Über den griechischen Film »Alpen«

Keine Sterne in Athen

Gabriele Summen erkundet die bizarren Endzeit-Szenarien des griechischen Regisseurs Giorgos Lanthimos.

Es kann ein großes Vergnügen sein, mit besonders rationalen Menschen in sogenannte Mindfuck-Filme zu gehen, Filme also, die sich jeder Logik verweigern. Bei den anschließenden Diskussionen am Kneipentisch, wenn die Logiker unbedingt den Sinn hinter der verstörenden filmischen Irrfahrt entdecken wollen, kann man sich entspannt zurücklehnen und das Filmvergnügen für sich noch ein wenig verlängern. Für solche Diskussionsrunden eignen sich die Filme des griechischen Regisseurs Giorgos Lanthimos ganz ausgezeichnet. Leider konnte man sein großartiges Familiendrama »Dogtooth« bisher nur auf DVD sehen. In unserem blühenden Wirtschaftswunderland hat sich tatsächlich kein Verleih für einen Film gefunden, der in Cannes immerhin mit dem »Prix Un Certain Regard« ausgezeichnet wurde und der als bester nicht englischsprachiger Film für den Oscar nominiert war. Bedarf es erst einer schmerzhaft spürbaren Krise, damit Kunst entstehen kann, die die Konventionen sprengt? Ist eine Gesellschaft erst in der Lage, sich wahrlich unbequemen Fragen zu stellen, wenn sie auch wirtschaftlich am Boden liegt? Was haben die derangierten erwachsenen Kinder aus »Dogtooth«, die sich von ihren völlig durchgeknallten, totalitären Eltern unterdrücken lassen, eigentlich mit uns zu tun?
Der neue albtraumhafte Film von Giorgos Lanthimos, »Alpen«, der in Venedig 2011 den Preis für das beste Drehbuch gewonnen hat, stellt ähnliche Fragen, verweigert aber vorschnelle Antworten: Warum lassen sich mündige Menschen von tyrannischen, patriarchalen Autoritäten unterdrücken? Was würde wohl geschehen, wenn diese fremdbestimmten, zur Beziehungsunfähigkeit abgerichteten Psychopathen auszubrechen versuchten? Die filmischen Mittel, die Lanthimos nutzt, etwa lange statische Einstellungen, verwirrende Montagen oder unerträglich lange im »Off« bleibende Personen während vieler Dialogszenen, erschweren das Verständnis der Geschichte. Totalitär wie der Patriarch aus »Alpen« herrscht Lanthimos über seine Bilder und entlässt den Zuschauer am Ende mit wenig Hoffnung.
Die Geschichte: Eine lustlose Turnerin absolviert zu den Klängen von Orffs »Carmina Burana« eine beeindruckende Performance. Das anschließende Gespräch mit dem Trainer, den wir lange nicht zu Gesicht bekommen, dreht sich darum, dass die Turnerin lieber zu einem Pop-Titel turnen würde. Jetzt sehen wir den Tyrannen: Er behauptet kühl, sie sei noch nicht bereit für Pop, er würde ihr den Schädel einschlagen, wenn sie noch einmal die Stimme gegen ihn erheben würde.
Harter Schnitt: Ein Rettungssanitäter spricht mit einem Unfallopfer, einem 16jährigen Mädchen. Der Mann sagt ihr, dass sie vermutlich sterben wird, und fragt sie nach ihrem Lieblingsschauspieler. Man nimmt zunächst an, der einfühlsame Sanitäter wolle das schwer verletzte Mädchen womöglich wachhalten – aber es kommt anders. Schließlich befinden wir uns nicht auf bekanntem filmischen Terrain, sondern in der Geschichte eines jungen experimentierfreudigen Filmemachers, der im allerbesten Sinne ein desillusionierter Künstler ist.
Die griechische Filmförderung liegt am Boden. Die Filmemacher unterstützen sich daher gegenseitig: So spielte Lanthimos in dem zu recht hochgelobten Experimentalfilm »Attenberg« den Liebhaber der 23jährigen Marina. »Attenberg«-Regisseurin Athina Rachel Tsangaris hat wiederum den Film von Lanthimos produziert. Die Rede von einer »neuen griechischen Welle«, die einige Cineasten bereits ausrufen wollen, würde bei den jungen Filmemachern wohl Befremden hervorrufen, schließlich widersetzen sie sich gängigen Traditionen und Kategorisierungen.
Dennoch gibt es in »Alpen« so etwas wie eine Protagonistin: eine Krankenschwester, wunderbar zurückgenommen gespielt von Aggeliki Papoulia, die in »Dogtooth« die ältere Tochter verkörpert hat. Die Krankenschwester ist eine jener abhängigen, verzweifelten Personen, die die Filme Lanthimos’ wie Zombies bevölkern. Möglicherweise ist auch sie eine tickende menschliche Zeitbombe, wie die abgerichteten Kinder aus »Dogtooth«.
Den wahren Namen der Krankenschwester erfahren wir nicht, eine Individualität wird ihr von dem brutalen Führer des Vereins mit dem bizarren Namen »Alpen« nicht zugestanden wird. Der Verein verfolgt eine nicht minder bizarre Geschäftsidee: Er macht mit der Trauer von Angehörigen kürzlich Verstorbener sein Geschäft. Die Vereinsmitglieder lassen sich dafür bezahlen, die Rollen kürzlich Verstorbener einzunehmen. Sie schlüpfen in die Rolle der Toten und begleiten die Familie durch die schlimmste Zeit der Trauer. So übernimmt die namenlose Krankenschwester die Rolle der vestorbenen Frau eines Lampenverkäufers. Wie die Verstorbene badet die Krankenschwester im eisigen Meer und verzichtet im Café auf Kuchen, weil die Verstorbene Diabetes hatte. Das Regelwerk des Vereins besagt, dass sich die Mitglieder unter keinen Umständen emotional an ihre Kunden binden oder intime Beziehungen mit ihnen unterhalten dürfen. Als die Krankenschwester mit dem Lampenverkäufer lachhaften, inszenierten Sex hat, steht die Szene an Absurdität um nichts der asexuellen Kussszene in »Attenberg« nach. Wie einsam und verlassen müssen sich Menschen fühlen, um freiwillig ein solches Schmierentheater mitzuspielen?
In einem Akt der kläglichen Rebellion belügt die Krankenschwester, die noch bei ihrem Vater wohnt und kein eigenes Leben hat, die anderen Vereinsmitglieder, um an die Rolle des nach einem Unfall verstorbenen 16jährigen Mädchens zu kommen. »Das Ende kann ein besserer Neuanfang sein«, prophezeit sie noch im Krankenhaus den verzweifelten Eltern, die soeben ihr einziges Kind verloren haben. »Alpen« ist beängstigendes Mindfuck-Kino mit großem ästhetischen Irritationspotential.

Alpen (Griechenland 2011). Regie: Giorgos Lanthimos, Darsteller: Aris Servetalis, Aggeliki Papoulia, Ariane ­Labed, Johnny Vekris. Start: 14. Juni