Haben selbstverwaltete Fabriken in Argentinien besucht

Befreite Fabriken

Nach dem Staatsbankrott 2001 wurden in Argentinien zahlreiche Betriebe von den Arbeiterinnen und Arbeitern übernommen. Viele werden immer noch selbstverwaltet. Die Arbeitsbedingungen unterscheiden sich dort aber kaum von denen in privatwirtschaftlichen Betrieben.

Mitten im Zentrum von Buenos Aires ragt ein Relikt aus der Zeit der Diktatur in den Himmel: 20 Stockwerke, 200 Zimmer, Platz für 500 Gäste. Das Hotel Bauen wurde 1978 mit finanzieller Unterstützung der Militärjunta zur Fußballweltmeisterschaft erbaut. In der Lobby des Hotels laufen Gäste und Hotelangestellte in einem großen Gewusel durcheinander. Zwischen Touristen mit Stadtplänen und Koffer schleppenden Concièrges sieht man T-Shirts mit der Aufschrift: »Bauen es de los trabajadores« (das Bauen gehört den Arbeitern). Das ist keine Forderung, sondern Realität, denn das Hotel Bauen wird seit fast zehn Jahren von den ehemaligen Angestellten verwaltet.
Einer von ihnen ist Marcelo Duarte. »Der 28. Dezember 2001 war der schlimmste Tag meines Lebens«, sagt er. Damals wurde das Hotel im Zuge des argentinischen Staatsbankrotts von einem Tag auf den anderen geschlossen, alle noch verbliebenen 50 Angestellten auf die Straße gesetzt. Auch Marcelo, der seit mehr als 20 Jahren dort gearbeitet hatte. Eineinhalb Jahre später stand das Hotel immer noch leer und so kamen Marcelo und seine Kolleginnen und Kollegen, die noch immer arbeitslos waren, zurück. Sie brachen das Vorhängeschloss im Keller auf und betraten die vertrauten Räume. »Als wir wiederkamen, war nichts mehr da«, erzählt Marcelo, der später der erste Präsident der Kooperative Bauen wurde. »Es gab nichts mehr, womit wir weiter arbeiten konnten: keine Bettwäsche, keine Fernseher, keine Telefonleitungen.« Trotzdem beschlossen sie, das Hotel wiederzueröffnen: »Wir sahen keine andere Möglichkeit, unseren Lebensunterhalt zu verdienen.« Die Krise hatte die Hälfte der argentinischen Bevölkerung unter die Armutsgrenze rutschen lassen.

Das Bauen ist mit seinen heute 162 Genossen kein Einzelfall in Argentinien. Rund 150 Unternehmen, die von ihren Besitzern aufgegeben worden waren, wurden nach dem Bankrott im Jahr 2001 von den Arbeiterinnen und Arbeitern besetzt und wieder in Betrieb genommen: ohne Chef und ohne Vorgesetzte.
Im Zuge der Finanzkrise, die 2008 begonnen hat, sind 20 weitere Fabriken hinzugekommen. Heute gibt es landesweit ungefähr 200 solcher empresas recuperadas (wieder in Betrieb genommenen Unternehmen), die mehr als 10 000 Menschen Arbeit geben.
In der ehemaligen Textilfabrik Brukman, die heute »Cooperativa de Trabajo 18 de Diciembre« heißt, näht Gladis Sigeroa an einer Uniform für die staatliche Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas. Im dritten Stock, wo rund 50 Arbeitsplätze mit veralteten Nähmaschinen stehen, arbeiten nach Feierabend noch vier Näherinnen. Was hat sich geändert, seit es keinen Chef mehr gibt? Gladis schaut zu ihren Kolleginnen hinüber und sagt dann: »Die Atmosphäre ist auf jeden Fall eine andere. Heute kennt man seine Kollegen, man arbeitet hier wie in einer großen Familie.«
Davon abgesehen haben sich die Arbeitsbedingungen nicht grundlegend geändert. »Wie alle anderen empresas recuperadas muss auch die ehemalige Brukman auf dem Markt konkurrieren und ist darauf angewiesen, Profit zu erwirtschaften«, sagt Alfredo, der einige Monate nach der Besetzung am 18. Dezember 2001 dort angefangen hat. »Nach wie vor arbeiten wir unter prekären Bedingungen. Es ist sogar schlimmer geworden. Beispielweise ist es viel schwieriger für uns als für Privatunternehmen, eine Krankenversicherung zu bekommen. Wenn eine Kollegin krank oder schwanger wird, müssen wir zusammenlegen.«
Ein Pizzabote kommt aus dem Lastenaufzug und bringt Gladis und ihren Kolleginnen zum Ende der Überstunden eine große Pizza Mozzarella. Auch Alfredo bekommt ein Stück ab. »Zwar ist der Staat der wichtigste Auftraggeber, trotzdem ist es ein ständiger Kampf, Aufträge oder staatliche Unterstützung zu bekommen«, sagt er, auf dem Rand eines Schneidertisches sitzend. Dem Modell der Selbstverwaltung ohne staatlichen Schutz, der die empresas recuperadas vor dem kapitalistischen Markt beschützt, steht Alfredo aus eigener Erfahrung skeptisch gegenüber: »Ohne einen wirklich aktiven Staat ist die Selbstverwaltung nicht machbar. Nur Kooperativen mit hierarchischer Struktur und einem starken Verwaltungsrat können sich auf dem Markt behaupten.«

