Abdruck aus: »Flaatsch. Ich war mal Prominent«

Es geht auch ohne Butter

Episoden aus der Medienkarriere eines Moppelchens.

Warum ich dieses Buch geschrieben habe? Aus purer Geldnot. Und in der Hoffnung aufs Comeback ins wärmende Rampenlicht. Da ich irgendwann mehr Freizeit hatte, als mir lieb war, und nur noch mein Dispokredit was von mir wollte, setzte ich mich hin und schrieb meine Geschichte auf. – Schön, dass Sie sich dafür interessieren.
Dieses Buch ist meine letzte Chance.

Der Wendepunkt in meinem Leben kam in meinem 40. Lebensjahr. Bis dahin war ich relativ erfolgreich als Schauspieler und Moderator, spielte Hauptrollen und präsentierte – im Wechsel mit der blonden Kollegin Lena Tischler – eine Infotainment-Show beim Sender A.I.R.
Drei Jahre flimmerte ich mit der »On-Air-Show« (Untertitel »Da liegt was in der Luft«) alle zwei Wochen über die Bildschirme. In der Branche wurde mein Name hoch gehandelt, es gab Abwerbeversuche von der Konkurrenz, die nicht nur meiner Eitelkeit schmeichelten, sondern auch mein Ansehen im Sender positiv beeinflussten. Rainer Knetke, mein Produzent, sagte mir unter vier Augen fest zu, meine Gage werde sich zur nächsten Saison erheblich steigern. Außerdem überlege man im Sender, die Sendung zukünftig nur noch von einem Moderator präsentieren zu lassen. Knetke ließ keinen Zweifel daran, wer das sein würde, obwohl Lenas Einschaltquoten nicht schlechter waren als meine. Ich mochte sie, irgendwie tat sie mir sogar leid, aber diese Branche ist nun mal ein Haifischbecken …
Knetke beruhigte mich. Lena würde uns als Außenmoderatorin erhalten bleiben und eine tägliche Nachmittags-Talkshow bei A.I.R. bekommen. So hielt sich mein schlechtes Gewissen in Grenzen. Finanziell würde sie womöglich sogar besser dastehen.
Bei allen wichtigen Fernsehpreisverleihungen stand ich auf der Gästeliste und war mit meiner Freundin Suzanne beliebtes Objekt der Fotografen.
Suzanne war meine Partnerin im »Film-Movie der Woche«: »Fahrstuhl zur Hölle«. Meine Rolle – welch ausgefallene Besetzungsidee! – war die eines Show-Moderators, der brutale Drohbriefe eines Stalkers erhalten hatte. Suzanne spielte eine Polizistin, die für seine Sicherheit garantieren sollte. Beim ersten Zusammentreffen der beiden kommt es gleich zum Streit. Er meint, eine Frau könne ihn kaum schützen, und gerade als sie die Aufgabe hinschmeißen will, sitzen die beiden schon in der Falle. Der krankhaft eifersüchtige Fan des Moderators lauert ihnen im Sender auf, eine wilde Verfolgungsjagd beginnt und endet in einem Fahrstuhlschacht. Nach zahllosen Schießer- und Klettereien wird der zum Mord entschlossene Fan(-atiker) vom herabstürzenden Fahrstuhl zermalmt, während sich Polizistin und Moderator in einer engen Nische des Schachtes küssend in den Armen liegen.
Die Produzenten dieses phänomenalen Schmachtfetzens waren mehr als glücklich, als wir uns auch im richtigen Leben fanden, perfekte Publicity.
Mir war Suzanne schon beim gemeinsamen Casting aufgefallen. Sie hatte etwas von einer Katze; den geschmeidigen Gang und etwas schräg stehende, graugrüne Augen. Ihr Haar stand widerspenstig, ob ihrer vielen Wirbel, in verschiedene Richtungen ab und hatte damals einen Stich ins Rotbraune. Man wusste bei ihr nie zu sagen, ob ihr Haar ungekämmt oder mit viel Mühe kunstvoll so gelegt war.
Bemerkenswert war, wie sie in Sekundenbruchteilen vom Schnurren ins Fauchen wechseln konnte und umgekehrt. Zuerst dachte ich, diese Stimmungsumschwünge seien wunderbar bewusst und nur fürs Spiel eingesetzt – später erwies sich, dass sie auch im realen Leben sehr launisch sein konnte. Sie musste sich also nicht verstellen.
