Der »Canadian Psycho« Luka Rocco Magnotta

Magnotta und seine Brüder

Der mutmaßliche Mörder Luka Rocco Magnotta wird als »Canadian Psycho« durch die Medien gereicht. Georg Seeßlen über die Konstruktion des Monströsen auf dem Schlachtfeld der Aufmerksamkeitsökonomie.

Als »Pornodarsteller« gehört Luka Rocco Magnotta zweifellos in den Bereich der »Sünden« der Spaßgesellschaft, nicht obwohl, sondern gerade weil Pornographie mittlerweile eher trivial und mainstreamfähig ist. Man bezeichnet ihn freilich in vielen Presseberichten gar als »gescheiterten Pornodarsteller«. Wie scheitert man als Pornodarsteller? Entweder indem man es nicht bringt, oder indem man es zu nichts bringt. So ließe sich bereits die Charakterisierung des »gescheiterten Pornodarstellers« zugleich als mehrdeutige und diskursive Erklärung lesen. Entweder die kommerzielle Darstellung von Sexualität ist »schuld« oder aber das dabei erlebte Versagen. Zynisch genug titelte der Toronto Star: »Endlich bekommt er sein Publikum«. Wir ahnen: In dieser Titelei steckt bereits das Wesentliche der Beziehung zwischen dem Konstrukt des Monstermörders und der Öffentlichkeit.
Magnotta erscheint als Musterfall des narzisstischen, oberflächlichen Medienmenschen. Auf Facebook soll er sich mit den Worten vorgestellt haben: »Viele Leute bestätigen mir, dass ich umwerfend gut aussehe.« In einem Video im Netz habe er davon gesprochen, dass er sich einer kosmetischen Operation unterzogen habe, um seinem Idol James Dean ähnlicher zu sehen. Menschen, die so ticken, begegnen uns ständig im Fernsehen. Menschen, die nur noch aus ihrer Hülle und allenfalls noch der Sorge um diese zu bestehen scheinen und (offensichtlich nicht zu Unrecht) davon überzeugt sind, dass andere Menschen an ihrer fundamentalen Selbstveräußerung Anteil nehmen. Seelenlose. Magnotta erscheint so als das Gespenst des medial und körperlich entleerten Menschen, der, wenn er nicht wie der »American Psycho« oder der schöne Mörder in »Cosmopolis« in der Finanzwirtschaft unterwegs ist und keinen Job in der Werbung und in den Medien bekommt, gar nichts anderes denn ein »Pornodarsteller« sein kann. Wenn er dabei also »scheitert«, scheitert er radikal an den Verheißungen der narzisstischen Medienvermarktung. Strafe für unklare Queerness, Strafe für multiplizierte Oberflächlichkeit.
Das Opfer, es kann schutzloser kaum sein. Ein chinesischer Student. Nicht irgendwer, sondern der Freund des Täters, vier Jahre älter als dieser. Der Mensch in der Fremde, noch unfertig und voller Hoffnungen. Wenngleich mit 32 ein wenig alt für einen Studenten, oder? Zugleich aber auch Angehöriger einer Kultur, von der sich viele Mainstream-Menschen bedroht fühlen, was mal in rassistischen und mal in kulturellen Phantasmen Ausdruck findet: die Tüchtigkeit, die Zweckrationalität, der geschlossene Code. Ein Gescheiterter, möglicherweise, auch er. Wusste seine Familie von seiner sexuellen Orientierung? Merkwürdigerweise betont die Polizei zugleich, dass man alles Erdenkliche für die Angehörigen tun werde und dass man so gut wie nichts über das Opfer wisse. Je schärfer umrissen die Rolle des Täters scheint, um so vager wird die des Opfers.
Die Tat, schrecklich genug. Ein Mord. Eine Schändung. Die Zerstückelung. Der Kannibalismus (wenn auch »polizeilich noch nicht bestätigt«). Die Entsorgung des Torsos auf dem Müll in einem Koffer. Die postalische Verschickung der Extremitäten des Leichnams (an Schulen und an Parteizentralen in Kanada). Der abgeschnittene Kopf, der in einem Park in Montréal gefunden wurde. Die Flucht, womöglich in Frauenkleidern, unter falschen Namen, aber doch zugleich so auffällig, als habe er seine Festnahme provozieren wollen.
