Die Krisenpolitik nach dem Euro-Gipfel

Der Renitentere gibt nach

Überraschung: Selbst die »eiserne Kanzlerin« Angela Merkel ist zu Zugeständnissen bereit. Doch trotz der auf dem Euro-Gipfel vereinbarten Kompromisse verfolgt die deutsche Regierung in der Krisenpolitik weiterhin ihre grundsätzlichen Ziele.

So unbeliebt wie derzeit war Deutschland in Europa vermutlich zuletzt vor 70 Jahren. Das britische Magazin The New Statesmen bezeichnete Angela Merkel kürzlich als die »gefährlichste deutsche Führerin seit Hitler«. In spanischen, italienischen und griechischen Zeitungen fallen die Vergleiche zumeist nicht schmeichelhafter aus. Doch wirklich bedrohlich müssen für die Bundeskanzlerin die Äußerungen von Anton Börner wirken. »Die Stimmung gegenüber Deutschland kippt und ist deutlich kälter geworden«, klagte der Präsident des Verbandes der deutschen Exporteure vergangene Woche in der Wirtschaftswoche. »Man geht nicht gern in ein Geschäft, wenn man den Verkäufer unsympathisch findet.«

In fast allen Euro-Staaten wird die rigorose Sparpolitik der Bundesregierung für die katastrophale wirtschaftliche Entwicklung in Europa verantwortlich gemacht. Kurz vor dem Gipfeltreffen der Euro-Länder Ende vergangener Woche in Brüssel schwor Merkel pathetisch, es werde keine Euro-Bonds geben, »solange ich lebe«. Dies trug vermutlich nicht dazu bei, die Stimmung zu verbessern. Ein Scheitern des Gipfels schien beinahe unausweichlich.
Umso größer war die Überraschung, als die »eiserne Kanzlerin« in Brüssel in wesentlichen Punkten nachgeben musste. Italiens Ministerpräsident Mario Monti konnte gemeinsam mit seinem spanischen Amtskollegen Mariano Rajoy durchsetzen, dass die europäischen Rettungsfonds künftig »in flexibler und effizienter Weise« genutzt werden können, wie es in der Abschlusserklärung des Gipfels heißt. Demnach können Spanien und Italien Unterstützung vom Euro-Rettungsfonds bekommen, ohne wie bisher üblich mit der sogenannten Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds strenge Reformauflagen auszuhandeln. Marode Banken in Spanien und Italien können außerdem künftig direkte Hilfszahlungen aus dem »Euro-Rettungsschirm« erhalten.
Finanzielle Hilfe ohne genaue Auflagen und strikte Kontrolle galt der deutschen Regierung bislang als direkter Weg ins fiskalische Desaster, nämlich als gemeinschaftliche Haftung auf Kosten Deutschlands, deren Ende gar nicht abzusehen sei. Konservative Kommentatoren und selbst einige Politiker der Regierungskoalition bemühten daher düstere Verschwörungsszenarien, um die Brüsseler Beschlüsse zu erklären. »Es wurde ein Kesseltreiben veranstaltet. Um an unser Geld zu kommen, hat man Deutschland imperiale Gelüste vorgeworfen und uns den Hass der Völker prophezeit«, raunte Hans-Werner Sinn, der Präsident des Münchener Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Auf Merkel sei mehr Druck ausgeübt worden, als je ein deutscher Kanzler nach dem Krieg habe aushalten müssen. Auch Grüne und Sozialdemokraten hätten demnach beinahe Vaterlandsverrat begangen, weil sie zumindest indirekt die Politik der Südeuropäer unterstützten. Schließlich hatten beide Parteien vor dem Gipfel klargemacht, dass sie dem Fiskalpakt und dem dauerhaften »Rettungsschirm« ESM im Bundestag nur dann zustimmen würden, wenn ein europäischer »Wachstumspakt« zustande käme. In Brüssel hatte sich Italiens Ministerpräsident Monti geweigert, den Pakt zu unterzeichnen, solange es von deutscher Seite keine Zugeständnisse gebe.

