Die katastrophale Flüchtlingspolitik der EU am Beispiel Italien

Stresstest fürs Abschieben

Neue Dokumente zeigen die katastrophalen Zustände der italienischen und europäischen Flüchtlingspolitik auf.

In Italien geriet der Internationale Flüchtlingstag am 20. Juni einmal mehr zu einer Gedenkveranstaltung. In der Straße von Otranto, der schmalen Mittelmeerenge im Südosten des Landes, war ein Flüchtlingsboot gekentert, vier Männer konnten nach einer anonymen Notrufmeldung gerettet werden, mindestens sieben weitere blieben vermisst. Integrationsminister Andrea Riccardi brachte sein Bedauern zum Ausdruck, die von ihm gegründete katholische Glaubensgemeinschaft Sant’Egidio hielt in Rom eine Mahnwache ab. Seinen Beteuerungen, Italien nehme die in der Verfassung festgeschriebene Verantwortung gegenüber Flüchtlingen ernst und garantiere ein gerechtes Asylverfahren, widersprachen jedoch die Äußerungen der Innenministerin.

Anna Maria Cancellieri war Anfang April nach Tripolis gereist und hatte dort ein Abkommen mit der libyschen Übergangsregierung unterzeichnet, dessen Inhalt nicht veröffentlicht wurde. In einer kurzen Pressemitteilung des Ministeriums war damals nur eine »neue Phase der Zusammenarbeit« bei der Bekämpfung krimineller Schlepperorganisationen angekündigt worden. Nun aber wurden Einzelheiten des Abkommens bekannt, die den Verdacht nahelegen, es handele sich um eine grundsätzliche Bestätigung des 2008 mit Muammar al-Gaddafi geschlossenen italienisch-libyschen Freundschaftsvertrags. Demnach beteiligen sich italienische Polizeikräfte weiterhin an der Ausbildung ihrer libyschen Kollegen und an der Kontrolle und Überwachung der libyschen Küste, »um die freiwillige Rückkehr der Migranten in ihre Ursprungsländer zu begünstigen«.
In einem Interview mit der Turiner Tageszeitung La Stampa versicherte Cancellieri, Italien respektiere das im Februar ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs und verzichte zukünftig auf Abschiebungen auf offener See. Gleichzeitig aber stellte sie klar, dass ihr Land sich weiterhin bemüht, die Ausreise von Flüchtlingen aus Libyen Richtung Europa zu verhindern. Zu diesen Bemühungen zählt auch der Bau eines »Gesundheits­zentrums« in Kufra. Vorwürfe von Amnesty International, wonach in den Lagern der südlibyschen Wüstenoase Flüchtlinge aus der Subsahara wie zu Zeiten des Gaddafi-Regimes eingesperrt und misshandelt würden, nannte die Ministerin »ideologische Vorurteile«.

Mehr noch als die Tagesmeldungen dokumentiert ein von der Non-Profit-Organisation »A buon diritto« (Mit gutem Recht) zum Weltflüchtlingstag vorgelegtes Dossier die Kontinuität der italienischen Flüchtlingspolitik. In der Analyse mit dem Titel »Lampedusa ist keine Insel« wird die Lage von Flüchtlingen in Italien vor dem Hintergrund der Situation auf Lampedusa im Frühjahr 2011 rekapituliert. Die Soziologen Luigi Manconi und Stefano Anastasia, die das Dossier unter Mitarbeit namhafter italienischer Rechtswissenschaftler erstellt haben, interpretieren die Krise auf der südlichen Bastion der Festung Europa als »Stresstest«, den die italienisch-europäische Abschottungspolitik nicht bestanden habe.
Der Bericht beginnt mit einer detaillierten Chronologie der Ereignisse: Als im Januar vorigen Jahres mit den Aufständen in Tunesien der Arabische Frühling beginnt, sieht man in Italien keine Veranlassung, sich auf eine größere Zahl von Flüchtlingen einzustellen. Das Erste-Hilfe-Aufnahmezentrum (CSPA) auf Lampedusa bleibt geschlossen, die ersten Boatpeople werden in Hotels untergebracht oder auf das Festland in Asylbewerberzentren (CARA) ausgeflogen. Als die Regierung Mitte Februar das CSPA endlich öffnet, reichen die dortigen 850 Plätze längst nicht mehr aus. Auf der Insel sind mittlerweile mehrere tausend Flüchtlinge angekommen, die gezwungen sind, am Hafen unter freiem Himmel zu kampieren. Mit den Bildern aus Lampedusa wird eine »Flüchtlingsinvasion« vorgetäuscht, der damalige Innenminister Roberto Maroni warnt vor einem »biblischen Exodus«. Dieser Propaganda widerspricht jedoch sogar die europäische Grenzagentur Frontex. Insgesamt werden für das Frühjahr 2011 weniger als 50 000 Flüchtlinge in Italien registriert. Später bestätigen die Vereinten Nationen, dass weniger als zwei Prozent der libyschen Kriegsflüchtlinge nach Europa kamen.
Für die Autoren des Dossiers waren die Zustände auf der Mittelmeerinsel im Frühjahr 2011 der Höhepunkt einer verfehlten Immigrationspolitik, die 2002 mit der Einführung des repressiven Bossi-Fini-Gesetzes begann, während der kurzen linksliberalen Regierungsperiode unverändert blieb und schließlich von Silvio Berlusconis dritter Rechtsregierung in den Jahren 2008 bis 2011 kontinuierlich verschärft wurde. Der Bericht dokumentiert, wie mit jeder Gesetzesänderung die Diskriminierung und Kriminalisierung von Migrantinnen und Migranten zunahm, so dass immer mehr zu clandestini gemacht wurden und immer mehr dieser »Illegalen« in Abschiebelagern oder Gefängnissen landeten.

