Lobt den Schlaf

Augen zu und durch

Während Kreativarbeiter Kurse in »Power Napping« absolvieren, bringen populäre Sachbücher dem Massenpublikum bei, wie man Schlafstörungen bewältigt. Die totale Vergesellschaftung des Schlafs ist der Vorbote einer Welt, in der es keine Nacht mehr gibt – nur noch die der Vernunft.

Die Nacht zum Tag zu machen, ist heute eher eine Drohung als ein Versprechen. Der muntere Hedonismus, mit dem die Parole kokettiert, bemäntelt nur halbherzig die Resignation, die ihr zugrunde liegt. Wo alle sich vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung mit wütender guter Laune und hoffnungslosem Optimismus auf die Nerven gehen, ist die Nacht, wenn sie denn überhaupt noch stattfinden darf, nicht mehr die Zeit von Traum und Geheimnis, sondern höchstens der zugelassenen Erschöpfung.
Das abstoßende Ideal des braven Bürgers, der morgens fröhlich und leistungsbereit zur Arbeit schreitet, um abends nach getanem Tagwerk zufrieden in traumlosen Schlaf zu sinken, existiert nur noch als Karikatur einer biederen Vergangenheit. Seit es kaum mehr Bürger gibt, die sich auf das Gleichmaß ihrer Arbeit ebenso verlassen können wie auf den überraschungslosen Gutenachtkuss der Ehefrau, ist jeder zur prospektiven Ich-AG geworden und muss zwischen den Arbeits- und Ruhephasen seines zum Projekt heruntergekommenen Lebens ebenso kreativ vermitteln wie zwischen Beziehung und Beruf.
Die lässig hingeworfene Frage, bei wem man denn heute pennen könne, an der Gewohnheitsstudenten und Freizeitlinke einander zu erkennen pflegen, zeugt nicht von sympathischer Bedürfnislosigkeit und Spontaneität, sondern von vollzogener Anpassung an eine Welt, in der sich die Menschen buchstäblich um ihren Schlaf bringen. Pennen ist Schlafen in Armut und Unfreiheit, nichts als glückloser Vollzug eines Naturzwangs, kein Geschenk, das man entgegennimmt, sondern ein kärgliches Schicksal, in das man sich fügt. Die intime Konzentration des glücklich Schlafenden aber, der der Welt verloren gegangen und doch ganz bei sich selber ist, existiert im Bewusstsein der meisten Menschen nur noch als Erinnerung an eine Kindheit, von der man nicht einmal weiß, ob man sie jemals hatte.
Die Geschichte des Schlafs ist untrennbar von der Geschichte der Elektrifizierung der Nacht. In der von den frühen Großstadtliteraten und Feuilletonisten beschriebenen Mischung aus Panik und Begeisterung, mit der die Stadtbewohner auf die Verwandlung des nächtlichen Lebens durch Leuchtreklame und Werbung reagierten, blitzte eine Ahnung von der unbewältigten Naturgeschichte der Menschheit auf. Die durch fortgeschrittene Naturbeherrschung erlangte Fähigkeit der Menschen, die Nacht zum Tag zu machen, ist Bedingung aller Urbanität und läutete den Siegeszug der Städte über das Land ein. Erst in deren künstlichem Licht trat die objektive Finsternis des Landes zutage, wo der Lebenslauf der Menschen sich nie vollends vom Stand der Sonne emanzipiert hat.