Das Muster des Mördermonsters ist nahezu perfekt erfüllt. Aber nun erscheint eine Aktualisierung des Grauens, zugleich Steigerung und Aufhebung des Monstermordes, eine symbolische Übernahme aus der Mainstream-Kultur. Das Verbrechen musste gefilmt werden, und das Gefilmte musste den Weg ins Internet finden. Endlich: Das von so vielen erwartete, sich aber nie wirklich zeigende Snuff Movie. Elf Minuten, die zeigen, wie einer mit einem Eispickel erschlagen und sein Körper zerstückelt wird. Aber nicht genug damit. Das Urbild von Jack the Ripper, der seine Taten schilderte und Briefe an seine Verfolger sandte, wird insofern erweitert, als diese Botschaften die Form von Leichenteilen annehmen, die der Täter an Parteien und Schulen in Kanada, offensichtlich Objekte seines gekränktes Hasses oder die Gründe seines Scheiterns, verschickt haben soll.
Nun scheint aber auch dieses Video eher bizarr. Der Täter macht sich mit Messer und Gabel am Opfer zu schaffen, der Argwohn wächst (nicht nur bei einer rasch sich bildenden Internetgemeinde um den mittlerweile teilweise bearbeiteten Film): Zumindest dieser Teil des Films könnte wohl ein Fake sein. Und was, wenn auch das andere nur ein hochstaplerisches Spiel war, wenn gar nicht ein Mord, sondern nur das Bild eines Mordes gemeint war? Von einem, der in seiner Besessenheit von der eigenen Erscheinung den Unterschied gar nicht mehr erkennen kann?
Dass die Festnahme in Berlin-Neukölln schließlich nur in einem Internetcafé stattfinden konnte, setzt noch ein Ausrufezeichen hinter diese Medialisierungserzählung. Und natürlich konnte es nur beim Egosurfen gewesen sein: »Der Verdächtige soll sich vor seiner Festnahme an einem Computer Berichte zu seinem Fall durchgelesen haben.« Wieder in die »alte« Erzählung vom Monstermörder passen indes die Worte, die er den Polizeibeamten gegenüber angeblich geäußert haben soll: »You’ve got me.« Das verweist auf den Mythos des Serienmörders, der Spuren legt, Briefe schreibt oder Muster erzeugt, weil er in Wahrheit geschnappt werden will, und es ist zugleich eine erneute Reminiszenz an den alten Jack the Ripper (»Ich werde sie aufschlitzen und nicht aufhören, bis man mich schnappt«).
Die beteiligten Regierungen und ihre Behörden machen sich den Triumph des Fahndungserfolgs rasch zu eigen. Die Auslieferung erfolgte so reibungslos und schnell, wie man es sonst nicht gewohnt ist, als wäre plötzlich, angesichts des Monstermörders, alle Bürokratie und Animosität verschwunden, die sich, erinnern wir uns, noch im »Fall Schreiber« auftürmte, und auch bei der Ankunft in Kanada wurde das Mördermonster schnell vom Beweis- zum Schaustück. In einem Konvoi aus mehreren zivilen Polizeifahrzeugen und »Streifenwagen mit Blaulicht wurde der mutmaßliche Mörder schließlich weggebracht« (Focus Online). Der performative Charakter wird schnell in die politische Rhetorik überführt: »Die Kanadier sollen wissen, dass Menschen, die das Recht übertreten, die volle Härte des Gesetzes erfahren werden«, so ließ Justizminister Rob Nicholson vernehmen. Das Monster als Metapher ist für den Staat, die Gesellschaft und die Medien viel zu wertvoll, als dass man sich der Aufgabe widmen könnte, die tickenden Zeitbomben zu erkennen.
Immer dringlicher wird die Frage, ob das Mördermonster das mediale Rasterbild erzeugt oder umgekehrt das mediale Raster das Monster.
Nicht einmal der italienische Name ist besonders originell, geschweige denn »echt«: Wir sprechen in Wahrheit von Eric Newman, der 1982 als Sohn zweier Highschool-Teenager geboren wurde. Seine Mutter taufte ihn nach dem amerikanischen Schauspieler Eric Roberts. Verschlossen und schnell gewalttätig, war er in der Schule der traditionelle Außenseiter. Es scheint, als habe sich dieser Eric Newman das Internet gewählt, um sich neu zu erfinden, einem Größenwahn folgend, der keine Ahnung mehr von dem hat, wie sich Größe ausdrücken könnte. Nun, im Nachhinein, melden sich einige Freunde und Verwandte, die schon immer sicher waren, dass dieser Mensch »mentally ill« und eine tickende Zeitbombe sei. Dabei ging es um Kleinkriminalität und um Tierquälerei.