Alfredo spricht sich daher für die Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle aus: »Der Staat soll Kapital zur Verfügung stellen und den wieder in Betrieb genommenen Unternehmen ihre Produkte abnehmen, während die Produktion selbst von den Arbeitern organisiert wird.«
Alfredos Ansichten teilt nicht jeder. Tatsächlich sind diejenigen, die eine Verstaatlichung unter Kontrolle der Arbeiter befürworten, in der Minderheit. Mittlerweile hat sich das Modell der marktwirtschaftlich funktionierenden Kooperativen durchgesetzt. Die bekannte Keramikfabrik Zanón (heute FaSinPat), das Hotel Bauen oder die Ex-Brukman haben sich alle irgendwann für die legale Form einer Kooperative entschieden, um geschäftsfähig zu werden und unter den gegebenen Bedingungen überleben zu können. Nun wirtschaften sie – abgesehen von ihren horizontalen Strukturen – im Grunde wie gewöhnliche Unternehmen.
Für dieses Modell wirbt etwa die einflussreiche Nationale Bewegung wieder in Betrieb genommener Fabriken (MNFRT). Für die Organisation steht die Erhaltung von Arbeitsplätzen im Vordergrund, die Unternehmen sieht sie aber nicht als Vorbilder für weitergehende soziale Veränderungen. »Viele Besetzungen begannen mit der Idee des absolut gleichen Einkommens, durchgesetzt hat sie sich dieses Modell fast nirgends«, berichtet Marcelo. »Genossen, die seit Beginn der Besetzung dabei sind und jahrelang auf ein geregeltes Einkommen verzichten mussten, sehen häufig nicht ein, dass die neuen Mitarbeiter nun in gleichem Maße von ihren Errungenschaften profitieren.« Andere seien der Meinung, dass die Gewinnverteilung nach dem Kriterium der Bedürftigkeit geregelt werden sollte. »Im Bauen gilt derzeit die Regelung, dass diejenigen, die schon länger dabei sind, etwas mehr bekommen, genau wie diejenigen, die mehr Verantwortung tragen – etwa der Präsident der Kooperative oder die Verantwortlichen für die einzelnen Sektoren«, beschreibt Marcelo die interne Regelung. Dabei sind die Unterschiede minimal: Das höchste Einkommen darf maximal 20 Prozent höher sein als das niedrigste. Doch auch diese Regelung findet nicht bei allen Zustimmung: »Die Diskussion um die Verteilung der Gewinne flammt immer mal wieder auf, und dann gibt es heiße Diskussionen in den Versammlungen.«

In den ungepflasterten Gassen des Armenviertels »Villa 31« reißen Bauarbeiter die Straße auf und verlegen Rohre. Sie gehören zur »Cooperativa Cristo Obrero«, die ebenfalls im Zuge der Krise 2001 gegründet wurde. »Weil wir keine Arbeit mehr finden konnten, haben wir uns damals zu zehnt zusammen getan, um unsere Kooperative zu gründen«, erzählt Adolfo, gegen den Baulärm anredend. Heute hat die Kooperative 20 Mitglieder und – je nach Projekt – bis zu 200 Angestellte, um vor allem städtische Bauaufträge zu bewältigen. Obwohl die Kooperative keineswegs horizontal organisiert ist, wird sie von der Regierung genauso behandelt wie eine empresa recuperada. Die Politik fördert beide als Mittel zur Schaffung von Arbeitsplätzen und gegen Schwarzarbeit – genau wie normale Unternehmen auch – mit punktuellen Maßnahmen wie Lohnsubventionen und Mikrokrediten. Insgesamt ist die Zahl der Kooperativen in den vergangenen zehn Jahren von 3 100 auf 15 000 gestiegen
»Für mich haben diese Kooperativen wenig mit der Idee der Selbstverwaltung zu tun«, sagt Fabián. Er sitzt im kleinen Büro der Argentinischen Föderation der selbstverwalteten Arbeitskooperativen (Facta) im dritten Stock des Hotel Bauen. Überall an den Wänden hängen alte Plakate gegen die 2001 drohende Räumung, Ankündigungen von Soli-Festivals, Werbung für die Föderation. Fabián ärgert es, dass die empresas recuperadas mit gewöhnlichen Kooperativen gleichgesetzt werden. Für ihn bedeutet die Übernahme der Fabriken viel mehr als nur die Erhaltung von Arbeitsplätzen. Allerdings, das sagt er auch, sei die Idee der horizontalen Selbstverwaltung nicht so leicht umzusetzen: »Nicht allen 160 Mitarbeitern des Bauen ist klar, wo sie stehen. Sie wissen theoretisch, dass sie in einer selbstverwalteten Kooperative arbeiten, aber das sind bloß abstrakte Begriffe.«
Zwar werden im Hotel Bauen mindestens einmal in der Woche Versammlungen abgehalten und mehr als 70 Prozent der anwesenden Mitglieder müssen den Beschlüssen zustimmen. Außerdem sind alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Mitglieder der Kooperative und der gewählte Verwaltungsrat ist lediglich für die Umsetzung der gemeinsamen Entscheidungen zuständig. Doch die bloße Veränderung der institutionellen Strukturen reiche nicht, meint Fabián: »Der Patrón wird reproduziert, das ist die Gefahr.«
Den Genossen fehle es häufig an Verantwortungsbewusstsein. Er verweist auf das Schwimmbecken, das seit Jahren nicht mehr in Betrieb ist, auf Säle, die Wochen nach einer Veranstaltung noch immer nicht geputzt werden, weil sich niemand verantwortlich fühle, auf die Vetternwirtschaft, die sich eingeschlichen habe. Im Gegensatz zu Caro und dem MNFRT gehe es ihm um einen umfassenderen Wandel: »Ich will weder vom Staat noch vom Markt abhängig sein. Es geht um die Überwindung der Ware und des kapitalistischen Marktes«, sagt er, »diese Probleme werden nicht gelöst, solange sich das Bewusstsein nicht ändert.«

