Zum Tod von Heinz Paetzold

Die Moderne redigiert

Am 9. Juni ist der Kulturphilosoph und Kritische Theoretiker Heinz Paetzold gestorben.

Dem Schulbegriff der Philosophie setzt Immanuel Kant ihren Weltbegriff entgegen: Danach heißt die Philosophie »die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft«. Das ist das unhintergehbare Credo aller Aufklärung, auch und gerade dort, wo Aufklärung selbst auf den Schulbegriff zurückfällt. Was das für die Kritische Theorie der Gesellschaft bedeutet, haben Adorno und Horkheimer in ihrer »Dialektik der Aufklärung« knapp eineinhalb Jahrhunderte später, Anfang der Vierziger, festgehalten. Ihnen ging es um »die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt«. Keineswegs war damit die Frage suspendiert, in der noch Kants Philosophie ihrem Weltbegriff nach unbeschadet mündete: »Was ist der Mensch?« Sie ist gleichsam impliziert in der gesellschaftskritischen Einsicht, dass, solange unmenschliche Zustände herrschen, der Mensch nicht ist.
Solchen »realen Humanismus«, wie ihn Marx und Engels in ihren Frühschriften definierten, hat Heinz Paetzold zum Grundmotiv seiner philosophischen Forschung gemacht, die ihn, 1941 in Schlesien geboren, vom Studium in Köln, Heidelberg, Hamburg und Kiel über Gastprofessuren in Japan, Norwegen, Polen und China führte, wo er am 9. Juni während einer Forschungsreise in Xuzhou wenige Monate vor seinem 71. Geburtstag starb. Von 1977 bis 1992 war er Professor für Kommunikationstheorie am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Hamburg. In den Achtzigern war er Direktor eines Kurses für Sozialphilosophie an dem Inter-University-Center in Dubrovnik, in den Neunzigern Direktor des Departments of Theory an der Jan Van Eyck Akademie in Maastricht. Darüber hinaus lehrte Paetzold Kulturphilosophie und Ästhetik an der Universität Hamburg, an der Rijksakademie Van Beeldende Kunsten in Amsterdam und zuletzt, seit 1999, an der Universität Kassel. Sein Weltbegriff der Philosophie ist wörtlich zu nehmen und bezieht sich immer auf die Welt in ihrer Vielfalt und Weite als unbedingten Ort des Philosophierens. Biographisch wie philosophisch bewegte er sich in der Welt als Flaneur. Er nannte das einmal »the politics of symbolic strolling«.
Seinem theoretischen Projekt gab er den illusteren Titel einer »nochmaligen Transformation der transformierten Transzendentalphilosophie«. Gemeint war damit der Versuch, die mit dem linguistic turn in kommunikatives Handeln übersetzte Kritik der reinen Vernunft ein weiteres Mal zu drehen, um so die reine Vernunft auf den Boden dieser Welt zu stellen und abstrakte Erkenntniskritik mit konkreter Leiberfahrung zu verbinden.
Wer Paetzold liest, merkt sofort, auf welche Vielfalt von Theorien er sich bezogen hat. Keineswegs ist sein Zugriff auf die unterschiedlichsten Theorien affirmativ, wenn auch insofern wohlwollend, als er selbst Arnold Gehlen oder Shuzo Kuki und Tetsuro Watsuji in der Perspektive rettender Kritik rezipiert. In dieser Weise hat Paetzold auch Debatten überhaupt erst eröffnet: Es ist auch auf seine Initiative zurückzuführen, dass Philosophen wie Henry Odera Oruka oder Kwasi Wiredu im deutschsprachigen Raum bekannter wurden. So waren von Paetzold organisierte Symposien zumeist, wie er es nannte, cross disciplinary angelegt.
