Britische Großbanken manipulierten Zinssätze

Mit Libor zum Geld

Mehrere Großbanken haben die Zinssätze für Interbankkredite manipuliert. Sogar die Regierung und die Zentralbank Großbritanniens scheinen in den Skandal verwickelt zu sein.

Eine nicht enden wollende Reihe von Skandalen und Korruptionsaffären bestimmt seit einigen Jahren die britische Politik und erschüttert zentrale Institutionen in Staat und Gesellschaft. Seit dem Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise im Herbst 2008 erregten abwechselnd die Polizei (Skandale um Polizeibrutalität, die Spitzelaffäre und Korruption), die Medien (der Verleger Rupert Murdoch und seine Verbindungen zur Regierung) und Politiker (Spesenskandal, mehrere Korrup­tionsaffären) das Interesse der Öffentlichkeit. Seit 2008 war auch die Kritik an Spitzengehältern und Boni für Führungskräfte der britischen Wirtschaft und der Banken zu vernehmen, nachdem der britische Staat eine Reihe von Finanzinstituten mit Milliardenzahlungen vor dem Bankrott gerettet hatte. In der Folge schwenkte erst Labour und dann seit 2010 die konservativ geführte Koalitionsregierung unter Premierminister David Cameron auf einen harten Sparkurs um, um das Haushaltsdefizit unter Kontrolle zu bringen.

In der vergangenen Woche wurde gegen die Bank Barclays nach Ermittlungen der US-amerikanischen und britischen Bankenaufsicht eine Strafe in Höhe von 290 Millionen Pfund verhängt, weil die Bank seit 2005 die London Interbank Offered Rate (Libor) manipuliert hatte. Es handelt sich um einen täglich in London unter der Aufsicht der British Bankers’ Association (BBA) berechneten Zinssatz, zu dem Geldinstitute sich Geld bei anderen Instituten leihen können. Libor wird ermittelt, indem die größten Banken ihre Zinskosten nach London übermitteln, wo eine Durchschnittsrate berechnet und mittags veröffentlicht wird. Diese wiederum dient als Grundlage für die Zinssätze, die Banken ihren Kundinnen und Kunden berechnen.
Politisch relevant wurde die Libor im Zuge der Kreditkrise. Der starke Anstieg des Zinssatzes galt als Indikator für die Krise, doch es wurden Zweifel an dessen Objektivität laut. Indem Banken ihre Geldkosten übermittelten, gaben sie auch einen Hinweis auf ihre eigene finanzielle Lage. Falsche Zinskosten zu übermitteln, war zwar illegal, aber es gab kaum Kontrollen. Im Zuge langjähriger Ermittlungen der Bankenaufsichten in den USA und Großbritannien wurde immer deutlicher, dass die Manipulation der Daten bei einer ganzen Reihe von Geldinstituten üblich war. Dabei ging es nicht nur um die Verschleierung der finanziellen Situation der Banken. Die Libor wurde auch manipuliert, um Spekulationsgewinne zu erzielen. Damit allerdings schadeten die Banken mutmaßlich vielen Kunden, Unternehmen wie Privatleuten, deren Zinskosten sich künstlich erhöhten. Die Ermittlungen gegen viele Institute, unter anderem auch gegen die Deutsche Bank, laufen weiter. Die BBA hatte im Zuge dessen bereits Ende 2008 neue Regeln für die Übermittlung der Zinsraten etabliert, um Manipulationen zu erschweren. Doch Barclays und andere Banken setzten die neuen Regeln nur langsam um. Barclays musste Ende Juni dieses Jahres die Manipulation angesichts erdrückender Beweise durch Zeugenaussagen von Mitarbeitern und veröffentlichte E-Mails eingestehen, woraufhin die Strafzahlungen fällig wurden. Zum politischen Skandal wurde die Manipulation allerdings erst in der vergangenen Woche.

Bob Diamond, der in der vergangenen Woche als Vorsitzender von Barclays zurücktrat, kommt darin eine Schlüsselrolle zu. Er gilt in Großbritannien als Personifikation des »verantwortungs­losen« Bankers. Jahrelang stand er dem Investmentbereich der Bank vor. Im Zuge der Krise übernahm er die Führung von Barclays, ließ die Lehman Brothers Investment Bank nach deren Kollaps aufkaufen und kam 2008 um eine Rettung durch die britische Regierung herum, indem er der Bank frisches Geld von Investoren aus Asien und den Golfstaaten sicherte. Der US-Amerikaner verdiente erheblich an diesen Geschäften, 2010 kassierte er zum Beispiel rund 63 Millionen Pfund, woraufhin Peter Mandelson, der Wirtschaftminister in Gordon Browns Regierung, ihn als das »inakzeptable Gesicht der Finanzindustrie« bezeichnete. In diesem Frühjahr kam es sogar zu einer Rebellion von Aktionären von Barclays. Diamond setzte am Ende ein deutlich verringertes Bonus-Paket durch, doch ein Viertel der Aktio­näre hatte gegen jegliche Boni gestimmt.
Zunächst sah es so aus, als würde Diamond ein weiteres Mal einen Skandal unbeschadet überstehen. Als Vorsitzender des Investmentbereichs, in dem die Manipulation stattgefunden hatte, trug er eigentlich die Verantwortung. Doch am Montag vergangener Woche trat zunächst Marcus Agius zurück, der zweite Mann bei Barclays. Der Vorstand hatte Diamond verschont. Am Wochenende gab es allerdings bereits neue Enthüllungen. Demnach existieren Belege dafür, dass Paul Tucker, einer der Direktoren der britischen Zentralbank Bank of England (BOE), 2008 mit Diamond über die Übermittlung der Zinskosten durch Barclays gesprochen hatte. Anscheinend haben das Finanzministerium und die BOE ein Interesse daran bekundet, dass Barclays einen niedrigeren Zinssatz angeben solle. Am Sonntag stand damit die Frage im Raum, ob die Libor-Manipulation durch Barclays möglicherweise von der Regierung und der BOE sanktioniert oder sogar initiiert worden war. Verantwortliche der Bank of England schwiegen zu dieser Frage. Die Existenz von belastenden E-Mails oder Gesprächsnotizen wurde verneint. Tucker selbst gab keine Stellungnahme ab. Am Montagmorgen vergangener Woche veröffentlichte Diamond seine Notiz von dem Gespräch mit Tucker. In der Tat hatte Tucker demnach auf hochrangige Vertreter im Finanzministerium verwiesen, die eine Reduktion der Libor wünschten und dachten, dass die von Barclays übermittelten Daten zu hoch seien. Am selben Abend trat Diamond plötzlich zurück, keine 24 Stunden nach Agius, der anschließend als Interims-CEO wieder eingesetzt wurde.