Im Gegensatz zu mir liebte sie Sport und war, trotz ihrer weiblichen Formen, fast als sehnig zu bezeichnen. Ihre fraulichen Reize wusste sie jedoch sehr gut zur Geltung zu bringen.
Mit zwei Dutzend mehr oder weniger begabten Schauspielerinnen hatte ich schon immer wieder dieselbe Szene gedreht, aber als Suzanne den etwas unwirtlichen kleinen Raum betrat, in dem wir die Probeaufnahmen machten, wusste ich, dass wir die Idealbesetzung für die Polizistin gefunden hatten. Dem Regisseur ging es genauso. Wir verständigten uns mit einem Kopfnicken, drehten die Probeszene eigentlich nur noch, um die Rollenbesetzung vor dem Sender rechtfertigen zu können.
Mich beeindruckte immer ihre ungeheure Präsenz. Wenn Suzanne ein Restaurant betrat, ließ das sofort jeden Menschen, ob männlich oder weiblich, auf- und hinblicken. Dabei erscheint sie zunächst viel größer, als sie in Wirklichkeit ist. Als ich das erste Mal dicht hinter ihr stand, mit meinen 1,95 Meter, war ich erstaunt, dass sie einen guten Kopf kleiner ist als ich. Ihre Haare kitzelten mich frech in der Nase, was uns beide zum albernen Giggeln veranlasste.
Noch zwei weitere Kolleginnen wurden damals gecastet, und ich war hocherfreut, als ich sah, dass Suzanne im Vorraum gewartet hatte. Ich hatte davon gesprochen, noch etwas essen gehen zu wollen, und sie schlug einen kleinen Japaner mit Sushi-Circle vor, den man leicht zu Fuß erreichen konnte.
Zum Grundgedeck erhielten wir jeweils eine Schale mit Sojasoße, geraspeltem Ingwer und eine grüne Meerrettichpaste. Von Letzterer bestellte sie gleich eine Extraportion. Ich tat es ihr gleich. Sie liebte scharfes Essen, und wir bissen beide leidenschaftlich zu. Ihr war nichts anzumerken, mir dagegen schon: Der Meerrettich fraß sich in Windeseile in meine Nasenschleimhäute und veranlasste meine Augen, wahre Sturzbäche an Tränen zu produzieren. Wir hatten uns nicht abgeschminkt, und so lief mir die Wimperntusche die Wange hinab. Einen blöderen Eindruck kann ein sich frisch verliebender Mann kaum machen. Doch ich wollte mir nichts anmerken lassen und kaute todesmutig lächelnd weiter, während sich in meinem Mund das Feuer ausbreitete.
Später stand Suzanne gern in der Küche und kochte für uns beide. Um die Schärfe aus den Gerichten zu nehmen, gewöhnte ich mir an, meist ein Glas Milch zum Essen zu trinken. Unsere gemeinsame Vorliebe für Eis, eigentlich aßen wir fast täglich davon, und mindestens drei Sorten waren immer im Gefrierschrank, sah man mir leider schon bald an. Allein innerhalb des ersten gemeinsamen Jahres nahm ich sieben Kilo zu, Suzanne dagegen nicht ein Gramm. (Ich schätze, ich habe eine schwäbische Verdauung: Keine Kalorie wird umsonst verbrannt.)
Ich hatte zu Hause keine Waage, um mein Gewicht zu kontrollieren, merkte nur, dass auch meine Hosen vom vergangenen Sommer zu kneifen begannen. Die konnten doch nicht alle am Bund eingegangen sein! (Und das auch nur am Bund!)
Als mich Suzanne das erste Mal »mein Moppelchen« nannte, traf mich fast der Schlag. Nein, sie möge Bauch, probierte sie mich zu beruhigen, was mich erst recht aus der Fassung brachte (aus der ich allerdings schon war).
Kurz darauf hörte ich zufällig mit, wie sich zwei A.I.R.-Redakteure über meine Figur unterhielten. Auf dem Bildschirm sähe ich »schon etwas feist« aus. Ich schluckte meine Verärgerung runter und bekam einen hochroten Kopf, als Knetke das Redaktionsbüro betrat und fragte, ob es richtig sei, dass die Dame vom Kostüm neue Hemden, mit größerer Kragenweite, für mich besorgen müsse? Machte sich da ein gehässiges Grinsen in den Redakteursgesichtern breit? Knetke, circa 120 Kilo auf 1,70 Meter, stänkerte, ich solle besser aufpassen, dass ich nicht noch weiter auseinanderginge, schließlich sei unsere Show kein Breitbildformat. Ich lachte herzhaft verlogen über seinen flauen Witz.
