Über die kanadische Migrationspolitik

Schluss mit Multikulti

Die kanadische Regierung hat eine Reihe von Gesetzesänderungen beschlossen, die die Situation von Migranten und Flüchtlingen verschlechtern wird.

Sehr früh am Morgen des 26. Juni treffen sich etwa 30 Menschen auf einem Parkplatz in Vancouver, um in die südwestlich gelegene Stadt Surrey zu fahren. Dort wollen sie gegen einen Auftritt Jason Kenneys, des kanadischen Ministers für Staatsbürgerschaft, Immigration und Multikulturalismus, protestieren. Aufgerufen zum Protest hatten die antirassistischen Organisationen »No One Is Illegal« (NOII) und »Lateinamerikanische Koalition für die Rechte der Migrantinnen und Migranten«. Kenney war von der Handelskammer Surreys eingeladen worden, bei einer Frühstücksveranstaltung eine Rede über ein »zielgerichtetes, schnelles und effizientes Migrationssystem mit dem Fokus auf Arbeitsplätzen, Wachstum und Wohlstand« zu halten. Er gehört als Vertreter der Konservativen Partei und der amtierenden Regierung unter Ministerpräsident Stephen Harper derzeit zu den umstrittensten Politikern Kanadas.
Seit Ende vorigen Jahres hat seine Regierung die absolute Mehrheit im Parlament inne und nimmt eine Reihe von Gesetzesänderungen vor, die Kritikerinnen und Kritiker als Abkehr von der bisher verhältnismäßig liberalen Migrationspolitik bekämpfen. Kenney hat vor allem dadurch auf sich aufmerksam gemacht, dass er über »Betrug« im Zusammenhang mit der Einwanderung nach Kanada sprach. Sein Auftritt in Surrey sei angesichts der vielen dort lebenden Migrantinnen und Migranten eine Provokation, meint John, einer der Antirassisten, die sich an jenem Morgen auf den Weg nach Surrey machen.

Die von Kenney verfolgte Migrationspolitik bestehe darin, mehr Menschen nur eine temporäre Arbeitserlaubnis zu gewähren, während die Zahl derer, die eine langfristige Aufenthaltsgenehmigung erhalten, und vor allem die der Flüchtlinge reduziert werde, meint NOII. Es gehe darum, billige Arbeitskräfte anzuwerben, denen oft nicht einmal der Mindestlohn bezahlt wird und die ständig der Gefahr ausgesetzt sind, abgeschoben zu werden. In den vergangenen fünf Jahren nahm Kanada 25 Prozent weniger Flüchtlinge auf, während die Zahl der temporär in Kanada arbeitenden Menschen um 30 Prozent gestiegen ist. Im April dieses Jahres wurde ein Gesetz erlassen, das es Unternehmern ermöglicht, Menschen mit temporärer Arbeitserlaubnis bis zu 15 Prozent weniger als den üblichen Lohn zu zahlen.
Besonders einschneidende Änderungen beinhaltet das Gesetz C-31, das im Juni beschlossen wurde. Danach wird es möglich, bereits anerkannten Flüchtlingen ihren Aufenthaltsstatus zu entziehen, wenn sich die Lage in ihren Herkunftsländern nach Meinung des Ministeriums verbessert hat. Menschen, die mitunter jahrelang in Kanada gelebt haben, könnten abgeschoben werden. Über Asylanträge soll künftig innerhalb von 15 Tagen entschieden werden, was es für gerade in Kanada ankommende Flüchtlinge erschwert, ihren Asylgrund ausreichend darzulegen. Bestimmte Länder sollen von der Regierung als »sicher« deklariert werden, so dass Menschen, die von dort kommen, erst gar keinen Antrag auf Asyl stellen können. Antirassistische Organisationen befürchten, dass die Auswahl der Länder auf Grundlage der politischen Beziehungen der kanadischen Regierung mit den jeweiligen Staaten getroffen wird und dass vor allem Frauen, Homosexuelle, Transpersonen und rassistisch Verfolgte eine schwierige Ausgangslage für ihre Anerkennung als Asylberechtigte zu erwarten haben. »Auf irregulärem Weg ankommende Flüchtlinge« können laut Gesetz künftig ohne richterliche Prüfung festgenommen und bis zu zwölf Monate inhaftiert werden.
Der kanadische Flüchtlingsrat, Amnesty International, die kanadische Vereinigung der Flüchtlingsanwälte und die Vereinigung für Bürgerrechte haben das Gesetz scharf kritisiert. »Viele Menschen wissen überhaupt nicht, was momentan geschieht. Jason Kenney hat eine deutlich rassistische Politik eingeführt«, sagt eine der Protestierenden in Surrey, während sie den Eingang zum Hotel blockiert. Der Minister zeigt sich von derlei Kritik unbeeindruckt: »Wir haben die Par­lamentarier zu C-31 angehört und haben nun ein besseres Gesetz, um echte Flüchtlinge zu schützen, während wir sicherstellen, dass betrügerische Asylsuchende festgenommen, angeklagt und schnell fortgeschafft werden.«

Seit dem 30. Juni wird vielen Flüchtlingen die medizinische Versorgung verweigert, sofern sie nicht privat für die Kosten aufkommen. Das gilt auch für diejenigen, die sich in Flüchtlingslagern befinden und auf den Ausgang ihres Asylverfahrens warten. Die Regierung wirbt damit, dadurch 100 Millionen Dollar einzusparen. Die Vereinigung »Kanadische Ärzte für die Versorgung von Flüchtlingen« protestiert dagegen. Ihre Mitglieder werden wohl die Behandlung ihrer Patientinnen und Patienten aus eigener Tasche zahlen, unter anderem wollen sie unabhängige Zentren für die medizinische Grundversorgung einrichten.
In der Kritik an Kenneys Politik wird immer wieder betont, dass Kanada stets ein Einwanderungsland gewesen sei und dass abgesehen von der bis heute marginalisierten indigenen Bevölkerung alle Einwohner eingewandert seien. Andere sehen eher die Kontinuitäten: »Diese Politik bricht mit dem Mythos vom gastfreundlichen Kanada und zeigt das Land als das, was es ist: Es ist nur offen gegenüber wohlhabenden und weißen Menschen«, heißt es in einer Rede auf der Protestveranstaltung in Surrey. Der Multikulturalismus ist Teil der Staats­ideologie geworden und gilt als in der kanadischen Gesellschaft fest verankert. Gerade Politiker wie Kenney werben gern mit der »Diversität« Kanadas. »Ich finde es einfach beschämend, was hier passiert«, meint eine zur Veranstaltung der Handelskammer gekommene Lokalpolitikerin der New Democratic Party, die beschlossen hat, der Rede Kenneys fernzubleiben. Sie ist der Meinung, das Gesicht Kanadas werde sich mit den neuen Gesetzen verändern.