Ihre schönsten EM-Erlebnisse

Mein schönstes EM-Erlebnis

Wir befinden uns im Jahr 2012 n. Chr. Ganz Deutschland feiert besinnungslos seine Fußballjungs … Ganz Deutschland? Nein, eine von unbeugsamen kritischen Geistern bevölkerte Szene hört nicht auf, der Besetzung von Zeit und Raum durch das Spektakel Widerstand zu leisten. Die Jungle World fragte Autorinnen und Autoren nach ihren Eindrücken.

Arjeeeeeeeeen!

Die EM ist großartig bisher. Das liegt vor allem daran, dass Arjen Robben mitspielt. Ja, Robben, der hier in Deutschland mittlerweile noch unbeliebter ist als Angela Merkel. Und das nur, weil er, wenn er einen Elfmeter verschießt, dabei immer noch besser aussieht als die anderen Jungs, wenn sie den Ball im Tor versenken. Und zwar viel besser. Nun spielt er in Orange. Das steht ihm noch viel besser.
So wie Mitte voriger Woche, im Spiel gegen Deutschland. Kaum wurde angepfiffen, erreicht mich eine SMS. Sie ist von meinem Freund Aron, der ohne Internet in einem Zug sitzt und mich bittet, ihn via SMS auf dem Laufenden zu halten. Aron ist ein großer Fan der deutschen Nationalelf.
Sonst ist er aber ein echt netter Kerl.
Ich verzeihe ihm mittlerweile auch, dass er mir in der 24. und 38. Minute, nachdem ich ihn über die Gomez’schen Aktivitäten unterrichtet habe, nur ein Wort zurücksimst. Das Wort hat vorne ein großes T, in der Mitte viele Os und hinten ein kleines R.
Das ist mittlerweile aber alles vergessen und vergeben. Denn es gab einen Moment, der mich für die Niederlage entschädigt hat: Nein, es war nicht das Gegentor von van Persie. Es war der Moment, als Robben sein Hemd ausgezogen hat. Am Spielfeldrand. Nur für mich. Diese EM ist so sexy!
Ramona Ambs

Zombies in Schwarz-Rot-Gold

Kleinstädte haben für Menschen aus der Großstadt ja immer etwas Gruseliges an sich. Zumindest mich erinnern sie in erschreckender Weise an genau die Orte, in denen in all den Zombiefilmen oder »John Sinclair«-Hörspielen das Grauen seinen Anfang nimmt. Und genau in so einer Kleinstadt befand ich mich zusammen mit einigen Freunden an jenem Samstagabend, als die DFB-Auswahl gegen das Team aus Portugal spielte und gewann.
Es war kurz nach dem Abpfiff, als sie plötzlich auftauchten. Von allen Seiten kamen sie. Mit schlurfendem Gang, sich gegenseitig stützend, rotteten sie sich auf den Hauptausfallstraßen zusammen und blockierten unseren Fluchtweg. Da waren sie. Ihre Haut entstellt von schwarz-rot-gelbem Ausschlag. Ihr Atem nach schalem Warsteiner stinkend. Ihr Wortschatz zusammengeschrumpft auf nur noch ein einziges Wort.
»Deutschland« riefen sie. Immer wieder. Die Augen starr geradeaus gerichtet. Keine Menschlichkeit war ihnen mehr geblieben. In ihnen war nur noch der Urtrieb, zu marschieren und Volk zu sein. Sie kamen immer näher. Ihre verschwitzten Hände griffen nach uns und wollten uns umarmen. Dann verlor ich das Bewusstsein. Ich erwachte in Berlin. Es war alles nur ein Traum.
Jan Tölva

Besinnungsaufsatz

Unsere Redakteurin, die Frau Wittich, hat uns aufgegeben, bis zur nächsten Ausgabe etwas über unser schönstes EM-Erlebnis aufzuschreiben. Bei mir war das natürlich der Moment, wo der Jogi, also unser Herr Bundestrainer, während des Fußballspiels gegen die Holländer sich von hinten an einen Balljungen herangeschlichen und dem den Ball weggestubst hat. Das war lustig! Nun hat aber die Frau Wittich erzählt, dass das gar nicht während des Fußballspiels passiert ist. Das wurde vorher mit der Kamera aufgenommen und nur während des Spiels im Fernsehen gezeigt. Außerdem habe ich gehört, dass die überhaupt nicht alles im Fernsehen zeigen: Wenn ein nackter Mann über den Platz läuft, sieht man das nicht. Oder wenn es lustige bunte Feuerchen in den Kurven gibt, wird das auch nicht gezeigt. Das sind nämlich Bilder, die wir nicht sehen wollen, sagt dann der Mann, den wir nicht sehen können. Und wenn das Spiel langweilig ist, dann zeigen die vom Fernsehen einfach ganz tolle Spielerfrauen oder machen ganz tolle Schnitte, so wie wenn Musikbands ihre Videos machen, und dann alle glauben, das Spiel wäre auch ganz toll. Als ich hörte, dass das mit dem Jogi und dem Balljungen gar nicht während des Fußballspiels passiert ist, da war ich sehr enttäuscht. Jetzt habe ich kein schönstes EM-Erlebnis mehr. Und ich will auch keins mehr!
Martin Krauß