»Schwarz macht schlank«, sagt man, aber hätte mir wirklich auffallen müssen, dass die Garderobiere nur noch dunkle Jacketts rauslegte, selbst im Hochsommer?
Noch am selben Abend ging ich ins KaDeWe, um mir eine Waage zu kaufen. Die Auswahl war riesig. Als ich eine Verkäuferin um Rat fragte, welches denn die Beste und vor allem Genaueste sei, fragte sie mich: »Wie schwer sind Sie denn? Die Genaueste geht nämlich nur bis zweihundertvierzig Pfund.«
»Na, das wird wohl reichen!«
»Denken Sie an meine Worte«, sagte die spitznasige Verkäuferin. »Und wählen Sie lieber ein robusteres Modell. Schließlich wollen Sie auch in einem Jahr noch Freude an dem guten Stück haben.«
Ich nahm demonstrativ die mit der digitalen Höchstanzeige von 240 Pfund und eilte zur Kasse. Während die Kassiererin die Bonrolle wechselte, bildete sich eine Schlange von sechs Leuten, darunter auch zwei Teenager, die mich leider erkannten. Eigentlich genoss ich das, aber nicht in diesem Moment. Mit einer Personenwaage in der Hand will man nicht gesehen werden.
»Hey, schmeißen Sie ’ne Lage Autogramme?«
Nun wollten alle meine Unterschrift, so dass weitere Kunden auf mich aufmerksam wurden. Eine Frau im geblümten Kleid, die sich anscheinend alle Parfums in der Kosmetikabteilung aufgesprüht hatte, entdeckte die Waage.
»Die ist aber nicht für Ihre Frau!?« bemerkte sie.
»Ich bin nicht verheiratet«, entgegnete ich.
»Aber in der Welt der Frau stand doch, dass Sie und Suzi Henke heimlich geheiratet haben. Hab ich doch erst letzte Woche gelesen! Beim Zahnarzt.«
Sonst amüsiert mich so etwas, aber diesmal war mir das unangenehm. »Glauben Sie mir, wir sind nicht verheiratet. Wirklich!«
»Pfff«, ließ die Geblümte vernehmen, »nur, weil Sie vom Fernsehen sind, denken Sie, Sie können uns alles weismachen. Halten Sie mich doch nicht für blöd!«
(Doch, genau das tat ich!)
Endlich war ich an der Reihe, legte meine Kreditkarte hin. Die Kassiererin beäugte mich und die Karte kritisch, las immer wieder meinen Namen: »Muss man Sie kennen?«
Wieder die Frau, die die Welt nach der Klatschpresse beurteilte: »Das ist der Mann von Suzanne Henke. Die braucht sicher keine Waage! Die hat eine Klasse-Figur.«
Die Kassiererin wurde misstrauisch: »Henke? Hier steht aber Sander!«
»Jawohl, Peter Sander. Suzanne Henke ist nicht meine Frau, und wenn sie es jemals werden sollte, werde ich trotzdem meinen Nachnamen behalten. Könnte ich jetzt bitte die Waage haben!«
»Was regen Sie sich denn so auf? Es ist meine Pflicht, die Kreditkarten genau zu kontrollieren. Das ist doch auch in Ihrem Interesse … «
»Es tut mir leid, aber ich hab’s etwas eilig«, probierte ich zu beschwichtigen.
»Brauchen Sie eine Tüte?«
Natürlich brauchte ich eine Tüte! Es muss ja nicht gleich jeder sehen, dass Peter Sander eine Waage kauft.
»Wenn Sie so bedeutend sind, haben Sie dann auch ein Autogramm für mich?« verlangte die Kassiererin gelangweilt.
»Nehmen Sie meins!« Die Geblümte schmiss eine meiner Autogrammkarten sichtlich beleidigt auf den Tresen.
Wie ein von Detektiven gehetzter Ladendieb verließ ich das Kaufhaus.

Suzanne und ich wohnten schon seit gut drei Jahren zusammen, auf 110 Quadratmetern, in meiner Berliner Altbauwohnung im dritten Stock. Normalerweise nahm ich den Fahrstuhl, aber diesmal überwand ich meinen inneren Schweinehund und erklomm behende die Stufen. Treppensteigen ist schließlich gesund!
Aber auch anstrengend, musste ich feststellen. Wahrscheinlich war ich nur zu sehr gehastet. Und ich war ja auch schwer beladen. So eine 240-Pfund-Waage wiegt!
