Einführung in die Fußballtheorie. Teil 2

Der Ball rollt wie bei Bismarck

Zur Einführung in die schönste Hauptsache der Welt, Teil 2.

Im vorigen Teil (Jungle World 26/12) wurde der Protestantische Fußball vorgestellt. Hier folgen die drei anderen möglichen Spielweisen beim Fußball:

Atomisierter Fußball

Mannschaften: Real Madrid (vor und nach Mourinho), Manchester City; All-Star-Teams; Nationalelf von Brasilien.

Die atomisierte Spielweise entsteht, wo eine große Zahl von Einzelkönnern, aber kein Bedürfnis nach Disziplin vorhanden ist. So finden sich auf dem Spielfeld elf Häuptlinge, die in Ermangelung von Indianern ihren Willen nicht durchsetzen können. Die Spieler der Mannschaft verhalten sich zueinander wie Konkurrenten auf dem freien Markt. In seiner Ablehnung eines organischen Ganzen ist der Atomisierte Fußball die Anwendung der Ethik von Adam Smith und erweist sich als der schönere Bruder des Protestantischen Fußballs. Während dort Hard- und Software auf demselben (jämmerlichen) Stand sind, gleicht der Atomisierte Fußball einem hochmodernen, leistungsfähigen Rechner, auf dem Windows 3.11 läuft.
In der Defensive arbeitet er in der Regel mit einer simplen, weit nach vorn gezogenen und daher leicht zu überwindenden Raumdeckung, die sich stets auf die Seite des Feldes verschiebt, in der der Ball sich befindet. Die offensiven Spieler arbeiten wenig bis gar nicht nach hinten. Vorstöße werden seltener durch anspruchsvolles Passspiel vorgetragen als vielmehr durch Dribblings. Diese Spielweise kann nur von Spielern ausgeführt werden, die große Fähigkeiten am Ball besitzen. Sie erfordert aber kaum Intelligenz oder Verständnis für Spielverhalten. Taktik findet in diesem System nicht statt; bestenfalls als unverbindliche Vorgabe. Den Makel, dass ihre Spielweise leicht zu kalkulieren ist, machen die angreifenden Spieler durch ihre Technik wieder wett. Allerdings können sie von einer protestantisch spielenden Mannschaft, die sich nicht scheut, doppelte oder dreifache Manndeckung zu spielen, in Schach gehalten werden. Das völlige Fehlen von Disziplin und Intelligenz führt zudem zu einer Anfälligkeit dieser Mannschaften bei Standardsituationen und Konterattacken.
Der klassische Spieler dieses Systems ist eine Monade, und Monaden, sagt Leibniz, haben keine Fenster. Der Spieler vereinzelt sich auf dem Platz, Raum für Egoismus und manierierte Spielweise ist daher stets vorhanden.
Man erkennt in diesem System die Weltanschauung und Lebensweise des Liberalismus und Kapitalismus wieder, des unbedingt und absolut gesetzten Individualismus: die moderne Verlorenheit des Einzelnen in einem unerkannten und nicht gewollten Ganzen, das sich dem Subjekt so nur als Unordnung darstellen kann. Jeder stirbt für sich allein. Taktik wird nicht als Chance, sondern als Zwang begriffen. Während der Unmenschliche Fußball (s. u.) die Unterwerfung des Einzelnen unter ein abstraktes Ganzes fordert, ist das Wesen des Atomisierten Fußballs die Unterwerfung des Ganzen unter ein abstraktes Einzelnes. Das Resultat ist, wie stets im Liberalismus, die Geistlosigkeit im Ganzen, deren Schönheit im Einzelnen allerdings nicht geleugnet werden kann.

Systemfußball. Auch: Totaalvoetbal

Mannschaften: Arsenal, Barça, Ajax Amsterdam; Nationalmannschaften von Spanien und den Niederlanden. Neuerdings auch: BVB.

