Sozialpsychologie des deutschen Fußballpatriotismus

Pech im Job, Glück im Spiel

Es geht schon wieder los. Zum Beginn der Fußball-EM 2012 wird ein ganzes Land in Schwarz-Rot-Gold gewandet. Wie lässt sich das sozialpsychologisch erklären?

Vor über 200 Jahren bemerkte der Philosoph Arthur Schopenhauer: »Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein. Hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen«.
Dieses Zitat ist denjenigen, die sich nun wieder schwarz-rot-gold kostümiert auf Deutschlands Straßen zum Kollektivjubel einfinden, sicher nicht bekannt. Der neue deutsche Fußballpatriotismus lebt von der Ideologie des naturalisierten Nationalismus. Nationalstolz wird zum Naturgesetz ernannt. In der Rede vom »unverkrampften« oder »unverklemmten« Patriotismus erscheint er als eine Art Naturtrieb, der sich aus Gründen der Psychohygiene früher oder später entladen muss. So erklärten Deutschlandfans, die ich zwischen 2006 und 2010 auf Fanmeilen nach den Motiven für ihre schwarz-rot-goldene Bekleidung fragte: »Wir leben in Deutschland. Da ist man stolz auf sein Land«. Der Begriff Stolz wurde von ihnen fast inflationär gebraucht. Sie waren stolz auf die Mannschaft, stolz auf Deutschland, stolz auf die einzelnen Spieler, stolz auf die deutsche Fähigkeit zu feiern, stolz auf den friedlichen Verlauf der Weltmeisterschaft.
Wenn Stolz nicht auf eigenen Leistungen, sondern auf der Identifikation mit den Erfolgen einer Gruppe beruht, kann man fragen, ob das Bedürfnis, stolz auf die Leistungen der eigenen Gruppe zu sein, nicht mit Selbstwertdefiziten zusammenhängt. Genau in diesem Sinne hat Theodor W. Adorno den Begriff des kollektiven Narzissmus gebraucht. Ähnlich wie von Schopenhauer wird von Adorno der Stolz auf die Nation mit Mängeln des Einzelnen in Verbindung gebracht. Für Adorno ist aber im Gegensatz zu Schopenhauer der Mangel in den gesellschaft­lichen Verhältnissen begründet, die den Menschen eine psychische Schädigung zufügen. Die Abhängigkeit von ökonomischen Zwängen, denen sich die Mehrheit der Arbeitenden aus Gründen des wirtschaftlichen Überlebens anpassen muss, lässt sie zum Ausgleich für ihre gekränkte Selbstachtung zum Opium des Kollektivstolzes greifen. Adorno schreibt, dass den Menschen solche Versagungen auferlegt seien, ihre Selbstliebe so enttäuscht werde und sie so zur Ohnmacht »verdammt« sind, dass sie zu kollektivem Narzissmus quasi »verurteilt« seien. So wird die Verletzung des Selbstwertgefühls, die Kränkungen, die die Subjekte durch die gesellschaftlichen Strukturen fast täglich erfahren, auf der psychischen Ebene dadurch »repariert«, dass sie die vorenthaltene Anerkennung durch die Identifikation mit der Nation zurückerhalten. Nach Adorno »zahlt« der kollektive Narzissmus ihnen etwas von der Selbstachtung »zurück«, die ihnen das Kollektiv, mit dem sie sich in einer Art Wahn identifizieren, als Einzelnen vorenthält.
In der wirtschaftlich prosperierenden jungen Bundesrepublik, in der Adornos von der Erfahrung des Faschismus geprägte Überlegungen zum kollektiven Narzissmus entstanden, hatten Vollbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat die Abhängigkeit von den Kräften der kapitalistischen Ökonomie eine Zeit lang gelockert. Demgegenüber hat sich der Zwang, sich den ökonomischen Gegebenheiten um des eigenen Überlebens willen anzupassen, in Zeiten von Massenarbeits­losigkeit, Hartz IV und der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses wesentlich verschärft. Damit ist auch die Gefahr narzisstischer Schädigung gestiegen. In der Konkurrenz um die knappen, sozialversicherungspflichtigen, unbefristeten, gut bezahlten Arbeitsplätze müssen die Einzelnen immer höhere Anpassungsleistungen erbringen und nehmen dafür stärkere und häufigere Verletzungen ihres Selbstwertgefühls in Kauf. Wem die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust im Nacken sitzt, der harrt länger in schwer erträglichen Arbeitssituationen aus. Die Wut über Vorgesetzte oder Kolleginnen und Kollegen wird notfalls heruntergeschluckt, Maßregelungen und Demütigungen werden ohnmächtig ertragen.
Dabei sind in der kapitalistischen Ökonomie nicht nur Erwerbslose und abhängig Beschäftigte narzisstischen Schädigungen ausgesetzt. Auch selbständig Tätige sind nicht vor einem Kreuzweg des Selbstbewusstseins gefeit. Wo die Kaufkraft aufgrund eingefrorener Reallöhne zurückgeht, die Fiskalkrise öffentliche Haushalte bei Auftragsvergaben zögern lässt, müssen sie wie nie zuvor um Kunden buhlen. Auch hier muss die abfällige Bemerkung überhört, herablassendes Verhalten ignoriert, die Arroganz der Geldgeber ertragen werden. Stets lauert die Angst vor der Insolvenz im Hintergrund.