Natürlich wollte ich, endlich unbeobachtet, mein Gewicht sofort überprüfen. Ich zog meine Schuhe aus, legte das Jackett ab und bestieg meine neueste Errungenschaft. Unmöglich!
Sollte die Waage einen Herstellungsfehler haben? 208,7 Pfund leuchteten da auf. Okay, dann ziehe ich eben alles aus, Kleidung wiegt schwer. Außerdem entleerte ich schnell noch meine Blase: 207,6 Pfund. (Ich erwog tatsächlich, noch zum Friseur zu gehen, um weitere Gramm zu verlieren!)
In diesem Moment hörte ich den Hausschlüssel in der Wohnungstür, und schon stand Suzanne hinter mir. Ich fühlte mich ertappt, als hätte sie mich mit einem Pornoheft in der Hand erwischt. »Na, Moppelchen, wie schwer bist du?«
»Das kann ich dir leider nicht sagen. Die Waage ist falsch eingestellt.«
Keine zehn Sekunden später war Suzanne nackt und probierte die Waage selbst aus. Ich warnte sie: »Krieg keinen Schreck, die zeigt mindestens fünf Kilo zu viel an!«
»Bei mir nicht«, sagte sie fröhlich.
Dies war der erste Abend, an dem ich kein Eis aß (jedenfalls solange Suzanne noch wach war).
Ich hatte neben ihr 13 Kilo zugelegt.
Das waren 52 um den Bauch geschnallte Stück Butter.

In dieser Nacht träumte ich von einem TV-Spot, in dem ich für ein Pulver namens »Schleim-Fraß« Werbung machte. Mindestens doppelt so dick, mit Vierfachkinn, strahlte ich dabei in die Kamera und säuselte: »Machen Sie es wie ich: Dreimal täglich, anstatt der Mahlzeiten, nehme ich einen der köstlichen Drinks von ›Schleim-Fraß‹. Die sättigen und schmecken. Alles Lebenswichtige ist gleich mit drin. Nur auf diese Weise ist es mir gelungen, in 20 Wochen 250 Gramm abzunehmen, so viel wie ein ganzes Stück Butter! Ich war Deutschlands dickster Showmaster, heute sehe ich mich wieder gerne im Spiegel an. Mein Erfolg bei Frauen gibt mir recht. ›Schleim-Fraß‹ sei Dank!« Drei fettleibige Elfen umrundeten mich dann in weißen durchsichtigen Gewändern, tätschelten mir den Bauch und flüsterten begierig: »Sei mein Moppelchen!«
Ich schrak aus meinem Traum auf. Neben mir saß Suzanne, die mich am Bauch rüttelte. »Moppelchen, ist alles in Ordnung? Du stöhnst so.«
»Ich hab nur schlecht geträumt.«
»Was denn?« wollte sie mitfühlend wissen.
»Och, hab ich vergessen.«
Suzanne hatte schon ihre knappen Sportklamotten an und wollte sich auf den Weg zum täglichen Joggen im Tiergarten machen.
»Warte, ich laufe mit!«
»Was ist denn mit dir los?« fragte sie wirklich erstaunt. Ich begleitete sie allenfalls mal auf dem Fahrrad. Am Anfang unserer Beziehung hatte ich einmal probiert, laufend mit ihr mitzuhalten, hatte aber bald mit stechender Lunge aufgeben müssen. Die Ausschüttung der Glückshormone, von denen Suzanne immer schwärmte – ich habe sie nie erlebt. Nur Muskelkater.
Ich zog meinen Trainingsanzug an, fand sogar meine Turnschuhe und folgte Suzanne in den schon herbstlichen Stadtpark. Ich war guten Willens, konnte aber nicht ansatzweise mithalten. Als sie zum wiederholten Male kehrtmachte, um wieder mit mir auf einer Höhe zu laufen, täuschte ich vor, mit dem Fuß umgeknickt zu sein. Sie solle ihr gewohntes Pensum heute ruhig ohne mich absolvieren. Sowie sie hinter der nächsten Biegung entschwunden war, keuchte ich heimwärts.

Suzanne kam vollkommen beschwingt nach Hause. Frische Brötchen hatte sie auch noch geholt. Diesmal schmierte ich keine Butter unter die Marmelade.
Kurz darauf klingelte das Telefon. Eine Reporterin wollte von uns beiden wissen, wie wir uns so fit hielten, eine dieser unsinnigen Promi-Umfragen. Wir wurden besonders gern angerufen; zwei Stars unter einer Telefonnummer, also zwei Fliegen mit einer Klappe, das spart Zeit.