Mein EM-Moment so far

Seit es einen guten Teil der »Rijkaard Jugend« aus der schönen Pfalz nach Berlin verschlagen hat, ist man bei Spielen der Niederlande nicht mehr ganz allein. Hatten wir vor zwei Jahren schon einige nette Abende bei Amstel und Frikandel spezial im tollen Imbiss »De Molen« in Friedrichshain verbracht, fiel unsere Wahl diesmal auf das »Mokum« in Prenzlauer Berg. Wenn man an einem Ort von Deutschtümelei verschont bleiben sollte, dann doch auf jeden Fall in einer holländischen Bar.
Weit gefehlt, als hätten sie nicht genügend andere Plätze in Berlin zum Rumdeutschen gefunden, waren sie auch hier zuhauf: Irokesendeutsche und andere Trottel. Und als wollten sie beweisen, dass sie noch schlechtere Gewinner als Verlierer sind, fingen sie kurz vor Schluss an, den Klassiker zu singen: »Schade Holland, alles ist vorbei.«
Ein Moffen neben mir riet mir, ich solle »doch nach Amsterdam gehen«. Um das Maß vollzumachen, konnte ich auf dem Nachhauseweg gerade noch einer Tracht Prügel entfliehen. Ein paar hässlichen Fahnendeutschen rief ich noch ein paar Nettigkeiten hinterher, dann verfingen sich meine Schnürsenkel in den Pedalen. Die Fahnendeutschen waren zum Glück zu besoffen vom Vaterlandstaumel und haben ihre Chance nicht bemerkt. Ein Abend zum Vergessen.
Endi/Egotronic

Die Heile-Welt-Inszenierung

»Das sind Bilder, die wir nicht sehen wollen«: Dieser Satz aus dem Repertoire des Fußballkommentar-Bullshitbingos findet immer dann Verwendung, wenn Zuschauer sich irgendwie ungebührlich betragen. Bei der EM hat die Uefa diesen Wunsch nun erhört. Ob der Stadionsprecher die Fans auffordert, bitte nicht mit Feuerwerk zu zündeln, oder der Reporter von einem über den Rasen flitzenden Flitzer berichtet: Die Bildregie bewahrt das Fernsehpublikum konsequent vor den dazugehörigen Schreckensbildern. Dass man immerhin die Fouls zu Gesicht bekommt, ist schon fast überraschend angesichts solcher Bemühungen um die Inszenierung einer heilen Welt.
Dabei hätte es durchaus Informationswert, zu erfahren, wie groß etwa die Papierkugeln waren, mit denen die schwarz-rot-gelben Deppen die portugiesische Mannschaft beworfen haben – ob die Strafe von 10 000 Euro für den DFB gerechtfertigt ist, ließe sich besser beurteilen, wüsste man, ob die Wurfgeschosse nun einen Durchmesser von einem Zentimeter oder einem Meter hatten. Bei der Verkehrsdurchsage »Tiere auf der Fahrbahn« möchte man ja auch gerne wissen, ob es sich um Mäuse oder Elefanten handelt.
Den Ton allerdings hat die Regie noch nicht im Griff, und das ist gut: Durch das ungedimmt gesendete »Sieg!«-Gebrüll der deutschen Fans ist das gesamte fußballguckende Europa gewarnt, was es mit dem deutschen »Party-Patriotismus« tatsächlich auf sich hat.
Svenna Triebler

Asynchronität 1+2

1. Draußen lief nur Radio. In der Scheune mit dem Fernseher durfte man aber nicht rauchen. Der Gastgeber, als er die Sorge der Raucher bemerkte, sprach also: »Fernsehen ist immer fünf Sekunden später als Radio. Wenn ihr hört, dass ein Tor fällt, habt ihr noch genug Zeit, reinzurennen und es live zu sehen.« – »Das ist doch aber dann gar nicht mehr live«, sagte ein anderer, und für fünf Sekunden fühlte ich den süßesten Schwindel, scheinbar durch plötzliche tiefe Einsicht ins geheime Wesen der Zeit. In Wahrheit aber wohl doch wieder nur vom Bier.
2. Auch habe ich einen ungewöhnlichen, nämlich reporterverursachten Fall freiwilliger Komik zu melden. Er ereignete sich beim Spiel England-Frankreich. Die blasse Begegnung sah ich, da die Sonne doof stand, auf einer sehr blassen Leinwand. Vor der Leinwand stand eine Bierbank, die ein Vater als idealen Ort ermittelt hatte, den Intimbereich seines Sohnes von Kot zu säubern. Grad, als sich die kleinen Einzelmissstände Spiel, Bild und Bank zu einem gemütsverdüsternden Ärgernis zu summieren drohten, sagte Kommentator Thomas Wack: »Die Zeitlupen aus der ersten Halbzeit sind die Höhepunkte der zweiten.« Da musste ich lachen.
Jens Friebe

Warten auf die Herzen

Wann und wie offenbart sich das Deutsche in Deutschland? Diese tief im Umbewussten schlummernden Gefühle der Nation? Da im Gegensatz zu »Les bleus« für Deutschland »Die Nationalmannschaft« spielt, sind »die Jungs« im nationalen Auftrag unterwegs. Eine Mannschaft, eine Nation.
Diese Nation findet sich auf den Straßen als Prozession, von Fahnen umwickelt, oder, klassisch, sie in der Hand haltend. Kollektive Ekstase, auch schon mal mit Reichskriegsflagge, wie 2010 in Göttingen. Aber man begeistert sich ja eigentlich für die gleiche Sache, im Zweifelsfall ironisch.
Unbeteiligte können die Verhaltensdynamik in dem Buch »Die Welle« kennenlernen. Bekenne dich, dann bist du dabei. Wer nicht mitmacht, wird aufgefordert, später angepöbelt. Immerhin: Eine Niederlage beendet alles schnell und geräuschlos. Gerüchte über gemeinschaftliches Tränentrocknen konnten noch nicht bestätigt werden. Die Niederlage wird mit dem Additiv »… der Herzen« versehen. Bisschen »Sieg« ist immer, zumindest im Geiste.
Jan Frederik Wienken