Über das Urteil zur Beschneidung von Jungen

Kein Schnitt weiter

Ein Gerichtsurteil stellt die Legalität der Beschneidung kleiner Jungen in Frage – und damit auch die religiöse Betätigung von Juden und Muslimen in Deutschland.

Ein im Mai ergangenes Urteil des Kölner Landgerichts sorgt derzeit bundesweit für heftige Diskussionen. Es geht um die operative Entfernung der Vorhaut kleiner Jungen aus religiösen Gründen, gemeinhin als Beschneidung bezeichnet. Das Gericht verhandelte den Fall eines Vierjährigen, bei dem ein muslimischer Arzt auf Wunsch der ebenfalls muslimischen Eltern den Eingriff vorgenommen hatte. Bei dem Jungen waren zwei Tage nach der Operation Nachblutungen aufgetreten, was an sich weder ungewöhnlich noch gefährlich ist.

Die zuständige Staatsanwaltschaft erfuhr davon und erhob Anklage. Nachdem ein Amtsgericht den Eingriff für rechtens befunden hatte, legte sie Berufung ein. Das Landgericht sprach den Arzt zwar frei, begründete dies aber lediglich mit einem »Verbotsirrtum«: Der Mediziner habe im Glauben gehandelt, sein Tun sei legal. Tatsächlich war das auch die bisherige Lehrmeinung unter Juristen. Der Mann nahm einen Eingriff vor, wie er in einem bestimmten Alter bei fast allen muslimischen und jüdischen Jungen üblich ist. Sowohl im Islam als auch im Judentum ist die Beschneidung ein besonders wichtiges Gebot. Doch das Kölner Landgericht wertete sie nun als »schwere und irreversible Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit«. Weder das Elternrecht noch die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit könnte diesen Eingriff rechtfertigen, begründete das Gericht sein Urteil.
Dieter Graumann, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, nannte den Beschluss einen »beispiellosen und dramatischen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften«. Graumann wies darauf hin, dass die Beschneidung für Juden seit Jahrtausenden ein »fester Bestandteil der Religion« sei. Elisa Klapheck, Sprecherin der Allgemeinen Rabbinerkonferenz, sagte: »Wer die Beschneidung angreift, greift das Judentum in seinem Kern an.« Der Zentralrat der Muslime kritisierte, das Urteil stelle »einen eklatanten und unzulässigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften und in das Elternrecht« dar. Auch Vertreter der evangelischen und katholischen Kirchen lehnten den Richterspruch ab.
Zwar hat das Urteil bundesweit keine unmittelbaren juristischen Folgen. Doch angesichts der breiten Berichterstattung stellt sich ein Problem für Ärzte, die Beschneidungen vornehmen. Da ein deutsches Gericht erstmals explizit die Strafbarkeit der Beschneidung festgestellt hat, können sich diese Mediziner nun nicht mehr auf einen Verbotsirrtum berufen. »Das Urteil ist vor allem für Ärzte enorm wichtig, weil diese jetzt zum ersten Mal Rechtssicherheit haben«, freute sich der Passauer Strafrechtler Holm Putzke, der schon seit Jahren ein ausdrückliches Verbot der religiösen Beschneidung fordert, in der Financial Times Deutschland.

Harald Mau von der Berliner Ärztekammer berichtete hingegen in der RBB-Abendschau: »Im Moment sage ich meinen Kolleginnen und Kollegen, die diese Eingriffe machen: Achtet darauf, dass ihr nur Beschneidungen aus medizinischer Indikation macht, um euch Schwierigkeiten zu ersparen!« Denn anders als Putzke Glauben machen will, führt das Urteil nicht zu mehr, sondern zu weniger Rechtssicherheit. Weder Ärzte noch Eltern wissen derzeit, woran sie sind. Dass Juristen keineswegs einmütig eine Strafbarkeit der Beschneidung erkennen, zeigt schon die Tatsache, dass das Kölner Amtsgericht in erster Instanz die Sache noch anders sah als später das Landgericht. Eine endgültige Klärung könnte nur ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts oder eine Präzisierung der Rechtslage durch den Bundestag bringen. Der Kölner Fall zumindest wird es nicht mehr vor das höchste deutsche Gericht schaffen, denn er ist mit dem Spruch des Landgerichts abgeschlossen, der Arzt wurde schließlich freigesprochen. Möglicherweise droht nun für Jahre eine unklare Rechtslage.
»Das Gericht hat sich – anders als viele Politiker – nicht von der Sorge abschrecken lassen, als antisemitisch und religionsfeindlich kritisiert zu werden«, behauptet der Beschneidungsgegner Putzke. Doch in dem Urteil zeigt sich gerade nicht eine allgemeine religionskritische Argumentation, sondern eine besondere Ablehnung religiöser Praktiken des Islam und des Judentums. Denn das Landgericht befand, »der Körper des Kindes« werde durch »die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert« und deswegen laufe diese »Veränderung« dem »Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwider«. Diese Behauptung ist allerdings mehr als kühn. Demzufolge könnte, wer als kleiner Junge durch Beschneidung zum Juden oder Muslim wird, später nicht mehr zum Beispiel Katholik oder Atheist werden, was offensichtlich Unsinn ist. Bliebe einzig das Argument, dem Kind werde eine Religion aufgezwungen, was aber etwa bei der christlichen Taufe nicht anders ist. So entsteht der Verdacht, dass Beschneidungsgegner wie Putzke und die Kölner Richter Vorurteilen über den vermeintlich archaischen Charakter der Beschneidung anhängen. Auf solche Vorurteile wies die Nürnberger Urologin und Rabbinerin Yael Deusel in der Jüdischen Allgemeinen hin. Anscheinend gebe es »in der nichtjüdischen Bevölkerung nach wie vor abenteuerliche Vorstellungen über die Beschneidung«, sagte sie der Zeitung, »etwa, dass Babys mit Glasscherben beschnitten würden«. Das Urteil könnte nicht nur zu einem Beschneidungstourismus in andere Länder und Pfuschereien in Hinterhöfen, sondern vor allem auch zu einer allgemeinen Stigmatisierung von Judentum und Islam als archaische Religionen führen.

Dass offenbar Unkenntnis über die Beschneidung in Islam und Judentum besteht, zeigt etwa die Reaktion der Organisation Terre des Femmes. »Wir begrüßen dieses Urteil«, befand deren Vorstandsvorsitzende Irmingard Schewe-Gerigk in einer Pressemitteilung. Terre des Femmes setze sich seit 30 Jahren für die körperliche Unversehrtheit von Mädchen ein. Besonders »die Praktik der weiblichen Genitalverstümmelung, die jährlich drei Millionen Mädchen weltweit über sich ergehen lassen müssen, hat lebenslange gesundheitliche Folgen«, teilte die Organisation mit. Das Kölner Urteil zeige »deutlich, dass die körperliche Unversehrtheit von Kindern nicht mit religiösen Argumenten verletzt werden darf«. Doch damit stellt Terre des Femmes die Beschneidung der Vorhaut bei kleinen Jungen auf eine Stufe mit der insbesondere in afrikanischen und einigen arabischen Ländern betriebenen weiblichen Genitalverstümmelung. So verharmlost die Vereinigung einerseits die weibliche Genitalverstümmelung auf erhebliche und fahrlässige Weise. Und andererseits hebt diese Gleichsetzung die männliche Beschneidung in den Rang eines grausamen Verbrechens.