine islamistische Verschwörung gegen ein »laizistisches Regime« zurückzuführen. In Belgien publizierte Piccinin unter anderem bei Investig’Action, einem Medium des »Journalisten« Michel Collon, seines Zeichens einer der Hauptideologen der »Partei der Arbeit Belgiens«. Collon verlegt Bücher, in denen die Verbrechen Josef Stalins als antikommunistische Lügen hingestellt werden, und er verteidigt sämtliche Regime, die Probleme mit den USA haben – unter ihnen das syrische.
Am 15. Mai dieses Jahres reiste Piccinin zum dritten Mal mit einem offiziellen Visum nach Syrien. Dieses Mal wurde der Oberstufenlehrer zwei Tage später in Tall Kalakh in der Nähe der libanesischen Grenze an einer Straßensperre verhaftet und in einem Auto der »Sicherheitskräfte« in ein Gefängnis in Homs verfrachtet. Dort musste er unerfreuliche Beobachtungen machen: »Anfangs war da eine Reihe von Leuten, die ausgestreckt im Gang lagen. Zu Beginn schlossen sie (die Gefängniswärter) die Türen, aber dann achteten sie gar nicht mehr auf mich. Die Leute kamen tot vom Verhör zurück. Ich dachte, dass sie mich nicht wieder freilassen, nachdem ich das gesehen habe, dass es das Ende für mich sei. … Es war Folter am Fließband.«
In der Nacht zum 19. Mai wird Piccinin zusammengeschlagen, in den folgenden Tagen jedoch nach Damaskus verlegt, am 22. Mai in eine Zelle am Flughafen. Wie er selbst berichtet, hatten seine Leidensgenossen im Gefängnis von Homs zuvor Geld für ihn gesammelt, um bei einem korrupten Wärter ein Telefon zu besorgen, wodurch er die belgische Botschaft informieren konnte. Das hat ihn möglicherweise gerettet. Nach seiner Rückkehr erzählt Piccinin dem belgischen Fernsehsender RTBF und der Zeitung La Libre von seinen Beobachtungen. »Ich glaube, dass ich mich geirrt habe. Man muss, vor allem in einem Fall wie diesem, seine Fehler anerkennen können«, räumt er dort ein.