Suzanne gab brav Antwort: »In unseren aufreibenden Jobs brauchen wir beide einen Ausgleich für Körper und Seele. Ich jogge, soweit es meine Filmarbeiten erlauben und ich nicht schon um fünf in der Maske sitze. Und Peter fährt täglich Rad. Irgendwann macht der noch mal die Tour de France mit.«
»Ach, ist das wirklich ein Ziel von ihm? Das sieht man ihm gar nicht an!« vernahm ich aus dem Lautsprecher des Telefons.
Suzanne neckisch: »Sie sollten mal seine Beine sehen. Alles Muskeln. Aber die Tour de France war natürlich nicht wörtlich gemeint.«
»Kann ich es trotzdem schreiben? Das wär was für unsere Leser.«
Ich übernahm den Hörer: »Nein, nein, das schreiben Sie bitte nicht.«

Am nächsten Tag hatte ich wieder Sendung. Am schwarzen Brett der Redaktion hing eine Collage: Ein sehr unvorteilhaftes Bild von mir, von schräg unten fotografiert, montiert auf ein hingekritzeltes Fahrrad mit zwei platten Reifen. Daneben ein Zeitungsausschnitt, in dem die Aussage, ich wolle unbedingt mal bei der Tour de France mitfahren, rot eingekreist war. Ich lächelte über den »gelungenen Scherz« und kam mir dabei verlogen vor wie ein Oscar-Nominierter, der strahlend die Auszeichnung des Konkurrenten beklatscht. Sobald ich allein war, riss ich die hässliche Fotomontage vom Brett und zerknüllte sie.

Ich hatte nicht viel Zeit, mich zu ärgern. Meine Sendung brauchte einiges an Vorbereitung. Moderationen für die Filmbeiträge mussten geschrieben werden, und vor allem die Interviews wollten durchdacht sein. Höchstens fünf Minuten hat man bei den Privaten für ein Gespräch, da ist es nicht leicht, alles unterzubringen. Besonders bei Politikern muss man auf der Hut sein, sonst kommen nur die ewig gleichen Floskeln. Zu jedem Talkthema sammelte ich Informationen, um meine Gespräche frei führen zu können. Lena Tischler ließ sich ihre Fragen meist von den Redakteuren schreiben, schielte dann vor der Kamera auf ihre Notizkarten. Die Zuschauer schien das nicht zu stören. Auch bei den Anmoderationen verließ sie sich auf die Vorschläge der Filmemacher, übernahm sie eins zu eins auf den Teleprompter, von dem sie – immerhin fehlerfrei – ablas. Meinem Berufsethos widersprach so etwas.
Die Sendung erforderte meine volle Konzentration. Die Gesundheitsministerin war eingeladen. Ich sollte sie möglichst kritisch zur Gesundheitsreform befragen. Um das Gespräch aufzulockern, wollten wir unseren Gast spontan bitten, Erste-Hilfe-Griffe zu demonstrieren. Ein Dummy wurde dafür bereitgelegt. Durch diesen Aktionsteil konnten wir der Ministerin sogar zwei Blöcke à fünf Minuten einräumen.
Außerdem waren Filmberichte über Hundekämpfe in Zuhälterkreisen, den Mitmachzwang bei albernen Spielchen in Ferienclubs, die Exhibitionisten-Homepage eines ewig sextreibenden Pärchens im Internet, Diebstähle des Personals eines Altenheimes – mit versteckter Kamera gefilmt – sowie das Porträt eines autistischen Lyrikers vorgesehen.
Ein weiterer Studiogast war die mittlerweile 90jährige Gertrud Maikel, eine Schauspiellegende, die vor Bösartigkeit nur so strotzte. Eigentlich sollte sie schon eine Woche zuvor, anlässlich ihres runden Geburtstages, ins Studio kommen, aber die Produktion wusste, dass Lena bei dieser Beißziege chancenlos gewesen wäre. Bei einem Promi-Event stellte ihr meine Kollegin einmal eine Frage und wurde derart feindselig abgebürstet, dass sie vor laufender Kamera in Tränen ausbrach. Die Sendung versprach also, nicht ganz leicht zu werden, aber die bunte Mischung war vielversprechend und, noch wichtiger, sie brachte Quote.

