Der Prozess gegen Verena Becker

Der Becker- Buback-Komplex

Im Prozess gegen Verena Becker wegen des Mordanschlags auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback blieb der Tathergang ungeklärt. Michael Buback glaubt dennoch, dass Becker seinen Vater erschossen hat.

Nach 96 Sitzungstagen, 168 Zeugenvernehmungen und acht Sachverständigenbefragungen wurde Verena Becker am vergangenen Freitag vom 6. Senat des Stuttgarter Oberlandesgerichts wegen Beihilfe zum Mord am früheren Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seinen beiden Begleitern zu vier Jahren Haft verurteilt. In seiner dreistündigen Urteilsbegründung erinnerte der Vorsitzende Richter Hermann Wieland daran, dass die historische Wahrheit nicht immer deckungsgleich sei mit der Wahrheit, die in einem Strafverfahren verhandelt werde. Trotz allem betriebenen Aufwand gebe es Grenzen, die zu akzeptieren seien. Die Ermahnung blieb ungehört. Nach der Urteilsverkündung waren sich die Prozesskommentatoren weitgehend einig, dass die Angeklagte ihre Chance vertan habe, den Angehörigen der Opfer bei der Bewältigung ihrer Trauer zu helfen, und dass mit dem »wohl letzten großen RAF-Prozess« die historische Gelegenheit zur Aufarbeitung des Deutschen Herbstes verpasst worden sei.

Die Ermordung Bubacks hatte im April 1977 den Beginn einer Serie von Anschlägen der Roten Armee Fraktion (RAF) markiert. Der Generalbundesanwalt war zusammen mit seinen Begleitern an einer Karlsruher Straßenkreuzung in seinem Dienstwagen erschossen worden. Wer das Motorrad gefahren und wer vom Sozius aus die tödlichen Schüsse abgegeben hatte, konnte gerichtlich nie festgestellt werden.
Drei Jahrzehnte später veranlassten Äußerungen des RAF-Aussteigers Peter-Jürgen Boock den Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts, Michael Buback, eigene Nachforschungen anzustellen. Aufgrund seiner Veröffentlichungen sah sich die Bundesanwaltschaft schließlich gezwungen, ein neues Ermittlungsverfahren einzuleiten. Nach der Sicherstellung neuer Beweismittel erhob sie im April 2010 Anklage gegen Becker wegen des Verdachts der Mittäterschaft. Buback trat als Nebenkläger auf.
Der Sohn hält Becker aufgrund seiner Indiziensammlung für die Todesschützin. Dass ein früheres Ermittlungsverfahren eingestellt wurde, gilt ihm als Indiz dafür, dass Becker dem Verfassungsschutz schon lange vor der bekannt gewordenen Zusammenarbeit 1980 als Informantin gedient haben könnte. Bubacks Behauptung, staatliche Stellten hielten ihre »schützende Hand« über die Angeklagte, führte zu erheblichen Spannungen zwischen ihm und dem die Anklage führenden Staatsanwalt Walter Hemberger. Während der Schlussplädoyers im Juni kam es noch einmal zu offenen Anschuldigungen. Hemberger warf Buback vor, »Rosinen zu picken« und nur die Erkenntnisse gelten zu lassen, die in sein Theorem passten. Buback konterte, die RAF-Morde würden nicht dadurch aufgeklärt, dass ein Opferangehöriger »angegriffen, beleidigt und verunglimpft« werde.
In seiner Urteilsbegründung äußerte sich Wieland ausführlich zu diesem Konflikt. Es sei menschlich verständlich, dass sich der Nebenkläger aktiv am Prozess habe beteiligen wollen, letztlich aber hätten seine unhaltbaren Anschuldigungen gezeigt, dass es nicht ratsam sei, sich »zum persönlichen Anwalt in eigener Sache« zu machen. Wer den damaligen Ermittlungsbeamten »massive« und »bewusste« Versäumnisse unterstelle, habe einen »Tunnelblick«. Es gebe »keinerlei Basis« für die Behauptung, der Verfassungsschutz habe die Täter des Attentats gedeckt. Buback müsse zur Kenntnis nehmen, dass einige der von ihm berufenen Zeugen nicht zur Hauptverhandlung zugelassen oder widerlegt worden seien.