Selbst in der »schönen neuen Arbeitswelt«, die die Arbeitenden im Gegensatz zur tayloristischen Produktionsweise nicht mehr als Befehlsempfänger behandelt, sondern die Autonomie der Individuen und die ihnen zugestandenen Spielräume betont, sind die Einzelnen permanenten Beschädigungen ihres Selbstwertgefühls ausgesetzt. Das System des Qualitätsmanagements, ohne dessen Gütesiegel heute keine Zulieferfirma, kein Pflegedienst und kein Krankenhaus mehr auskommt, hält die Individuen, wie der Soziologe Ulrich Bröckling nachweist, im Zustand »fortwährender Kritisierbarkeit«. Es verlangt permanente Leistungsmessungen und Fehlerevaluierungen, wobei die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einem kontinuierlichen »Feedback«-Zwang unterworfen sind. So nötigt es die Subjekte zur Anstrengung der dauernden Selbstoptimierung, die sie, da alles noch besser, schneller und effizienter gemacht werden kann, ihr Ungenügen nur noch stärker spüren lässt. So produziert »das Regime des unternehmerischen Selbst« (Bröckling) zugleich sein Gegenteil: das antriebslose Individuum, das den Flexibilisierungszwängen mit mentaler wie emotionaler Erstarrung begegnet und von Selbstzweifeln überwältigt wird.
Die hier von Bröckling als »Negativfolie« des unternehmerischen Selbst beschriebene Depressivität scheint immer mehr die Gesellschaften des neoliberalen Kapitalismus zu prägen. Depressive Störungen häufen sich in den Industriestaaten der ersten Welt. Besonders bei jungen Berufstätigen, Studierenden und Schülerinnen und Schülern haben sie zugenommen. In Befragungen werden sie von den Betroffenen mit einem stark angestiegenen Leistungsdruck in Zusammenhang gebracht. Dabei macht Rolf Haubl, der Leiter des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts, einen Formenwandel bei den depressiven Erkrankungen aus. Seiner Einschätzung nach sind vor allem narzisstische Depressionen auf dem Vormarsch. Bei diesen Depressionen dreht sich alles um die eigene Leistungsfähigkeit. Standen früher Schuldgefühle im Zusammenhang mit dem tatsächlichen oder vermeintlichen Verstoß gegen sexuelle oder religiöse Normen bei der Genese der Krankheit im Vordergrund, wird die Depression nun durch das Gefühl des persönlichen Versagens ausgelöst. In einer Gesellschaft, in der, wie Haubl feststellt, die Maxime gilt »Tue, was immer Du willst, aber sei damit gesellschaftlich erfolgreich!«, empfinden die Subjekte Scham, wenn sie den Anforderungen nicht genügen. Da sie das Ideal der permanenten Leistungsfähigkeit verinnerlicht haben, ist ihr Versagen für sie ein Makel, der ihren Selbstwert schmälert. Dabei sind die Betroffenen aufgrund von Enttäuschungen ängstlich und wütend, kehren die Wut aus Furcht vor dem Verlust sozialer Anerkennung aber gegen sich selbst. Die Enttäuschung resultiert nach Haubl »daraus, dass das Real-Selbst dieser Menschen trotz aller Anstrengungen hinter ihrem Ideal-Selbst zurückbleibt«.
Genau diese Diskrepanz zwischen dem Ideal-Selbst und dem durch die gesellschaftlichen Umstände ohnmächtigen Real-Selbst hat Adorno als Ursprung des kollektiven Narzissmus beschrieben. Adornos Diagnose aus der Nachkriegszeit erhält daher anlässlich der Fußballevents eine unerwartete Aktualität: »Die Ich-Schwäche heute, die gar nicht nur psychologisch ist, sondern in der der seelische Mechanismus die reale Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der gesellschaftlichen Apparatur registriert, wäre einem unerträglichen Maß an narzisstischen Kränkungen ausgesetzt, wenn sie nicht, durch die Identifikation mit der Macht und Herrlichkeit des Kollektivs, sich einen Ersatz suchen würde.«
Der Wunsch nach einer Identifikation mit der Größe des Kollektivs scheint dabei quer durch alle Schichten zu gehen. Wenn die narzisstische Kränkung durch die gesellschaftliche Struktur endemisch wird, kennt das Bedürfnis nach Kollektivstolz keinen Halt. So bieten die im Zweijahresrhythmus ausgetragenen internationalen Fußballmeisterschaften den in der Ideologie des Marktradikalismus befangenen Subjekten eine willkommene Gelegenheit, ihren Versagensängsten zu entfliehen, indem sie an den Erfolgen ihrer Nationalmannschaften teilhaben. Wo sie glaubten, an sich selbst verzweifeln zu müssen, da es keine Leistung gibt, deren Anforderungen sie als Einzelne genügen, ist der Stolz auf das Kollektiv als Kompensation möglich und erlaubt. Die kompensatorische Funktion der Identifikation mit der Wir-Gruppe, die Adorno anführt, erklärt die hohe emotionale Aufladung der Fußballevents. Offensichtlich werden dabei die alltäglichen psychischen Befindlichkeiten in ihr Gegenteil verkehrt. Scham verwandelt sich in Stolz, die Depression erfährt eine Metamorphose und taucht im Massenbad als Euphorie wieder auf.