Nach der Redaktionssitzung zog ich mich in meine Garderobe zurück. Ich sichtete zum wiederholten Male meine Unterlagen. An Essen war nicht zu denken, die Aufnahmeleitung stellte mir einen Teller mit Obst hin, das reichte. Vielleicht würden sich meine Figurprobleme mit einer täglichen Sendung in Luft auflösen?
Die Tür ging auf, ohne dass jemand vorher angeklopft hatte. Natürlich, Knetke!
»Peter, ich wollte dir nur sagen, dass heute Kugler zusieht, es geht um deine Vertragsverlängerung. Also sei brillant, hörst du?«
»Ich geb’ mein Bestes!«
Das tat ich sowieso, schließlich konnte Kugler immer zusehen. Vor der Live-Sendung um neun telefonierte ich normalerweise kurz mit Suzanne. Diesmal war sie weder zu Hause noch auf ihrem Handy zu erreichen. So gab ich erst unserem Anrufbeantworter, dann ihrer Mail-Box einen dicken Kuss.
Wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal so richtig geküsst, ging es mir durch den Kopf? Von weitergehenden Aktivitäten ganz abgesehen. Gut, Suzanne war derzeit sehr gefragt, spielte eine (viel zu junge) Chefärztin in der Serie »Sankt-Pauli-Klinik« und war deshalb oft in Hamburg. Vielleicht sollten wir mal wieder einen Verwöhntag für uns einlegen. An diesem Tag bestimmte einer für beide das Programm. Im Mai waren wir zum Beispiel in einer Foto-Ausstellung von Leni Riefenstahl (und bekamen uns derenthalben in die Haare), nahmen einen Espresso im Café Einstein, sahen »Eugen Onegin« in der Oper und gingen danach ins überteuerte »Pfau« essen. Vollkommen übermüdet schliefen wir, nach einem heftigen Kuss, Arm in Arm ein.
Ja, den letzten Verwöhntag zelebrierten wir im Mai, mittlerweile war schon wieder Anfang Oktober! Ich nahm mir ganz fest vor, noch heute mit Suzanne den nächsten gemeinsamen freien Tag abzuklären. Eine Schande eigentlich, dass sich bei uns schon nach dreieinhalb Jahren eine gewisse Bequemlichkeit eingeschlichen hatte. Den Alltag gemeinsam bestehen zu können, hat etwas für sich, aber sich mit Unalltäglichem überraschen, damit sollte man nie aufhören.
Ich kam nicht dazu, mir weitere Gedanken zu machen. Ich musste noch mal in die Maske, kämpfte dort unter Unmengen von Haarspray gegen den Tod durch Ersticken. Gerade, als ich meinen obligatorischen Hustenanfall hatte, nahm die noch sehr bewegliche Gertrud Maikel auf dem Stuhl neben mir Platz.
»Wenn Sie Tuberkulose haben, müssen Sie die Sendung ohne mich machen«, lautete ihre herzliche Begrüßung.
Ich sprang sofort auf, reichte ihr die Hand, die sie in der Luft verhungern ließ – »Wollen Sie mich anstecken? Das wäre dann bestimmt meine letzte Krankheit!« – und stellte mich, ganz wohlerzogener großer Junge, vor und fügte hinzu, wie sehr ich mich auf unser Gespräch in der Sendung freue.
Sie würdigte mich keines Blickes. Der war auf sie selbst im Spiegel gerichtet. Sie zischte durch ihre sicher schon fünften Zähne: »Die Freude ist einseitig. Dieses ganze Getue um meinen Geburtstag ist mir zuwider.« (Warum gab sie dann heute ihr hundertstes Interview zu diesem Anlass?) »Alt werden ist kein Verdienst.«
Beim letzten Wort sprühte eine Fontäne Speichelflüssigkeit auf den Spiegel.
»Aber mit 90 noch so jung zu wirken, das ist doch ein Verdienst«, probierte ich, gut Wetter zu machen.
Immerhin erntete dieser Ausspruch einen Blick von ihr. Für einen kurzen Moment hatte ich sie auf meiner Seite. Es sollte der letzte gewesen sein!
Knetke rollte herein. Die Gesundheitsministerin stecke noch im Stau, käme aber auf jeden Fall. Wir müssten vielleicht die Reihenfolge der Beiträge ändern.
Das nahm ich zum Anlass, mich zu verdrücken.

