»Cancer Woman«, ein Comic über Brustkrebs

Der Stiletto, der zur Chemo passt

Die New Yorker Cartoonistin Marisa Acocella Marchetto feiert ihren Sieg über den Brustkrebs in Designerschuhen und mit sehr viel Panna cotta.

Im Jahr 2001 ist Marisa Acocella Marchetto ein ziemlich kleiner Fisch im weiten Meer der New Yorker Cartoonistenszene. Wie ihre Kolleginnen muss sie bei Zeitschriften wie Glamour und der New York Times Klinken putzen gehen. Oder sie zittert im Condé-Nast-Gebäude vor dem Urteil Bob Mankoffs, des berühmten Cartoon-Redakteurs des New Yorker. Der Ärger über so manchen Rüffel (»Wollen Sie sich über mich lustig machen?«) wird im Restaurant Pergola heruntergespült, wo es für bedürftige Künstler stets ein kostenloses Glas Rotwein gibt. Damit die vielen Entwürfe, die zu 97 Prozent abgelehnt werden, nicht ungenutzt in der armseligen Wohnung in Greenwich Village vergilben, geht Marisa zu Ablehnungs-Shows, in denen die Zeichnungen von Komikern direkt dem Publikum präsentiert werden – oft mit großem Erfolg. Hilfreich für die saubere Recherche der Cartoonistin sind die New Yorker Partys, die diejenige enttäuscht verlässt, die nicht wenigstens aus der Ferne die gebleichten Strähnen von Sarah Jessica Parker erspäht hat.
Marisa Acocella Marchetto erzählt in ihrer autobiographischen Graphic Novel »Cancer Woman« davon, wie sie 2004, wenige Wochen vor ihrer Hochzeit, die Diagnose Brustkrebs erhält. Sie ist 43 Jahre alt und hat bei einer Recherche im Prominentenmilieu gerade den Mann fürs Leben kennengelernt.
Im Herbst 2001 bekommt Marisa den Auftrag, für das Talk Magazine von Tina Brown eine Geschichte über das kostspielige Leben eines It-Girls zu zeichnen. Mit billigen Tonbandgeräten, einer Pocket-Kamera und einem Skizzenblock im Gepäck zieht sie los. Die Cartoonistin interviewt einen It-Dermatologen. Er teilt ihr mit, dass Fettabsaugen am Bauch mit 7 000 Dollar zu Buche schlägt, und entlässt sie mit den charmanten Worten, dass sich in ihrem Fall eine Aufpolsterung der Nasiolabialfalte durchaus lohnen würde. Vergleichsweise günstig ist eine Frisur beim It-Haarstylisten, lediglich 400 Dollar kostet der Besuch (»Schatz, dir fehlt Volumen«), während für eine Celebrity-Maniküre (»Ich maniküre manchmal auch die Sterblichen«) 500 Dollar zu berappen sind. Auf Marisas Selbstbewusstsein wirkt sich die Recherche im It-Milieu ungünstig aus. »Seit ich an dieser Beauty-Story dran bin, fühle ich mich total hässlich. Diese Experten entdecken einen Makel nach dem anderen.«  Trost spendet der italienische It-Gastronom Silvano, für dessen Lammkoteletts sogar Madonna schwärmt. Silvano plaudert geduldig aus dem Celebrity-Nähkästchen und belohnt das Interesse der Reporterin an seinen Anekdoten mit einem Festmahl aus Cavaillon-Melonen, Gnocchi in Hummersoße und Panna cotta.
Dann kommt der 11. September – und die New Yorker Medien stehen Kopf. Manhattan liegt in Schwaden aus Benzol und Asbest, und die vormals so beliebten Storys über Mode und Glamour gelten plötzlich als oberflächliches Teufelswerk. Die Geschichte über die Kosten eines Lebens als It-Girl wird panisch gecancelt, stattdessen wird die Cartoon-Reporterin ohne Atemmaske zu den einstürzenden Zwillingstürmen geschickt, um Authentizität einzufangen. Doch auch Marisas Comic-Reportage kann dem Talk Magazine nicht mehr helfen: Tina Brown scheitert mit ihrem ambitioniertem Projekt, weil die Anzeigen schlagartig ausbleiben. Für eine Cartoonistin wie Marisa, die am liebsten schrille New Yorkerinnen zeichnet, die sich trotz extravaganter Shoppingtouren bei Prada für chronisch pleite halten, brechen schwierige Zeiten an.