Das Gericht bestätigte vielmehr die staatsanwaltschaftliche Rekonstruktion des Tatgeschehens, wonach Becker nicht aktiv an der konkreten Tatvorbereitung und am Tathergang beteiligt gewesen sein soll. »Das hätten wir nicht besser machen können«, hatte auch Beckers Verteidiger Walter Venedey der Anklage in seinem Schlussplädoyer bescheinigt und für seine Mandantin einen Freispruch gefordert.
Das Gericht teilte jedoch auch die Auffassung der Staatsanwaltschaft, Becker habe sich der Beihilfe schuldig gemacht. Ein DNA-Test beweise, dass die Angeklagte vier Brieflaschen und zwei Wertmarken abgeleckt habe, die bei der Verschickung des Bekennerschreibens verwandt wurden. Außerdem habe sie das Tatvorhaben bei Treffen der RAF »vehement« unterstützt, die »verbindliche, abschließende Entscheidung« zur Ermordung Bubacks mitgetragen und die Ausführenden »wissentlich und willentlich« bei der Tat bestärkt.
Diese Einschätzung des Senats stützt sich im Wesentlichen auf die Zeugenaussagen Boocks, dem die Verteidigung im Prozess wiederholt falsche und widersprüchliche Aussagen nachgewiesen hatte. Der Richter räumte zwar ein, dass gelegentlich »Wahrnehmungs- und Erinnerungsfehler« vorliegen könnten, sah aber die Glaubwürdigkeit des Zeugen nicht grundsätzlich erschüttert. Wieland berief sich in seinem Urteil auf das von Boock skizzierte Bild der RAF: Die Gruppe sei eine »verschworene Gemeinschaft« gewesen, in der das »Prinzip der Kollektivität« gegolten habe, dennoch sei Mitgliedern mit »herausragender Kompetenz« eine »führende Rolle« zugesprochen worden. Das Gericht wollte in Becker eine solche »Führungsperson« erkennen, erklärte aber gleichzeitig, sie habe sich »linientreu« den Forderungen der Stammheimer RAF-Gefan­genen unterworfen. Neben diesen widersprüchlichen Spekulationen wiederholte der Richter auch seinen bereits mehrfach erhobenen moralischen Vorwurf, es fehle den ehemaligen RAF-Mitgliedern an menschlicher Größe und an Respekt gegenüber den Angehörigen.
Erst im Mai hatte Becker in ihrer Erklärung Buback und der gesamten, nichts als »die Wahrheit« erwartenden Öffentlichkeit klar zu machen versucht, dass sie sich nicht an die Angehörigen, sondern nur an das Gericht wenden könne, schließlich zwinge sie die Anklage, sich zu verteidigen. Ihr zweiter Verteidiger Hans Wolfgang Euler hatte damals ergänzt, Entschuldigungen und »Lippenbekenntnisse«, die nicht nachprüfbar seien, nützten in einem Strafprozess niemandem.

Buback hielt dagegen bis zuletzt an seinen nicht nachprüfbaren Thesen fest. Da die Aufklärung von Beckers tatsächlichem Tatbeitrag verhindert werde, könne für die Angeklagte kein angemessenes Strafmaß bestimmt werden. Das juristische Urteil sei aber »ohne Bedeutung«, für seine Familie stünde Beckers Täterschaft ohnehin außer Zweifel. Im vorerst letzten Beitrag zu seinem auf 3Sat geführten Videotagebuch über den Prozess bekräftigte er seinen Entschluss, auf eine Revision zu verzichten: »Wir sind froh, dass wir den Prozess nicht mehr ertragen müssen.«
Für die Verteidigung ist Bubacks Verhalten schon längst nicht mehr »strafprozessual nachvollziehbar«. Sie hält aber auch das Urteil für juristisch zweifelhaft. Euler bestätigte, dass eine Revision naheliege, pragmatische und gesundheit­liche Erwägungen seine Mandantin allerdings davon abhalten könnten. Immerhin werden Becker als »Härteausgleich« für bereits verbüßte Strafen zweieinhalb Jahre erlassen, die verbleibende Reststrafe wird wohl zur Bewährung ausgesetzt.
Mit ihrer pragmatischen Strategie hat die Verteidigung, nicht zuletzt im Interesse ihrer Mandantin, zur Entpolitisierung des Strafprozesses beigetragen. Becker verleugnet ihre Vergangenheit nicht, wollte aber vor Gericht ihre Loslösung von der RAF und ihren seither eingeschlagenen »eigenen Weg« anerkannt sehen. Die Bemühung um Versachlichung war gleichwohl die einzige Möglichkeit, der allseitigen Emotionalisierung des Verfahrens entgegenzuwirken. Auch die im Namen der Angehörigen erhobene Forderung nach einer Wahrheitskommission zur Hilfe bei der Trauerbewältigung belegt, dass es weiterhin um ein Schuldeingeständnis der Täter geht, kaum aber um die Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen der bewaffnete Kampf hervorging.