Bundeskanzlerin Merkel befand sich damit in einer paradoxen Situation: Um die Zustimmung für einen Pakt zu erhalten, der sie eigentlich gar nicht interessierte, musste sie Kompromisse eingehen, die sie zuvor strikt abgelehnt hatte. Allerdings ist es mehr als fraglich, ob Merkel tatsächlich Opfer einer südeuropäischen Verschwörung geworden ist, oder ob eine solche Legendenbildung nicht vornehmlich dazu dient, die Verantwortung für unliebsame Entscheidungen abzuwälzen, die ohnehin gefallen wären.
Die Entwicklung zeigte in den vergangenen Wochen jedenfalls deutlich, dass ohne Änderungen im Krisenmanagement der »Euro direkt in die Hölle fährt«, wie es Mario Monti undiplomatisch formulierte. Die Zinsen für südeuropäische Staatsanleihen erreichten ein Niveau, das für die betroffenen Länder nicht mehr finanzierbar war. Insbesondere erwies sich die Hilfe für die maroden spanischen Banken, die erst Anfang Juni beschlossen worden war, als wirkungslos. Nach dem bisherigen Prinzip musste der spanische Staat die entsprechenden Kredite beantragen, um sie dann an die Banken weiterzuleiten. Weil dadurch das Staatsdefizit weiter anstieg, wurde Spaniens Kreditwürdigkeit herabgestuft. Rajoys Regierung drohte die akute Zahlungsunfähigkeit. In Brüssel deutete er an, dass seine Regierung die Beamtengehälter nicht mehr lange zahlen könne. Als Ausweg wäre ihm nur noch geblieben, Hilfe aus dem Europäischen Rettungsfonds zu beanspruchen. Dessen Kapazitäten reichen aber höchstens noch für Spanien. Käme Italien hinzu, wäre die Währungsunion gescheitert.
In diesem Land neutralisieren die zusätzlichen Zinskosten für neu aufgenommene Staatsanleihen mittlerweile alle Wirkungen, die durch die rigiden Sparmaßnahmen der Regierung Monti erzielt wurden. Ohne handfeste Verhandlungserfolge in Brüssel, so viel war bereits vor dem Gipfel klar, wäre Monti, wie auch Rajoy, wohl nicht mehr lange im Amt geblieben. Die beiden konservativen Politiker stehen Merkel ideologisch nahe – mit wem sollte ihr überhaupt noch eine gemeinsame Euro-Politik gelingen, wenn nicht mit ihnen? In Italien wurde Montis Erfolg begeistert gefeiert. Dass die Regierung in Rom Massenentlassungen in der öffentlichen Verwaltung und drastische Kürzungen im Gesundheitswesen plant, geriet dabei fast zur Nebensache.
Von einer Abkehr von der bisherigen Politik unter dem Motto »Kontrolle vor Haftung«, die Merkel so vehement wie beratungsresistent vertritt, kann zudem keine Rede sein. Eine direkte Hilfe für Banken wird es erst geben, wenn eine europäische Kontrollbehörde unter Aufsicht der EZB eingeführt ist. Zudem kommt Merkel durch den Brüsseler Kompromiss ihrem eigentlich Ziel deutlich näher: der Durchsetzung des Fiskalpaktes in der Euro-Zone. Dieser sieht ein Reglement vor, das keine Troika jemals in den entsprechenden Ländern durchsetzen könnte. Italien müsste demnach beispielsweise innerhalb weniger Jahren seine Staatsverschuldung von fast zwei Billionen Euro halbieren. Und selbst wenn Merkel gegen wachsenden Druck von außen kämpfen muss, so kann sie sich zumindest zu Hause einer loyalen Opposition erfreuen. In grundsätzlichen Fragen wie der des Fiskalpakts kann sie auf Grüne und Sozialdemokraten zählen, das haben am vergangenen Freitag hat die Abstimmungen im Bundestag und im Bundesrat gezeigt.

Auch in anderer Hinsicht ist die Aufregung über die neuen Vereinbarungen schwer nachvollziehbar. In Deutschland scheint man sich eher davor zu fürchten, anderen Staaten Sicherheiten zu bieten, als vor einem Ende der Euro-Zone. Schließlich handelt es sich bislang bei den geleisteten Hilfen »in erster Linie um grundsätzliche Zusagen und weniger um Geld, das tatsächlich fließt«, wie selbst Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) Anfang dieser Woche sagte. Scheitert der Euro, dann hätte Deutschland aber tatsächlich katastrophale Folgen zu befürchten.
Nach wie vor gehen etwa 60 Prozent der deutschen Exporte ins europäische Ausland. Die sinkende Wirtschaftskraft in den meisten anderen EU-Staaten ist daher auch ein Problem für die Bundesregierung. Wenn sich an der dramatischen Situation nichts ändert, dann werden die Folgen bald auch in Deutschland deutlicher zu spüren sein. Merkel hat auf diese Entwicklung reagiert. In Brüssel hat sie gezeigt, dass sie kurzfristig flexibel genug ist, um ihre langfristigen Ziele zu erreichen.