Es ist auch nur eine staatliche Behörde

Die weißen Lätzchen der Bourgeoisie

Das Bundesverfassungsgericht ist nicht besser als jede andere staatliche Behörde.

Kein anderes der bundesdeutschen Staatsorgane hat ein derart hohes Ansehen wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Mithalten kann da allenfalls der Bundespräsident, seit er Joachim Gauck heißt, welcher viel zu reden, aber nichts zu sagen hat. Ganz im Gegensatz zu den 16 Richterinnen und Richtern mit den feuerroten Roben und Hüten und den weißen Lätzchen um den Hals. Die Entscheidungssammlung des Gerichts umfasst mehr als 3 000 Entscheidungen.

Da ist für alle etwas dabei. Einmal retten die Richter den Sozialstaat, indem sie die Berechnung der Hartz-IV-Sätze kippen. Mal verhindern sie den Überwachungsstaat, indem sie den Großen Lauschangriff oder die Vorratsdatenspeicherung verwerfen. Indem das Gericht die Rechte des deutschen Parlamentes beim europäischen Integrationsprozess stärkt, wird es zum Retter von Demokratie und Nationalstaat. Und solange »Ausländer raus« wie in einem Urteil aus dem Jahre 2010 als schützenswerte Meinung betrachtet wird, kann die deutsche Gesellschaft sicher sein, dass die linke Gesinnungspolizei in ihre Schranken verwiesen wird.
Beifallsstürme für das BVerfG sind daher schon aus allen politischen Lagern zu vernehmen gewesen. Auf dem Sommerfest des Fanclubs der Karlsruher Juristenschaft müsste eigentlich mehr Andrang herrschen als auf der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor. Umso bizarrer ist, dass auch Kreise, die sich als emanzipatorisch gerieren, regelmäßig nichts als Bewunderung für das Gericht übrig haben. Während sich gesellschaftlicher Protest üblicherweise – wenn auch viel zu selten – gegen die Politik von Regierung und Parlament richtet, muss die Dritte Gewalt und erst recht das BVerfG Widerstand und laute Kritik nicht befürchten.
Dabei hat das Gericht die hegemoniale Politik in der bundesdeutschen Geschichte zuverlässig gestützt. Ebenso wie das Strafgesetzbuch, hat es in der frühen Bundesrepublik homosexuelle Handlungen als unsittlich und strafwürdig bezeichnet. Die Berufsverbote gegen sogenannte »Extremisten« hat es in den siebziger Jahren durchgewunken, da sie zur Sicherung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung erforderlich seien. Bis heute dürfen auch aus Sicht der Verfassungsricher Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich bestraft werden, anstatt die Entscheidung in jedem Fall der schwangeren Frau zu überlassen. Die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl wurde nicht nur 1992 vom Parlament beschlossen, sondern drei Jahre später auch vom BVerfG als rechtsstaatlich unbedenklich abgenickt.
Eine große Demonstration gegen das BVerfG fand nur einmal statt. 25 000 Menschen demonstrierten 1995 vor der Münchener Feldherrenhalle gegen einen Beschluss, der das Anbringen von Kruzifixen in bayerischen Schulklassen für verfassungswidrig erklärte. Hingegen gehen linke respektive liberale Gruppierungen weitaus öfter als Verfechter des BVerfG auf die Straße. Die Bürgerrechtsbewegung legitimiert ihren Protest gegen staatliche Freiheitsbeschränkungen auch mit den Vorgaben aus Karlsruhe, anstatt die Gerichtsurteile ebenso zu kritisieren wie die Sicherheitspolitik von Bundesregierung und Bundestag.

Die Entscheidungen etwa zur Vorratsdatenspeicherung und zum Großen Lauschangriff verbieten jedoch nicht den Überwachungsstaat, sondern fordern allenfalls etwas Gemach bei der Einführung staatlicher Kontrollinstrumente. Ebenso wenig hat das Gericht mit dem Hartz-IV-Urteil den Sozialstaat gerettet, sondern nur gefordert, die weiterhin erbärmlichen Sozialleistungen bitte etwas transparenter zu berechnen. Auch fordert das BVerfG regelmäßig die Beteiligung des deutschen Bundestages bei der europäischen Integration und formuliert wohlklingende Nebensätze zur Bedeutung von Demokratie und Legitimation staatlicher Macht, tatsächliche demokratische Legitimation hat das Gericht allerdings nie verlangt, sondern den Ausbau der gänzlich undemokratisch organisierten Europäischen Union bislang ein ums andere Mal akzeptiert.
Hierzulande ist weiterhin der Glaube verbreitet, dass es sich beim BVerfG um ein politisches Neutrum handelt, welches, fernab des umkämpften Politbetriebes in Berlin, allein auf dem Boden einer unmissverständlichen Verfassung agiert und die Menschenrechte und das gemeinhin Gute vor der gefährlichen Staatsmacht schützt. Tatsächlich aber trägt das BVerfG seit jeher den Zeitgeist und giebt diesem juristische Form. Bisweilen wirkt es als besänftigendes Integrationsorgan und torpediert gesellschaftlichen Protest, wenn es mit großen Worten kleine Beschränkungen staatlicher Machtausübung verlangt. An den Ergebnissen ändert das nichts: Das BVerfG ist weder neutral noch von Grund auf emanzipatorisch, sondern eine staatliche Behörde wie jede andere auch.