Zu diesem Zeitpunkt gab es längst eine erhitzte politische Debatte über die Affäre. In einem ­Interview mit dem Magazin Spectator warf der konservative Finanzminister Georg Osborne der früheren Regierung vor, die Banken dazu getrieben zu haben, die Libor zu manipulieren. Insbesondere griff er den finanz- und wirtschaftspolitischen Sprecher der Labour-Fraktion, Ed Balls, an, einen engen Vertrauten Gordon Browns, der im Finanzministerium gearbeitet hatte. Balls wie auch andere führende Labour-Politiker seien für die Manipulation verantwortlich, behauptete Osborne.
Balls wies die Vorwürfe des Finanzministers umgehend zurück. Am Dienstag, den 3. Juli, kam es im britischen Unterhaus, das für seine lebhafte Debattenkultur bekannt ist, zu einem ungewöhnlich rabiaten Streit zwischen den beiden Politikern. Balls forderte Osborne auf, entweder Beweise für seine Anschuldigungen vorzulegen, oder sich für diese zu entschuldigen. Osborne, der über keine Beweise verfügt und sich inzwischen von den Vorwürfen distanziert hat, konterte zunächst: Es sei ein offenes Geheimnis, dass Labour die Bankenchefs hofiert habe, und dies sei ein weiterer Beweis, dass die Schuld für die Wirtschaftkrise allein bei Labour liege.
Es geht aber nicht bloß um die Rolle der Politik, sondern auch um die der angeblich unabhängigen Zentralbank. Folgt man den Interpretationen von Journalisten wie Paul Mason von BBC, dann war es die BOE, die am Montag von Barclays den Rücktritt Diamonds gefordert hatte, um von ihrer möglichen Mitschuld abzulenken. Das britische Establishment sei in Panik, so Mason.
Angesichts der neuen Enthüllungen hat nun auch die britische Antikorruptionsbehörde Ermittlungen aufgenommen. Sie hätte die Macht, einzelne Banker anzuklagen. Derweil beschloss das britische Parlament, einen Untersuchungsausschuss einzurichten. Dort wird auch Tucker zu den Vorwürfen gegen die Zentralbank Stellung nehmen. Doch wie bereits bei Diamonds Befragung am Dienstag vergangener Woche ist nicht sicher, dass es neue Erkenntnisse geben wird.

Eine in der letzten Woche veröffentlichte Studie zeigt, dass die Britinnen und Briten ihren Bankern, Politikern und der Polizei kaum noch trauen. Die oppositionelle Labour-Partei, die derzeit in Umfragen deutlich vor den Konservativen und Liberalen liegt, scheint von der Dauerkrise der Institutionen dennoch zu profitieren. Dies mag auch der klaren Abgrenzung gegenüber New ­Labour geschuldet sein, die Oppositionsführer Ed Miliband vertritt. Ebenfalls am Dienstag vergangener Woche forderte er umfangreiche Reformen des Finanzsektors, doch eine klare Distanzierung von der Industrie, mit der New Labour so innig verbunden war, blieb aus. Von den Konservativen ist eine solche Abgrenzung ohnehin kaum zu erwarten. 50 Prozent ihrer Parteispenden kommen aus der City, dem Zentrum der britischen Finanzindustrie, von Hedgefonds, Banken und individuellen Bankern.
Im Zuge des Bankenskandals und wegen des mehr und mehr als schädlich betrachteten großen Einflusses des Sektors auf die britische Politik wechseln immer mehr Britinnen und Briten zu alternativen und »ethischen« Banken. Die Kampagnengruppe »Moveyourmoney.org.uk« berichtet einen Ansturm der Kunden bei Bankkoope­rativen und Kreditunionen. Auch Diamond muss sich derzeit mit der Frage beschäftigen, wohin er sein Geld bewegen soll. Nachdem er in seiner Zeit als Vorsitzender von Barclays rund 200 Mil­lionen Pfund verdient hat, erhält er nach seinem Rücktritt nun noch einmal bis zu 20 Millionen Pfund als Abfindung.