Erst das nächtliche Licht und der wilde Lärm der Städte aber haben auch überhaupt erst die Schönheit und lebendige Stille der natürlichen Nacht erfahrbar gemacht, die eben nicht nur Natur ist, sondern vom Gesellschaftswesen, das der Mensch ist, erst als solche erkannt werden muss. Indem die Fähigkeit, die Nacht zum Tag zu machen, die Trennung zwischen beiden Sphären von der unerbittlichen Monotonie des Naturzyklus befreite, hat sie auch den Schlaf vermenschlicht. Seitdem ist er nichts mehr, das die Menschen mit den Tieren bloß gemeinsam haben, von denen sie sich wecken lassen wie der Bauer vom krähenden Hahn, sondern das Intimste, das sie miteinander teilen können. Indem sie Räume, Kleider, Lieder, Geschichten und Rituale erfanden, die nur dem Schlaf gewidmet sind, und den Übergang vom Tag zur Nacht individualisierten, haben sie den Schlaf vom blinden Naturzwang in ein Geschenk verwandelt, das jeder sich selbst und anderen machen kann. Seither erst ist Schlafen nichts, das einfach alle tun müssen, sondern die unverlierbare Erfahrung jedes Einzelnen.
Doch wie die Technik nie nur ein Mittel zum bestimmten Zweck ist, sondern den ohnmächtig ihr gesellschaftliches Schicksal vollstreckenden Individuen zur blinden Notwendigkeit wird, so ist auch das künstliche Licht zum natürlichen geworden, in dessen Bann fortan alle stehen. Vielleicht sind Licht und Elektrizität überhaupt die triftigsten Beispiele für den Umschlag von naturbeherrschender Technik in undurchdrungene zweite Natur. In der panischen Euphorie der Städter angesichts der Elektrifizierung der Nacht äußerte sich auch die Furcht vor dieser Erkenntnis.
Das undurchdringliche Dunkel am Ende jedes Tages, das nach Maßgabe nützlicher Arbeit keine Erträge abwirft und dennoch unvermeidlich scheint, erinnert wie der Schlaf an die unbewältigte erste Natur. Die totale Vergesellschaftung manifestiert sich nicht nur in irgendwelchen »sozialen Systemen«, wie die sich zur Pseudo-Naturwissenschaft erniedrigende Soziologie das zu nennen pflegt, sondern in der ganz konkreten, sich in der individuellen Erfahrung sedimentierenden Verwandlung des Leibes in den Körper, aus dem jede Erinnerung daran getilgt sein soll, dass der Mensch als Gesellschaftswesen auch Naturwesen ist.

Im glücklichen Schlaf aber kommt der Körper als der Leib zu sich selbst, als der er sich in der Müdigkeit, der Erschöpfung, der Ausfallerscheinung gegenüber der scheinhaften Selbstidentität des wachen Subjekts Geltung verschafft. Völlige, einer Behandlung unzugängliche Schlaflosigkeit führt ausnahmslos zum Tod. Was als seltene, einstweilen nicht behandelbare Krankheit von der Normalität des gesellschaftlichen Lebens abgespalten und den Ärzten überantwortet wird, zeigt negativ an, dass das Bedürfnis nach der totalen Vergesellschaftung des Schlafes selbst mit dem Todestrieb verschwistert ist. Glücklicher Schlaf aber ist das Urbild nicht des Todes, sondern der versöhnten Natur. Im Schlaf nimmt das individuelle Leben sich selbst zurück in der lebendigen Ruhe, aus der es als individuelles wieder erwachen kann.
Doch die immer umfassendere Departementalisierung des Lebens, die Zerstückelung des Tages und der Nacht in diverse Arbeits-, Freizeit-, Beziehungs- und Ruhephasen, die die emphatische Vorstellung von einem eigenen Beruf längst ebenso illusorisch gemacht hat wie die von einem eigenen, nicht ziellos verrinnenden Leben, exorziert mit dem glücklichen Schlaf auch die Möglichkeit eines solchen Erwachens. So ist die zivilisatorische Fähigkeit, die Nacht zum Tag zu machen, selbst zur zivilisationsfeindlichen Technik geworden. Weil die Menschen die Nacht als den kärglichen Rest verachten, zu dem sie sie selbst gemacht haben, übertönen sie ihre lebendige Stille mit Lärm und leuchten ihre Schwärze aus, bis sie so öde geworden ist wie der grelle Alltag.
Der Schlaf indessen muss sich, weil auf ihn leider noch immer nicht ganz verzichtet werden kann, mit der toten Zeit zufrieden geben, die das sinnlose Leben ihm übriglässt. Deshalb befasst sich die sogenannte Schlafmedizin inzwischen fast ausschließlich mit Schlaftechniken und Schlafstörungen, Schlafstadien und REM-Phasen, protokolliert Hirnströme und klassifiziert Insomniesymptome. Schlaf ist ihr keine Erscheinungsform der menschlichen Naturgeschichte, die als geschichtliches Phänomen zu begreifen wäre, sondern naturwissenschaftlich beherrschbare, krude Natur, bloßes Material gesellschaftlicher und individueller Zurichtung wie die Menschen selbst.
Ihre populärsten psychologischen Kategorien sind »Stress« und »Energie«, vom Sexus weiß sie so wenig wie vom Unbewussten. Schlafstörungen interpretiert sie nicht als Hinweis auf einen unausgetragenen Widerspruch zwischen Körper und Leib, Psychischem und Somatischem, sondern allein als Indiz dafür, dass die totale Integration noch immer nicht ganz gelungen, dass der individuelle Mensch noch immer nicht eins ist mit der gesellschaftlichen Person, auf deren Identität er nicht nur im Beruf, in der Liebe und im Alltag, sondern auch im Traum vereidigt sein soll, den er mit geschlossenen Augen und versiegelten Sinnen ebenso erbarmungslos gegen sich selbst durchstehen soll wie das ganze Leben.