Jede »Flüchtlingsinvasion« erzeugt einen »Notstand«, mit dem »Sonderregelungen« und eine weitere Militarisierung des Abschiebesystems gerechtfertigt werden. Im Frühjahr 2011 wurden zunächst auf ehemaligen Militäranlagen in Süditalien Notunterkünfte errichtet. Für die öffentlichen und privaten Betreiber dieser »Zwischenlager« ist das ein lukratives Geschäft: Staatliche und europäische Hilfsgelder in Milliardenhöhe entschädigen für den vermeintlichen humanitären Aufwand. Massenfluchten aus diesen Lagern werden gelegentlich von rassistischen Bürgerwehren, selten nur von staatlichen Ordnungskräften verhindert, schließlich lebt insbesondere die Agrarwirtschaft Süditaliens von der Arbeitskraft illegalisierter afrikanischer Einwanderer.
Für die Betroffenen hat diese gleichermaßen improvisierte wie repressive Politik katastrophale Folgen: In den chronisch überbelegten Einrichtungen herrschen unzumutbare hygienisch-sanitäre Bedingungen, immer wieder bezeugen Handyvideos Schikanen und Misshandlungen durch das Personal. Vor allem aber schafft das vielschichtige System der Abschiebelager eine grundsätzliche Rechtsunsicherheit. So waren zunächst gegen Tausende tunesischer Flüchtlinge Strafverfahren wegen illegaler Einwanderung eingeleitet worden, ehe per Regierungsdekret knapp 25 000 Flüchtlingen, die vor dem 5. April 2011 in Italien angekommen waren, eine befristete Aufenthaltsgenehmigung bewilligt wurde, die im Mai diesen Jahres pauschal verlängert wurde. Wer nach diesem willkürlich festgesetzten Datum aus Tunesien eingereist ist, gilt dagegen als »illegal« und wird »zurückgeführt«. Außerdem hocken mehr als 20 000 libysche Flüchtlinge weiterhin in überfüllten CARA-Zentren, wo ihre Asylanträge noch gar nicht bearbeitet oder unter rechtswidrigen Umständen voreilig abgelehnt wurden.
Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats ertranken im vergangenen Jahr 2 000 Menschen im Kanal von Sizilien, Hunderte sind es bereits in diesem Jahr. Die internationale Kampagne »Boats4People«, die kommendes Wochenende in Rosignano/Livorno beginnt, will die Öffentlichkeit auf das europäische Grenzregime an den Mittelmeerküsten aufmerksam machen und die Rechte von Bootsflüchtlingen verteidigen. Die euro-afrikanische Solidaritätsflotte wird über Palermo in die tunesische Hafenstadt Monastir fahren und will Mitte Juli auf Lampedusa anlegen, wo diesen Sommer keine »Flüchtlingstragödie«, sondern ein Filmfestival zum Thema Migration stattfinden soll.