Kein Vergleich jedoch mit dem 15. Mai 2004, dem Tag, an dem in Marisas linker Brust ein bösartiger Tumor entdeckt wird. Die 43jährige, die in wenigen Wochen heiraten will, und zwar Silvano, den netten Panna-cotta-Gastronomen, hat das Gefühl, von einem Weltraumstaubsauger angesogen und vernichtet zu werden. Wenn sie durchs Schlüsselloch ihrer Wohnungstür schaut, steht draußen der Sensenmann. Marisa googelt den Krebs und zermartert sich den Kopf mit Fragen: Ist ihr Interesse an den oberflächlichen Dingen des Lebens schuld? Oder ihre 9/11-Recherche oder die Hormone im Hühnerfleisch oder gar ihr Bügel-BH? Aus dieser Beschäftigung entsteht eine Art »Krebs-Monopoly«. Da heißt es: »Leben in der Nähe eines Atomkraftwerks«? – »Gehe ein Feld vor.« Oder: »Übergewicht und Bauchfett?« – »13 Felder zürück.« Die Moral des Spiels: Der Krebs gehorcht keinen Regeln oder Gesetzen, wen es wann trifft, weiß niemand.
Zu den beeindruckendsten Passagen der Graphic Novel gehören Marisas Schilderungen ihrer acht Chemotherapien, die sie mit wahrem Todesmut über sich ergehen lässt. Zu jedem Chemo-Termin trägt sie andere Schuhe. Stilettos von Guiseppe Zanotti für den heißen Spätsommertag, Riemchenschuhe von Casadei aus falschem Krokoleder oder bunte Gummistiefel von Emilio Pucci bei Regenwetter. Je schlimmer der Schmerz, desto größer der Modemut. Fast immer steht der Patientin im Behandlungszimmer die Mutter zur Seite, eine Schuhdesignerin mit wunderbar großer Klappe, die jeden Arzt zur Schnecke macht, der nicht auf Anhieb die Vene der Tochter findet. Die gläubige Katholikin mit italienischen Wurzeln bläut ihrer Tochter ein, dass die Angst vor dem Tod nur das Werkzeug des Teufels sei. Marisa trotzt der Krankheit mit einem sehr amerikanischen Motto: »Ich entschied mich für die Rolle der Superheldin meines eigenen Lebens und beschloss, dem Krebs mit 12 cm hohen Cancer-Woman-Absätzen in den Hintern zu treten.«
Die Graphic Novel ist dort am besten, wo sie grell und erbarmungslos ist. Manche Schlusspointe ist hingegen ein wenig süßlich geraten. Die Geschichte geht unter die Haut, etwa wenn sie die Abgründe des US-amerikanischen Gesundheitssystems zeigt. US-Amerikanerinnen, die keine Krankenversicherung haben, tragen statistisch ein um 49 Prozent erhöhtes Risiko, an Brustkrebs zu sterben. Und Marisa ist eine von ihnen. Ein bisschen ähnelt die Geschichte aber dem Märchen von Aschenputtel, denn am Ende zahlt der sympathische Starkoch die Summe von 192 720 Dollar für die Krebsbehandlung seiner Verlobten, die bisher lieber in Schuhe als in eine Versicherung investiert hat.
Die israelische Soziologin Eva Illouz hat die These aufgestellt, dass der Kapitalismus uns alle zu Spezialisten darin gemacht habe, selbst noch den größten persönlichen Kummer ökonomisch nutzbar zu machen. Und so verwundert es auch nicht, wenn eine Glamour-Redakteurin auf die Nachricht von der Krebserkrankung ihrer Cartoonistin mit der Frage reagiert: »Willst du darüber schreiben?«

Marisa Acocella Marchetto: Cancer Woman. Atrium Verlag, Zürich 2012, 218 Seiten, 22,95 Euro