»Stress« und »Energie« sind der Schlafforschung keine qualitativen Begriffe, die etwas Abzuschaffendes oder Freizusetzendes meinen, sondern bezeichnen quantitative Größen, deren Verhältnis optimal reguliert werden soll. Deshalb ist im humanen Betrieb mit flachen Hierarchien, wie ihn diverse Kultur- und Kreativberufler kennen, mittlerweile das »Power Napping«, auch liebevoll »Kraftnickerchen« genannt, zur probaten Selbsttechnologie avanciert. Fortschrittliche Unternehmen und progressive Bürogemeinschaften sind stolz auf ihre betriebsinternen »Ruheräume« mit individueller »Entspannungsmusik«. Zehn bis 30 Minuten reichen für den, der in der Nacht schon längst keine Ruhe mehr findet, um sich seiner Tätigkeit als kreativer Umnachteter mit somnambulem Enthusiasmus widmen zu können. Was der »Coffee to go« für den besinnungslos agilen Großstädter, das ist der »Power Nap« für den glücklich verblödeten Freiberufler. »Das Problem ist, (…) die Ruhephasen in den Arbeitsalltag zu integrieren. Hier muss man weg vom Stechuhr-Denken«, sagt Jürgen Zulley, Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums der Universität Regensburg, dessen beruflicher Titel bereits ausplaudert, dass ihm alle Menschen potentielle Patienten sind.
Wahr daran ist, dass der Schlaf gesellschaftlich heute tatsächlich als die Störung erscheint, von der die Schlafmediziner ihn vermeintlich kurieren wollen. Die Individuen selbst empfinden ihn als archaisches Relikt, dessen sich selbstbewusste Gegenwartsmenschen schämen müssen wie der Liebe, der Entzückung oder der Trauer. Das Antlitz des glücklich Schlafenden aber ist das Urbild der Gewaltlosigkeit wie der Wehrlosigkeit ohne Angst. In ihm nimmt das Leben seine blinde Rohheit zurück im Namen des ewigen Friedens, der nichts anderes wäre als das vom Naturzwang befreite Leben selbst. Deshalb leuchtet allein im Antlitz des Schlafenden, der doch wie aus der Welt gefallen scheint, die unverwechselbare Physiognomie des individuellen Menschen auf, der er im Alltag nicht ist. Deshalb auch ist die Nacht nicht nur die Zeit des Schlafs, sondern auch der Liebe, die wie der glückliche Schlaf das grelle Licht der schlechten Welt fürchtet. In den Zeilen von der Nachtigall und der Lerche, die die bange Eintracht von Liebe und Schlaf in unwiederholbarer Schönheit zum Ausdruck bringen, blitzt die Erkenntnis auf, dass der Tag, der das Glück zerstört und seither nicht aufgehört hat, immer wieder zu beginnen, nicht der wirkliche Tag ist, zu dem die Menschheit erst erwachen muss.