Vor dem Studio hatte sich schon wieder eine treue Fangemeinde versammelt. Manche waren schon zum hundertfünfzigsten Mal da und fühlten sich wie meine Maskottchen. Sie galt es, besonders freundlich zu begrüßen. Frau Lehmann, Frau Kazsmarek und Herr Brösicke baten auch diesmal wieder um ein gemeinsames Foto mit mir. In der Hand hielten sie eine Bild, mit dem Finger zeigten alle auf das Datum des Tages. Alle zwei Wochen dasselbe Spiel. Zu Weihnachten bekam ich Jahr für Jahr die Fotos des Jahres, zur »Erinnerung an gemeinsame schöne Zeiten«. Als besonderes Bonbon wurden mir auch Fotografien mit Lehmann, Kazsmarek und Brösicke beigelegt, wie sie gerade einzelne meiner Gäste umzingelt hatten und freundschaftlich umarmten. Auf das Bild mit der Maikel freute ich mich schon …

Es ist nie angenehm, wenn sich in einer Live-Sendung der geplante rote Faden verändert. Knetke versicherte mir jovial, wie froh er sei, dass die Ministerin gerade heute im Stau stecke, nicht bei einer von Lenas moderierten Sendungen. Die Regieassistentin, ewig Kaugummi kauend, immer in derselben Jeansjacke, egal bei welchen Temperaturen, würde mir den jeweils kommenden Beitrag mittels großer Papptafeln anzeigen.
»Sollte die Gesunde überhaupt nicht kommen, hast du mehr Zeit für die Maikel. Die ist heute gut drauf, richtig angriffslustig!« scherzte Knetke.
Ich ordnete meine Moderationsspickzettel, die ich während der Einspielfilme kurz durchlas, in der geplanten Reihenfolge. Sie kamen in die linke Jackettinnentasche, nach Gebrauch dann in die rechte.

Um zehn vor neun musste ich das Studiopublikum begrüßen, ihm ein paar Applause abverlangen, scherzen und den Ablauf meiner Fernsehsendung erklären. (»Nein, während der Live-Teile im Studio bitte nicht aufs Klo gehen.«) Einerseits hasste ich das immergleiche Warm-up, andererseits gab es mir auch ein Gefühl fürs Publikum. Von Thomas Gottschalk hatte ich mir abgeschaut, wie man seinen Auftrittsapplaus inszeniert: »Also, wenn ich rauskomme, sind Sie bitte alle glücklich, mich zu sehen, was Sie ruhig in tosendem Applaus zeigen dürfen. Gut, wenn Sie wollen, ist auch heftiges Trampeln erlaubt. Wenn ich dann mit den Händen bescheiden abwinke, das kommt gut über den Bildschirm, achten Sie bitte bloß nicht auf mich. Applaudieren Sie begeistert weiter.«
Schon dafür erntete auch ich jedes Mal Applaus.

21 Uhr, die Erkennungsmelodie der »On-Air-Show« lief, die Ministerin war noch nicht da, und ich hatte meinen stürmisch gefeierten Auftritt. In meiner Begrüßung erzählte ich, was die Zuschauer erwarte und dass die Gesundheitsministerin noch im Stau stecke. »Vielleicht hätte ich mir lieber den Verkehrsminister einladen sollen!?« Lachen, Klatschen, auch ohne dass die Applauslampe das Studiopublikum dazu aufgefordert hatte.
Zu meinem Erstaunen hielt die Regieassistentin, während eine Kaugummiblase in ihrem Gesicht zerplatzte, die Pappe in der Hand, auf der groß das Wort »Autist« stand. Dieser Filmbericht sollte eigentlich zwischen die beiden Gesprächsteile mit der Ministerin gesetzt werden, so dass sie zu diesem Thema noch Stellung nehmen konnte. Für sich allein ist ein schreibender Autist nicht gerade ein Quotenbringer. Sein Verlag hatte uns sogar allen Ernstes empfohlen, den Poeten ins Studio einzuladen, nur, wie hätte ich mit ihm reden sollen?
Ich sagte trotzdem den Autisten-Beitrag an. Eingespielt wurde der eigentlich vorgesehene Filmbeitrag über die Hundekämpfe in Zuhälterkreisen.