Im Zentrum seines Denkens steht eine Ästhetik, deren Programm er in seiner ersten Monographie entwirft: 1974 erschien in zwei schmalen Bänden seine »Neomarxistische Ästhetik«. Das Buch kann wohl als das erste gelten, das die ästhetischen Theorien von Ernst Bloch und Walter Benjamin sowie Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse in einen systematischen Zusammenhang bringt, kritisch diskutiert und zugleich eine luzide Einführung bietet. Das Interesse an der Ästhetik, insbesondere in Bezug auf die Kritische Theorie, war in den bundesdeutschen akademischen Diskursen der Siebziger keineswegs selbstverständlich.
Die posthume Veröffentlichung von Adornos »Ästhetischer Theorie« 1970 schien eher das Ende einer philosophischen Debatte zu markieren: Nachdem der Kunstbetrieb in den Sechzigern politisch wie ökonomisch an Bedeutung gewonnen hatte, hatte die Ästhetik, die bereits zu Adornos Lebzeiten keinen Bezug zur Gegenwartskunst fand, den Anschluss an die aktuellen Entwicklungen verloren. Kritische Impulse kamen jetzt aus der Literaturwissenschaft. Im doppelten, dialektischen Sinne formuliert Paetzolds »Neomarxistische Ästhetik« eine Kritik: Zur Disposition steht die Ästhetik überhaupt – als Ideologie, aber auch als die spezifische Instanz, diese Ideologie zu durchbrechen. »Es kann nämlich durchaus sein«, notierte Paetzold, »dass die ›Sache‹ der Ästhetik, auch wenn diese materialistisch kritisiert ist, damit noch nicht erledigt ist.«
Das führt ihn zum Entwurf einer Neufassung philosophischer Ästhetik, in Konvergenz mit der konzeptionellen Kunst: »Äußeres Indiz für den Typus konzeptioneller Kunst ist eine eigenständige Theorieform: die Künstlerästhetik. Diese erreicht nicht die Durchbildung des philosophischen Diskurses, sie hat vielmehr den Charakter phänomenologischer Evidenz«, heißt es in einem Thesenpapier von 1984. Das meint »erstens eine auch theoretisch formulierbare Bewusstheit der bildnerischen Elementardaten (Farbe; Raum usw.).« Und »zweitens die Durchdringung der künstlerischen Arbeit mittels theoretischer Reflexion«. Drittens wird hierbei »explizit, was aller Kunstproduktion immer schon vertraut war: Sinnliche Erfahrung folgt einer ihr eigentümlichen ›Logik‹«. Noch findet Paetzold diese »Logik« bei Alexander Gottlieb Baumgarten und Johann Wolfgang von Goethe. Wenige Jahre später entdeckt er sie in der Postmoderne.
Nachdem durch die Habermassche Abrechnung mit der Postmoderne ihre Rezeption in der BRD zunächst erschwert worden war, regte sich nun Interesse an einer offenen Kontroverse um die französische Philosophie. Wer kritisches Philosophieren lernen wollte, studierte bei Paetzold. Anfang der Neunziger hielt er am Fachbereich Philosophie der Universität Hamburg eine Vorlesung über Kunst und Architektur in der Postmoderne. Im selben Gebäude hatte Ende der zwanziger Jahre Ernst Cassirer als erster jüdischer Rektor in Deutschland gewirkt, 1933 wurde ihm der Lehrstuhl entzogen. Paetzold sprach oft davon. Nun stand er selbst hier, und was er jetzt mit der Postmoderne vorhatte, sollte gleichwohl in der Tradition der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen stehen. Paetzolds Vorgehen hat Methode und ist Methode.
