Die Folgen des syrischen Bürgerkriegs für den Libanon

Keine Oase in Sicht

Der Bürgerkrieg in Syrien destabilisiert die ganze Region und vor allem den Libanon. Dort gibt es eigentlich schon genug Konflikte.

Die Komplexität des politischen Systems des Libanon und seiner von zahlreichen ethnischen und religiösen Konflikten durchzogenen Gesellschaft scheint der Hauptgrund für die nahezu völlige Abwesenheit des Libanon in der Medienberichterstattung zu sein. Selbst das Treffen des libanesischen Ministerpräsidenten Najib Mikati und einiger seiner Minister mit der deutschen Regierung in der vergangenen Woche in Berlin war für die deutschen Medien kein Anlass, über die aktuellen Ereignisse im Libanon zu berichten. Doch diese Ereignisse sind von größter Bedeutung nicht nur für das Land, sondern für die gesamte Region, und zudem untrennbar verknüpft mit dem eskalierenden Bürgerkrieg in Syrien. Das zeigte sich etwa, als Anfang vergangener Woche kurzzeitig zwei libanesische Soldaten von syrischen Truppen entführt wurden, die dabei auf libanesisches Gebiet vordrangen und schossen. Syrische Truppen waren schon zuvor mehrfach auf das Territorium und in den Luftraum Libanons eingedrungen. Seit Wochen sind sie an der langen libanesisch-syrischen Grenze in Kampfhandlungen mit Bewaffneten verwickelt, die aus verschiedenen Gründen gegen das syrische Regime kämpfen. Die Lage wird dadurch verkompliziert, dass Syrien eine offizielle Demarkation der Grenze bis heute verweigert hat.
Auch in der im Norden Libanons gelegenen Stadt Tripoli wird deutlich, dass der Syrien-Konflikt ein regionaler ist. Im Gebiet Jabal Mohsen leben hier Alawiten, umgeben von einer sunnitischen Bevölkerungsmehrheit. Zwischen Milizen aus den verfeindeten Gruppen kam es in den vergangenen Monaten wiederholt zu Kämpfen, wie bereits zu Zeiten des libanesischen Bürgerkriegs vor 1990. Damals hatte eine alawitische Miliz, unterstützt von syrischen Besatzungstruppen, gegen sunnitisch-islamistische Gruppen gekämpft. Allerdings wächst der Widerstand gegen die verschiedenen Milizen – Lokalpolitiker und Mitglieder verschiedener zivilgesellschaftlicher Netzwerke demonstrierten nach Ausbruch der Kämpfe in Tripoli für die Entwaffnung der Milizen und gegen sektiererische Gewalt.

Doch die ethnische und religiöse Zugehörigkeit spielt im gesamten Libanon noch immer eine bedeutende Rolle. Seit der Zeit des französischen Kolonialmandats und der formalen Unabhängigkeit im Jahre 1943 ist das politische System konfessionell organisiert, die Mitglieder des Parlaments müssen zu gleichen Teilen Christen und Muslime sein, der Präsident ein maronitischer Christ, der Ministerpräsident ein sunnitischer Muslim, der Parlamentssprecher Schiit, ihre Stellvertreter griechisch-orthodoxe Christen. Noch heute ist diese Regel, in einem Abkommen zum Ende des Bürgerkriegs 1990 leicht modifiziert, in Kraft. Im Libanon werden Abgeordnete noch immer nicht nach explizit politischen, sondern nach konfessionellen Kriterien gewählt, ethnoreligi­öse Identitäten und Loyalitäten werden so beständig reproduziert. Zudem hat sich die Demographie seit der Unabhängigkeit 1943 stark verändert. Die Christen, heute eine Minderheit, sind politisch deutlich überrepräsentiert.
Erst in der vergangenen Woche wurde ein mit diesem demographischen Wandel verknüpfter sozialer Konflikt zu einem Politikum, das die zwei dominanten und verfeindeten politischen Blöcke des Landes kurzzeitig entlang konfessioneller Grenzen auflöste. Tausende muslimische Vertragsarbeiter der staatlichen Elektrizitätswerke befinden sich seit Monaten in einem Arbeitskampf für Vollzeit- und Festanstellung und blockieren regelmäßig Straßen mit brennenden Reifen. Als ihre Vertragssituation nun gesetzlich geregelt werden sollte, stimmten alle christlichen Fraktionen dagegen – sie fürchten eine Marginalisierung der Christen im öffentlichen Sektor. Dabei kooperierten die nicht-christlichen Gruppierungen aus der Koalition des 8. März und der mit dieser verfeindeten Koalition des 14. März. Erstere wird hauptsächlich von der Hizbollah sowie der schi­itischen Amal-Miliz, der drusischen »Progressiven Sozialistischen Partei« und Miliz unter Walid Jumblatt sowie der christlichen »Freien Patriotischen Bewegung« und Miliz unter Michel Aoun getragen. Sie unterstützt das syrische Regime unter Bashar al-Assad. Von Syrien, das seine Besatzungstruppen erst 2005 aus dem Libanon abgezogen hat, hatten bis auf Aouns Miliz alle beteiligten Gruppen in der Vergangenheit finanzielle und militärische Hilfe erhalten.
Die momentan oppositionelle Koalition des 14. März wiederum wird hauptsächlich von der sunnitisch dominierten »Zukunftsbewegung« und den beiden christlichen Parteien und Milizen »Kataeb« und »Libanesische Kräfte« getragen. Sie alle sind antisyrisch ausgerichtet und unterstützen verschiedene Fraktionen der syrischen Opposition. Diesen sollen sie auch logistische und finanzielle Unterstützung zukommen lassen, während die Hizbollah unter anderem an Treibstoff- und Materialschmuggel zugunsten des ­syrischen Regimes beteiligt sein soll.