Eine weitere Kaugummiblase zerplatzte im Gesicht der Regieassistentin und hinterließ diesmal Spuren, als sie die Masse wieder in den Mund sog. Ansonsten stand sie ziemlich unbeweglich, mit der Pappe in der Hand, da. Durch den Lautsprecher ertönte die Stimme des Regisseurs, für jeden gut hörbar. »Sander, was ist in dich gefahren? Bist du bescheuert?«
Ich versuchte, die Contenance zu bewahren. »Hey, ihr habt mir den falschen Film angezeigt. Da, Cleo hält immer noch ›Autist‹ hoch!«
Nun hörte die Regieassistentin einmal auf zu kauen: »Wat mach ick? Ej, ick halte diese Scheißkarten nur, bis mir eener sacht, wat ick hochhalten soll. Sieht dit etwa aus, als würde ick wat hochhalten? Ej, wenn der’n Ding an der Omme hat, denn soll er dit nich uf mir abwälzen. Ist ja echt voll Ghetto, Mann!«
Ein lesbisches Pärchen im Studiopublikum applaudierte.
Feinde konnte ich nun gar nicht gebrauchen. Ich musste mich konzentrieren. »Ich krieg das schon wieder hin«, versicherte ich, innerlich gar nicht so sicher.
In den Kulissen sah ich die missmutig dreinblickende Maikel. Sie schüttelte langsam den Kopf.
Und schon war ich wieder live auf dem Bildschirm. Trotz des Applaus-Schildes gab es nur ein Geraune im Saal. »Sehen Sie, meine Damen und Herren, das ist live. Keine Sorge, zu unserem autistischen Dichter kommen wir schon noch. Was Sie eben sahen, war ein erschütternder Bericht über Unmenschen, die ihre Hunde zu Kampfmaschinen erziehen. Wie sagte eine der Kiezgrößen: ›Das ist wie bei uns. Der Stärkste besteht, die anderen gehen eben drauf.‹ Und vollkommen unbeweglich …« (mein Blick ging unwillkürlich zur Regieassistentin) » … sah er dabei zu, wie sein Hund von einem anderen zerfleischt wurde. Auf unsere Nachfrage, ob ihn das Schicksal seines Tieres nicht doch berührt, antwortete er uns ohne Kamera: ›Der Hund hatte es nicht besser verdient, der war sein Fressen nicht wert!‹ Wie bei unseren Recherchen herauskam, werden diesen Kampfhunden immer wieder Anabolika ins Futter gemengt. Tja, und wenn irgendwo wieder ein Mensch von diesen blutgierigen Monstern – ich spreche von den gequälten Hunden – angegriffen wird, werden die Hunde eingeschläfert. Die Hunde!« sagte ich bedeutungsschwanger.
Wie ging es weiter? Was sollte jetzt eigentlich kommen?
Manchmal war wirklich der Wurm drin. Die Maikel setzte sich gerade einen ihrer tuffigen Hüte auf. Cleo hielt immer noch das Schild »Autist«. Sollte ich das erste Mal meine Spickzettel vor laufender Kamera zücken?
»Nun zu einem anderen Thema … «
Die nächste Kaugummiblase zerplatze. Cleo, diese blöde Kuh, hatte sicher was mit Knetke. Das Gerücht hielt sich schon ein halbes Jahr sehr hartnäckig, wieso darf diese Person sonst ein Studio betreten?
»Auch dieses Thema wird Sie interessieren!« wiederholte ich mich mit einem flehenden Blick zur Regieassistentin. Sie hatte immerhin eine Sprechverbindung mit dem Regieraum, bekam den jeweils nächsten Programmpunkt angesagt. Endlich sah sie mich an. Sie hob die Hand, um mir anzuzeigen, dass ich nur noch eine halbe Minute Redezeit habe. Eine halbe Minute vor der Kamera, wenn man nicht weiß, worüber man reden soll, kann verdammt lang sein.
Da sah ich, wie unser Studioaufnahmeleiter mit der Maikel sprach und in meine Richtung zeigte.
Erleichtert nahm ich meinen roten Faden wieder auf: »Was sag ich Thema, diese Frau wird Sie interessieren. Gerade feierte sie ihren 90. Geburtstag. Heute wollen wir ihr entlocken, wie sie sich die ewige Jugend bewahrt hat. Eine Dame, die mit ihrer Vitalität ein Vorbild für uns alle ist. Gertrud Maikel!«
Der Aufnahmeleiter schüttelte den Kopf und hielt die Maikel zurück.
» … Gertrud Maikel ist heute unser Gast«, erwähnte ich etwas schwammig, mich ja nicht festlegen wollend. Dabei kramte ich meine Spickzettel hervor. In diesem Moment ertönte die Unterbrechungsmelodie von der Werbung.
Ich hätte im Boden versinken können.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Klaus-Peter Grap: Flaatsch. Ich war mal prominent. Satyr-Verlag, Berlin 2012, 220 Seiten, 14,90 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.