Zu Beginn der Vorlesung wurden einige Dias mit Bildern van Goghs gezeigt. Die Frage nach Kunst und Architektur in der Postmoderne führte also zunächst in die Moderne, nach Arles in Frankreich, wo van Gogh 1888 die »Caféterrasse am Abend« malte. Nur schemenhaft sind auf dem Gemälde einige Menschen dargestellt; sie sind für das, was das Bild zeigt, unbedeutend. Durch Farbflächen wird hier ein Raum strukturiert, der mit der Anordnung von Häusern, Himmel, Straße und der Caféterrasse das erzeugt, was Paetzolds Freund und Kollege Gernot Böhme als »Atmosphäre« bezeichnet hat. Paetzold wollte das materialistisch und kritisch verstanden wissen. Ästhetisch ist solche Atmosphäre nur durch den Körper und seine Sinneswahrnehmungen zu begreifen, als konkrete Leiberfahrungen. Wie Cassirer versteht auch Paetzold hier Kunst als symbolische Form; diese Ästhetik hat aber auch eine Affinität zu dem, was der frühe Marx »wirkliche, sinnliche Tätigkeit« nannte. Damit konnten wir Studierenden zwar vage etwas anfangen, was das allerdings mit Postmoderne zu tun haben könnte, erschloss sich uns mitnichten.
Paetzold nahm das Bild van Goghs als Beispiel für seine philosophische Ästhetik, die nun noch weiter zurückführte. Die weiteren Vorlesungen widmeten sich der Renaissance und ihrem Verhältnis zum Leib. Paetzold erörterte Pico della Mirandolas Menschenbild und Albertis Zentralperspektive. Langsam ging es dann von Bruno über Leibniz zu Vico. Zur Hälfte des Semesters erreichten wir Kant, Schiller, Hegel, Schelling und Schopenhauer; die dazu gezeigten Bilder waren allerdings moderner: Cézanne, Kandinsky und gelegentlich sogar die Farbmalerei Raimer Jochims’. Zwischendrin nahm Paetzold den Faden des Atmosphärischen im Sinne einer Leibästhetik noch einmal auf – im Hinblick auf die Stadt; er referierte klassische Positionen wie aktuelle, von Lewis Mumford bis Kenneth Frampton. Mit Charles Jencks und Paolo Portoghesi kam die Vorlesung schließlich über die Architektur und Architekturtheorie in der Postmoderne an. Der Übergang zur Philosophie war schnell hergestellt – Lyotard, Kristeva, Baudrillard, Derrida etc.
Mittlerweile nicht mehr zählbare Namen, Theorien, Beispiele, Buchtitel waren zusammengekommen. Was mit van Gogh begann, führte zu Laibach und der Neuen Slowenischen Kunst. Abgeschlossen wurde die Geschichte nicht, erst recht nicht beendet. Vielmehr lieferte Paetzold das kritische Instrumentarium, diese Geschichte als Geschichte überhaupt erst zu konstruieren. Dieses Vorhaben verband den Humanismus der Renaissance, die Aufklärung und den Neuhumanismus mit dem realen Humanismus von Marx und Engels; und verstand insofern die Postmoderne nach einer Definition von Lyotard als »redigierte«, also neugeschriebene Moderne. In diesem Sinne bedeutete für Paetzold die Konstruktion der Geschichte immer auch ihre Rekonstruktion. Und das erschließt auch Paetzolds eigenen Zugang zur Postmoderne: Pluralität verstand er nicht als Faktum, sondern als Aufgabe. Das »Anything goes« galt ihm gleichsam als konkrete Utopie, die erst noch herzustellen war, und zwar gerade deshalb, weil eben keineswegs alles möglich ist.
Die Wege, auf denen sich der Flaneur, der er war, bewegte, führten ihn nach links. Nachmittags beim koffie verkeerd, was in den Niederlanden der Milchkaffe ist, war er der Linksradikale, ein Sympathisant der Amsterdamer Kraaker. Abends beim Portwein, den er liebte, war er wieder der, der er früher mal war, der Anarchist und Maoist. Das Rote Buch war seine Bibel, für die Propaganda der Tat hatte er durchaus Verständnis, die blaue Einheitskleidung der chinesischen Genossen fand er sinnvoll, praktisch und schick. In diesen Momenten befand er sich irgendwo zwischen konkreter Utopie und Volksrepublik. Seine letzte Reise endete ebenda.