Dass sich Hierarchien in den empresas recuperadas neu reproduzieren, bestätigt auch der Sozialwissenschaftler und Buchautor Juan Pablo Hudson, der jahrelang vor Ort in den Fabriken forschte. Er sitzt im Café im Erdgeschoss des Hotels, das nicht umsonst »Utopia« heißt, obwohl dies vermutlich nur den wenigsten Gästen bewusst ist, während sie ihren Kaffee schlürfen und sich lautstark unterhalten. »Immer häufiger stellen diese Unternehmen Arbeiter mit Zeitverträgen an, ohne sie später zu stimmberechtigten Mitgliedern der Kooperative zu machen«, kritisiert Hudson, der sich von der Geräuschkulisse nicht ablenken lässt. Das liege auch daran, dass die jüngere Generation eine laxere Einstellung zur Arbeit habe: »Während die Älteren eine fast mythische Auffassung von der Arbeit haben, sind die jüngeren sozusagen Arbeits­atheisten.« Konkret äußere sich dies darin, dass die Neuen häufig unzuverlässig seien, spät zur Arbeit kämen und wenig Interesse für die Versammlungen zeigten. Für sie sei auch die Arbeit in den Kooperativen nur ein Mittel zum Zweck: »Ihnen geht es eher um das Geld, als um die Arbeit an sich. Vielleicht waren die Arbeiter von 2001, die oft noch jahrzehntelang im selben Betrieb gearbeitet haben, die letzte Generation, die eine solche Welle von Besetzungen anstoßen konnte«, resümiert Hudson.
Neben den Problemen der Selbstverwaltung kommt hinzu, dass im vergangenen Jahrzehnt alle Versuche, die wieder in Betrieb genommenen Unternehmen untereinander zu vernetzen, damit sie gemeinsame Kämpfe führen können, gescheitert sind. »Die MNFRT ist zwar einflussreich und verfügt über gute Kontakte zur Regierung, sie wird wegen ihres wirtschaftsnahen Kurses aber auch von vielen Aktivisten kritisiert«, sagt Hudson. Die Facta wiederum sei mittlerweile aufgrund interner Konflikte stark geschwächt. Die empresas recuperadas sind ohnehin alles andere als eine einheitliche Bewegung. Der Rückhalt in der Gesellschaft sei zwar da, aber nicht so stark wie zu Beginn: »Jetzt sind wir wieder in einer Phase der wirtschaftlichen Konsolidierung. Da nimmt der Zuspruch zu alternativen Wirtschaftsmodellen oder überhaupt alternativen Denkansätzen ab«, sagt Hudson.
Draußen vor dem Hotel erledigen die Menschen ihre Einkäufe, eine Gruppe Demonstrierende zieht vorbei. Alltag in Buenos Aires. In der Lobby studiert eine Touristin aufmerksam die Gedenktafel, die an die Besetzung des Bauen vor fast zehn Jahren erinnert. Immerhin: Die empresas recuperadas sind immer noch da. Mit allen Problemen der Selbstverwaltung funktionieren sie weiterhin ohne Chef. »Bisher ist das die längste Erfahrung selbstverwalteter Unternehmen hier in Argentinien, wenn nicht weltweit«, sagt Fabián. Und es besteht eine zynische Hoffnung: Die nächste Krise ist bereits da.