Magnotta alias Newman war vor allem ein Hochstapler, und auch darin war er nicht besonders gut (und schon gar nicht »groß«), sieht man die Liste seiner Vorstrafen an, da er offensichtlich glaubte, man könne die Menschen im wirklichen Leben genauso leicht blenden wie im Internet. Seit 2006, nachdem er offiziell seinen Namen hatte ändern lassen, führte Magnotta ein second life im Internet, indem er die Persona eines schwulen Pornostars annahm (dahinter steckten immerhin einige wenige Szenen in Hardcore-Filmen). Eine weitere Stufe der Simulation von Sex, Glamour und Happiness, die Simulation einer Simulation, während der reale Mr. Magnotta in einer kleinen Wohnung in einem trostlosen Hochhaus wohnte und sich wohl mit gelegentlichen Escort-Jobs über Wasser hielt, aber offensichtlich keine zufriedenen Kunden hinterließ. (Sex mit ihm, so erinnert sich einer von ihnen, wir leben in einer von wahrhaft Mitteilungssüchtigen bewohnten Welt, sei wie Sex mit einem toten Fisch.)
In seiner kurzen Zeit in London, wo er nicht zum ersten Mal wegen Tierquälerei angeklagt wurde, entstand die Persona des Cat-Killers. Da begann das Spiel des Mörders, der sich in seinen Taten mitteilt und sich diebisch darüber freut, dass man ihm nichts nachweisen kann. Nachdem ihn ein Reporter der Sun besucht hatte, demgegenüber er die Vorwürfe zwar zurückweist, aber ein so großes Interesse an jeder Art von Aufmerksamkeit zeigte, die man ihm entgegenbrachte, dass zumindest dieser Journalist stärker von seiner Schuld überzeugt schien als vorher, erhielt die Zeitung eine E-Mail, voller (wahrscheinlich absichtlicher) Fehler in Grammatik und Rechtschreibung (wie eine verstellte Handschrift einst), in der angekündigt wurde, dass der Katzenmörder bald auf Menschenjagd gehen werde und seinen Spaß daran habe, dass niemand seinen Namen kenne oder Beweise für sein Tun fände, so sehr die Polizei sich auch bemühe. Wieder schimmert hier das Jack the Ripper-Modell durch. Aber noch war die richtige Bühne für den entscheidenden Akt nicht gefunden. Magnotta kehrte nach Kanada, nach Montréal zurück. Dort begann die Beziehung zu seinem späteren Opfer, Lin Jun.
Die Gesellschaft, natürlich, bekommt die Monster, die sie verdient und gebrauchen kann, und wenn sie sie selbst konstruieren muss. Magnotta wollte vor allem Aufmerksamkeit, er spielte den Monstermörder für die Internet-Gemeinde (in dieser Welt spielt es eigentlich gar keine so große Rolle mehr, ob es um einen wirklichen oder einen gefälschten Mord geht), und die Internet-Gemeinde spielte sogleich mit, nachdem die Geschichte vom Mord und vom Videoclip dazu die Runde gemacht hatte. Es entstehen zahlreiche Magnotta-Mixes, zum Teil zusammengeschnitten mit Aufnahmen vom Haus der Tat, unterlegt mit Suzanne Vegas Song »My Name is Luka« oder, nicht anders als wir es von den NSU-Videos kennen, mit Cartoon-Material versehen. So wie Magnotta durch ein gefälschtes Leben und einen vielleicht echten Mord Aufmerksamkeit erzielen wollte, setzen sich nun unzählige Magnotta-Trolle auf seine Fährte. Er hat das Publikum, das er wollte, wie der Toronto Star meinte, doch zugleich erzeugte er wohl auch eine Menge von Magnotta-Klonen, und der Mordfilm erhielt unendliche Samplings, Remixes, Remakes und Meta-Filme. Möglicherweise gibt es das Publikum, das er sich erträumte, gar nicht mehr.