Der Funktionsmechanismus dieser Umwandlung lässt sich mit Hilfe der Theorie der sozialen Identität nach Henri Tajfel erklären. Die Grundannahme ist dabei, dass es für Menschen wichtig ist, ein so positives Selbstbild wie nur irgend möglich zu haben. Das Selbstbild einer Person wird dabei als Synthese aus der personalen Identität, die die persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, und der sozialen Identität, die die Gruppenzugehörigkeiten einer Person umfasst, vorgestellt. Selbstbild und Selbstwert sind positiv korreliert: Je positiver das Selbstbild in allen seinen Aspekten, desto größer ist auch das Selbstwertgefühl eines Menschen. Dabei können Individuen in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Aspekte ihrer Identität betonen. Sind Aspekte der personalen Identität, zum Beispiel durch Minderwertigkeitsgefühle oder Selbstzweifel, negativ besetzt, kann eine positive Bewertung der eigenen Person über die Fokussierung auf ihre Gruppenzugehörigkeiten erfolgen. Um zu einer solchen positiven Bewertung zu kommen, werden Vergleiche angestellt, die den Unterschied zu anderen sozialen Gruppen betonen und zu einer Aufwertung der Eigengruppe und einer Abwertung von Fremdgruppen führen.
So lässt sich auch die emotionale Attraktivität des Fußballs durch sein »Selbstwertsteigerungspotential«, also die ihm innewohnende Möglichkeit, durch soziale Vergleiche zwischen Gruppen den Selbstwert zu erhöhen, erklären: Schon das pure Setting eines Fußballspiels macht eine klare Zuordnung zu Fremd- und Eigengruppen leicht. Sein Wettbewerbscharakter ist in jeder Sekunde von sozialer Distinktion geprägt. Der Vergleich zwischen Fremd- und Eigengruppe ist seine Voraussetzung: Dabei gehört die Aufwertung der Eigengruppe, also der eigenen Mannschaft, und die Abwertung der Fremdgruppe, also des Gegners, zu den sozialen Gepflogenheiten des Spiels, die von allen geteilt werden. Gewinnt die Mannschaft, für die man spielt oder mit der man sich identifiziert, führt dies zu einer Steigerung des Selbstwertgefühls. Auch in weniger eindeutigen Fällen ist das Spiel während der gesamten Spielzeit von der Hoffnung auf den Sieg der Eigengruppe durchdrungen. Selbst wenn die favorisierte Mannschaft verliert, gibt es Lösungsmöglichkeiten, um doch noch zu einer positiven Identität mit entsprechenden Selbstwerteffekten zu gelangen: So kann die Außengruppe durch eine verzerrte Wahrnehmung abgewertet werden. Im Fußball geschieht dies zum Beispiel durch die Behauptung, der Sieg des Gegners sei nur durch üble Fouls der gegnerischen Mannschaft oder einen ungerechten Schiedsrichter zustande gekommen und damit eigentlich unverdient.
Nach dem gleichen Muster funktioniert auch die Konstruktion nationaler Identität. Sie basiert ebenfalls auf der Abgrenzung zwischen Innen und Außen, Fremd- und Eigengruppe. Bei Länderspielen wird sie über die Identifikation mit der eigenen Mannschaft vergegenwärtigt und aktiviert. Der Stolz auf die eigene Nation beruht dabei genau wie der Stolz auf die Mannschaft auf dem Bedürfnis nach einer positiven Bewertung der eigenen Gruppe, das in Vergleichssituationen zwischen Gruppen entsteht. Bei Fußballmeisterschaften potenzieren sich so die Selbstwertsteigerung, die auf der Identifikation mit der Fußballmannschaft und diejenige, die auf der Identifikation mit der Nation basiert. Mit Adorno gesprochen: Die gekränkte Selbstachtung der Subjekte, die aus den gesellschaftlichen Strukturen resultiert, wird gleich doppelt, sowohl durch die Identifikation mit der Fußballmannschaft, als auch durch die Identifikation mit der Nation, kompensiert. Dabei verstärken sich der kollektive Narzissmus durch die Identifikation mit der Mannschaft und derjenige, der sich aus der Identifikation mit der Nation ergibt, gegenseitig.
Daraus erklärt sich zu einem nicht geringen Teil die hohe Anziehungskraft, die Fußballmeisterschaften genießen, ganz gleich, ob sich die Zuschauerinnen und Zuschauer normalerweise für Fußball interessieren oder nicht.

Von der Autorin ist soeben das Buch »Ganz entspannt in Schwarz-Rot-Gold? Der Neue deutsche Fußballpatriotismus aus sozialpsychologischer Perspektive« beim LIT Verlag, Berlin, Wien 2012, 366 Seiten, 34,90 Euro, erschienen.