Der Totale Fußball ist dasjenige System, das am schwersten zu spielen ist, weil es in taktischer und technischer Hinsicht die höchsten Anforderungen an den einzelnen Spieler stellt. Die Defensive wird immer aggressiv ausgeführt: Selbst in der Verteidigung zieht die Mannschaft sich nicht zurück, sondern bedrängt den Gegner, bis sie den Ball zurückerobert hat. Das generelle Ziel ist Ballbesitz, denn solange man den Ball hat, kann der Gegner keine Tore schießen. Erforderlich ist allerdings ein Passspiel, das in Präzision und Tempo hinreichend ist, um den Ballbesitz zu behaupten. Der schnellste Mitspieler in diesem System ist immer der Ball. Der Gegner verbraucht daher selbst in der Defensive mehr Kraft als die Mannschaft, die den Ball führt. Innerhalb des Systems lässt sich der Akzent auf die Dynamik (Arsenal, BVB) oder auf dem Ballbesitz (Barça) legen. Das Prinzip ist dasselbe, nur dass der Abschluss verschieden schnell gesucht wird.
Der Totale Fußball beruht auf einem variablen Stellungsspiel, dem organisierten Wechsel der Positionen durch die Spieler, wodurch das Spiel weniger durchschaubar wird und altertümliche Defensivverfahren wie die Manndeckung ganz unmöglich.
Der Trainer des Totalen Fußballs kann alles und weiß alles. Er hat immer recht, und das ganz besonders dann, wenn er nicht recht hat. Die Spieler tun gut daran, ihn für einen Gott zu halten, weswegen es von Vorteil ist, wenn er wirklich einige göttliche Eigenschaften besitzt.
Die Haltung, die dieser Spielweise zugrunde liegt, ist der Versuch der Vermittlung von spielerischer Individualität und taktischer Ordnung, von Neigung und Pflicht. Das System erweist sich so als Einheit von Widersprüchen: Instinkt und Intelligenz, Spontaneität und Planung, Eigennutz und Verzicht. Der Einzelspieler muss sich dem System unterwerfen, erlangt aber in dieser Unterwerfung eine Freiheit seines Spiels, die ihm ohne dies verwehrt bliebe.
So reiht der Totale Fußball sich ein in die Linie der abendländischen Klassik, des Deutschen Idealismus und des Marxismus, praktisch entspricht er demnach den Verkehrsformen der Konstitutionellen Monarchie, des Tudor-Absolutismus, der Bismarck-Ära und des Neuen Ökonomischen Systems, aus welcher Verwandtschaft sich seine zwei kardinalen Eigenschaften erklären: a) dass er das vollkommene System ist und b) dass er meistens verliert.

Unmenschlicher Fußball. Auch: Catenaccio

Mannschaften: alle italienischen Vereine; Nationalmannschaft von Italien.

Die Welt dankt Italien nicht nur Gutes. Es hat ihr die Renaissance und eine vorzügliche Küche geschenkt, aber auch den Faschismus und den Catenaccio, zwei Formen der Unmenschlichkeit. Den Catenaccio erkennt man daran, dass sich auf dem Platz nichts ereignet. Wenn eine Mannschaft aus freien Stücken und unbedrängt einen Torversuch unternimmt, spielt sie keinen Catenaccio. Es wird immer mal wieder kolportiert, das Ausgangsschema sei ein 4-5-1. Beobachter des italienischen Fußballs wissen es besser. Das Schema des Catenaccio ist ein 10-0-0, immer. Angriffe gibt es bestenfalls als Konterstöße, der Rest sind Standardsituationen, bei denen allerdings kaum mehr als ein Spieler den gegnerischen Strafraum betritt. Im Catenaccio-Schema gibt es ausschließlich Abwehrreihen, und die hinterste besteht aus Spielern, die in ihrem Leben noch nie die Mittellinie übertreten haben.
Der klassische Spieler dieses Systems muss keinen Fußball spielen können und auch athletisch nicht besonders gut trainiert sein. Was er braucht, ist erstens eine vollkommene Freiheit von räumlichen Angststörungen und zweitens die Bereitschaft, sich einem taktischen Korsett bis zur Selbstaufgabe unterzuordnen. Diese absolute Entindividualisierung kann kein Mensch längere Zeit erleiden, ohne dass es nachhaltige Spuren hinterlässt.
Die verbreitete Behauptung, Ziel des Catenaccio sei das Ergebnis, ist grundfalsch. Ziel des Catenaccio ist die vollkommene Abwesenheit von Unterhaltung. Erst wenn vollkommener Ennui auf dem Platz herrscht, erst wenn auch der Gegner verzweifelt das Fußballspielen einstellt, ist der Trainer des Catenaccio zufrieden. Verlässt auch nur ein Zuschauer vergnüglich das Stadion, raubt ihm das den Schlaf. Hat seine Mannschaft mit mehr als einem Tor Vorsprung gewonnen, dann lässt er den Schützen des überflüssigen Tors Straftraining absolvieren.
Die dieser Spielweise zugrunde liegende Haltung ist somit die Menschenfeindlichkeit, erstens in Form der Gleichmacherei und Auslöschung der Individualität auf dem Platz und zweitens in Form der Kunst- und der Freudlosigkeit, die dieses Spiel bei den Zuschauern hinterlässt. Mit seiner Unterwerfung des Einzelnen unter ein abstraktes Ganzes entspricht der Cate­naccio den kollektivistischen Spielarten des Sozialismus, der völkisch-volkstümlichen Bewegungen Europas, der demokratischen Ideologie unserer Gegenwart, den fundamentalistischen Korporationen jedweder religiösen Bewegung, allen Wirtschaftsformen vor Erfindung der Arbeitsteilung und was an derartigen Scheußlichkeiten sich sonst noch in der Geschichte findet.
Übrigens glauben wir, dass Hegel seine Behauptung, dass das Wirkliche vernünftig sei, im Angesicht des Catenaccio noch einmal überdacht hätte.