Wie Anders Breivik hat schließlich auch Luka Rocco Magnotta sein Ziel erreicht – und verfehlt. Er ist vermutlich weder ein Lustmörder noch ein Kannibale, sondern – sollten wir sagen: schlimmer! – ein Mensch, der für Aufmerksamkeit alles zu tun bereit ist. Seine Erfahrung war, dass man mit Videos, in denen Katzen getötet werden, nicht genug Aufmerksamkeit bekommt. Dass er sich im Internet als somnambuler Serienkiller darstellte, reichte ebenfalls nicht (Wie viele solcher Psychopathen tummeln sich dort, und wie viele sind wie er »wandelnde Zeitbomben«?). Seine Tat setzte er dann folgerichtig aus Medienzitaten zusammen. Die Tatwaffe, der Eispickel, stammt aus »Basic Instinct«, das »Gepflegte« des kannibalischen Mahls aus den »Hannibal Lecter«-Büchern und -Filmen, versendete Körperteile spielen in David Finchers »Seven« eine Rolle. Und um das Maß voll zu machen, spielte er zu seinem Video die Musik aus »American Psycho«. Die Flucht in Frauenkleidern stammt aus Brian de Palmas »Dressed to Kill«, die Leiche im Koffer ist ein beliebter Krimi-Topos (etwa in ­einer CSI-Folge), und am Ende ist gar der ganze Vorgang einer gesampelten Monstermordtat eine Filmidee aus »Die schönen Morde des Eric Binford«.
Aber es geht auch gleich so weiter: Auch die Gegenseite beteiligt sich am Medienspiel. Die Sonderbewachung des Verdächtigen wird offenbar nach dem Vorbild von »Das Schweigen der Lämmer« inszeniert. Aus »Sicherheitsgründen« wird er nicht in den Gerichtssaal geführt, sondern per Video zugeschaltet, wie in einem Terroristenfilm wird er in Handschellen hinter einer schusssicheren Trennwand befragt, die im Fernsehen auftretenden Polizisten inszenieren sich à la »Zodiac«. Die kanadische Justiz scheint fest entschlossen, das »Psycho«-Drama um den letzten Akt bereichern zu wollen. Während das Internetpublikum nichts anderes tut, als über den Monstermörder herzufallen, kannibalistisch und nekrophil, und sich um die Beutestücke reißt, ist es ausgerechnet das Old-School-Publikum, dass staunend zu ihm hält: Eine Bild-Zeitung lässt sich doch von schnöder Wirklichkeit eine Porno- und Prostituierten-Monstermörder-Saga nicht kaputtmachen!
Es ist die Spitze, von der aus man einen Eisberg aus sadistischen, psychopathischen, mörderischen Selbstinszenierungen im Netz betrachten kann. Daher sind zumindest die Vorwürfe, die man im Nachhinein der Polizei machte, nämlich die warnenden Hinweise im Netz und in den sozialen Netzwerken nicht genügend beachtet zu haben, vergleichsweise naiv. Wie sollte man unter den Hunderten von Trollen, die im Internet ihre Mordphantasien ausbreiten, jene finden, bei denen es womöglich ernst wird? Dennoch kann man sehr wohl beklagen, dass es nicht das kleinste soziale und kulturelle Projekt gibt, um auf diese heraufziehende Krankheit zu reagieren, nämlich Böses zu tun, es zu dokumentieren und zu versenden, um keines anderen Lohns als der Aufmerksamkeit willen, zu reagieren. Wie viele Tausende von Trollen sind in diesen Kanälen unterwegs? Wie viele setzen bewegte Bilder ins Netz von ihren Schandtaten und niederträchtigen Handlungen? Die einen begnügen sich damit, halbwegs normale Kommunikationsformen zu zerstören, die anderen belassen es bei wüsten Beschimpfungen und üblen Nachreden, und wieder andere faken sich mehr oder weniger durchschaubar als Psychos und Mörder. Der Psycho ist im Internet ein verbreitetes, akzeptiertes oder wenigstens geduldetes Rollenbild. Und nicht wenige setzen wirkliche Scheußlichkeiten auf die Wege von Information und Austausch.
Aber der Krieg um die Aufmerksamkeit wird schärfer und härter geführt. Luka Rocco Magnotta ist der erste in die Wirklichkeit hineinexplodierende Troll. Wie Anders Breivik, der ohne das Internet ebenfalls nicht zu dem geworden wäre, der er ist, hat er Vorläufer und Nachahmer, eine Kultur, in der sich seine Psychose entfalten kann. Die »Ich bin ein Psycho«-Subkultur ist im Internet genau so virulent wie die »Wir sind Gangster«- und die Neonazi-Terror-Subkultur. Das Internet ist daran nicht schuld. Die Gesellschaft der Gleichgültigen schon.