Milizen dieser beiden verfeindeten Koalitionen hatten sich noch vor vier Jahren blutige Kämpfe geliefert, nachdem die Hizbollah Versuche der antisyrischen Regierung unter dem Ministerpräsidenten Saad Hariri, ihr militärisches Kommunikationsnetz abzuschalten, gemeinsam mit ihren Verbündeten militärisch beantwortet hatte. Die Hizbollah eroberte damals verschiedene Landesteile und Stadtviertel Beiruts von regierungstreuen Milizen und stellte die Regierung des Liberalen Hariri und seiner Verbündeten de facto unter Hausarrest. Sie und ihre Mitstreiter konnten so ein Abkommen erzwingen, das verhinderte, dass ihre gigantische Militärorganisation und ihr Waffenarsenal in Frage gestellt wurden. Im vergangenen Jahr übernahm die Koalition »8. März« nach großen, von ihr organisierten Protesten auf der Straße, die zur völligen Lähmung des politischen und öffentlichen Lebens führten, die Regierung.
Die politische Lage wurde dadurch nicht stabiler. Die nun oppositionelle Koalition des 14. März thematisierte seitdem immer wieder die Bewaffnung der Hizbollah. Sie hat das im Libanon auch als »Waffen des Widerstands« bezeichnete Arsenal zu einem Thema bei den Verhandlungen des von Präsident Suleiman ausgerufenen »Nationalen Dialogs« gemacht. Die Hizbollah allerdings bezeichnet ihren Militärapparat als »integralen Bestandteil der libanesischen Verteidigungsstrategie« gegen Israel.
Die unzähligen Straßenblockaden mit brennenden Reifen, etwa aus Protest gegen Stromknappheit, sowie diverse kleinere Scharmützel und Übergriffe von einigen Milizen sorgten in der Bevölkerung für Unruhe. Präsident Michel Suleiman, vor seinem Amtsantritt im Namen nationaler Versöhnung Oberbefehlshaber der interkonfessionellen libanesischen Streitkräfte, hat Teile der Regierung zum Handeln gedrängt und Bewegung in die festgefahrene politische Situation gebracht. Eine Folge des Drucks der Öffentlichkeit und des Präsidenten ist ein einmonatiger »nationaler Sicherheitsplan«, der vorige Woche ins Leben gerufen wurde. Die libanesischen Sicherheitskräfte sollen im ganzen Land gegen Milizen vorgehen, Waffen einsammeln – zunächst allerdings nicht die der Hizbollah – und gesuchte Kriminelle und Milizionäre verhaften. Angesichts des Übergreifens des syrischen Bürgerkriegs auf den Libanon und der zunehmenden Eskalation innerlibanesischer Konflikte sollen so »Ruhe und Ordnung wiederhergestellt und der Libanon zu einer Oase der Sicherheit gemacht werden«. Doch nach Übergriffen von Militanten auf einen Fernsehsender, in dem ein sunnitischer Prediger den Hizbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah kritisiert hatte, von einem Hizbollah-kritischen sunnitischen Islamisten organisierten Straßenblockaden und der Vereitelung von Verhaftungen durch Milizionäre der – wohlgemerkt an der Regierung beteiligten – Hizbollah sind die hehren Ziele kaum mehr zu erreichen. Auch im Libanon wird keine Ruhe einkehren.