Die SPD und Merkels Krisenpolitik

Das heroische Bekenntnis zum Sachzwang

Die deutschen Sozialdemokraten wollen in der Europa-Politik kaum etwas anderes als die Regierung von Angela Merkel. Gleichwohl präsentieren sie ihre Position als eine gänzlich verschiedene.

»Wir wissen doch, dass es bei jeder Medizin auf die richtige Dosis ankommt«, schwadronierte SPD-Chef Siegmar Gabriel am Freitag voriger Woche gegenüber Spiegel Online. »Das Medikament kann richtig und trotzdem tödlich wirken, wenn man zu viel davon verabreicht bekommt.« Politik kann so einfach sein: Im Prinzip ist alles okay, aber wenn wir nicht aufpassen, kann alles ganz schnell den Bach runtergehen. Wir – das sind für gewöhnlich die Sozialdemokraten.
Gabriels Metapher bezieht sich natürlich auf das Sparprogramm, das Bundeskanzlerin Angela Merkel Griechenland diktiert hat. Gabriels Mischung aus Zustimmung und Kritik würde andernorts als schizophren durchgehen, im bundesdeutschen Politikbetrieb signalisiert der Vorsitzende der SPD damit aber »Verantwortungsbewusstsein«, also Staatstreue – Merkel hat im Prinzip recht –, und gleichzeitig den besseren Durchblick – Merkel zieht es zu rigoros durch.
Das ist jene schon klassisch zu nennende sozialdemokratische Haltung aus dem Lehrbuch des aufgeklärten Marxisten-Leninisten: Die Vorgaben der herrschenden Politik werden anerkannt, aber sie müssen anders umgesetzt werden. Sonst verkehrt sich die Wirkung der Mittel in ihr Gegenteil und wird destruktiv. Das ist der Clou der SPD-Logik: Die Partei will zwar kaum etwas anderes als die Regierung (wenn sie selbst an der Macht ist: als die Vorgängerregierung), aber der Unterschied wird als einer ums Ganze dargestellt. Und das Ganze, um das es geht, ist die Einheit der Nation, die Garantie des sozialen Friedens.

Im Falle Griechenlands drückt sich diese Logik so aus: Auch die SPD ist für die Beibehaltung der Auflagen, aber der Zeitraum, in dem Griechenland ihnen nachkommen muss, wird verlängert. Hinzu kommen die Forderungen nach einem Schuldenschnitt um bis zu 60 Prozent und, um künftige Krisen – ja, tatsächlich: zu »vermeiden« (SPD-Jargon), die Einführung von Euro-Bonds und einer Finanztransaktionssteuer. Im Ringen um die Zustimmung zum EU-Fiskalpakt ist in den vergangenen Tagen die schwarz-gelbe Regierung der SPD in diesen Punkten durchaus entgegengekommen: Auch die Kanzlerin kann sich mittlerweile mit einer stärker als bisher in die Finanzmärkte eingreifenden Steuer anfreunden. Die SPD feiert das als ihren Erfolg, die Kanzlerin kann ihre Politik einmal mehr als ausgleichend und moderierend darstellen – unentschieden.
Gabriel träumt von einem sozialen Europa und hält sich auffallend stark mit patriotischem Vokabular zurück, aber letztlich bedient er die nationalistischen Klischees: »Wie soll ein Land«, fragt er rhetorisch den Spiegel-Interviewer, »in dem seit Jahrzehnten kein funktionierender Staat existiert, in kurzer Zeit eine Steuerverwaltung aufbauen?« Vor Jahrzehnten existierte in Griechenland bekanntlich eine Diktatur, war das noch ein »funktionierender Staat«? Gabriel würde selbstverständlich so etwas nie behaupten wollen, aber ein Hauch von Ausnahmezustand schwingt in solchen gut gemeinten Stoßseufzern schon mit.
Verräterisch klingen solche Äußerungen vor dem Hintergrund, dass dem angeblich nicht-funktionierenden Staat einst der Zutritt zur Eurozone gewährt wurde und Griechenland etwa als Ausrichter der olympischen Spiele sich längst in der Mitte der etablierten, unantastbaren Staaten­gemeinschaft wähnen konnte. Und wenn Gabriel über die zerstörerischen, raffgierigen, korrupten griechischen Regierungen schimpft und über die »Oligarchen, denen die Deutschen und die Europäer in den letzten Jahrzehnten immer freundlich die Hände geschüttelt haben«, könnte man ihn ja mal fragen, ob er sich erinnert, wie viele sozialdemokratische Händeschüttler sich darunter befanden.

Aber das ist freilich eine weitere, schier unverwüstliche Stärke der SPD: Sie ist ewig jung, kaum ist sie in der Opposition, nimmt man ihr die Ernsthaftigkeit ab, mit der sie gegen die Fortführung der Politik kämpft, die sie als Regierungspartei selbst betrieben hat. Das funktioniert bei ihrer Klientel, nicht weil diese so vergesslich ist, sondern weil die Sozialdemokraten ihr Handeln in letzter Instanz mit dem Wohl der Nation verknüpfen. Die Partei geriert sich als Garant von sozialem Frieden und demokratischer Gestaltung, steht also immer für ein politisch höheres, allgemeineres Projekt als ein individualistischer Liberalismus oder ein Konservatismus, der noch in Konfessionen, Ständen und Eliten verankert ist. Man – also die Wählerschaft wie auch die politische Konkurrenz – mag die SPD bisweilen hassen, aber man nimmt ihr ab, dass sie selbstlos handelt und einfach nicht anders kann, als das zu tun, was sie gerade tut. Dabei ist es egal, dass sich Gabriel in ein und demselben Interview widerspricht: sich deutlich zum Fiskalpakt bekennt (wenn auch erweitert um eine Investitionsperspektive), somit zum prinzipiellen Spardiktat, gleichzeitig aber ein demokratischeres Europa fordert und das Ganze mit einem markigen »Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Das funktioniert auf Dauer nicht« garniert. Was der Inhalt der Demokratisierung ist, bleibt unklar, irgendwas in dieser Art: weniger Bürokratie, mehr wirtschaftlicher Ausgleich, mehr Mitbestimmung (die die SPD an ihre Warnung Griechenlands vor einem Euro-Austritt koppelt). Europa soll sozialer und gerechter werden, ohne dass die wirtschaftliche Vormachtstellung Deutschlands bedroht würde. Spätestens hier dürfte Gabriels Publikum indes sanft entschlummert sein, fängt doch mit der emphatischen Rede von der Demokratie das Wunderreich sozialdemokratischer Visionen an. Die Verwirk­lichung dieser Visionen hat noch niemand erlebt, was die Leute von der SPD erwarten, ist ihr heroisches Bekenntnis zum Sachzwang.
Als Ironie der Geschichte folgt, dass die Siegerin am Ende dann doch wieder Angela Merkel heißt. Die übernimmt einfach einen Teil der Forderungen der SPD, ganz pragmatisch und unideologisch. Auch die Kanzlerin ist keine Fundamentalistin und weiß sich gegen den immer schlechteren Ruf der deutschen Politik im Euroland zu stemmen. Aber in Maßen, ein bisschen Angst sollen die Chaoten da draußen vor den Deutschen schon noch haben.