Die Aufklärung der Taten des NSU

Von Schüssen und Ausschüssen

Die Befragung des Verfassungsschutz-Präsidenten vor dem NSU-Untersuchungsausschuss hat mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Vor allem eine: Wie kann der Skandal wirklich aufgeklärt werden?

Einen solchen Medienauflauf hatte der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages noch nicht erlebt: Über 20 Fernsehteams, mehrere Dutzend Fotografen sowie zahlreiche Pressejournalisten berichteten Donnerstag vergangener Woche von der Sitzung der Kommission, die das Parlament im Januar 2012 zur Aufklärung der Taten der Nazi-Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) und der Fehler der Ermittlungsbehörden einsetzte.
Grund für die gesteigerte Aufmerksamkeit: Nur fünf Tage nachdem er angekündigt hatte, Ende Juli zurückzutreten, wurde der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Heinz Fromm (SPD), befragt. Der Hauptgrund für Fromms Rückzug war das Bekanntwerden einer dubiosen Aktenbeseitigung gewesen. Auch der dafür verantwortliche Mitarbeiter trat an diesem Tag vor den Ausschuss, wurde allerdings in nichtöffentlicher Sitzung befragt und trat sogar unter einem Decknamen, Lothar Lingen, auf. Weil gegen ihn ein Disziplinarverfahren läuft, verweigerte der Verfassungsschützer die Aussage zur Sache.
Fromm selbst sagte, er sei von seinen eigenen Mitarbeitern »hinters Licht geführt worden«, und schloss nicht aus, dass etwas vertuscht werden sollte. Er habe für die Aktenlöschungen »keine überzeugende Erklärung«. Die vernichteten Dokumente hätten möglicherweise aufklären können, wie dicht das Bundesamt und der Thüringische Verfassungsschutz am NSU dran waren. Aus den Akten hätten womöglich die Klarnamen von acht V-Leuten aus der Nazi-Szene Thüringens entnommen werden können. Heftig war zuvor spekuliert worden, ob gar eines der drei NSU-Mitglieder als bezahlter Spitzel für den Verfassungsschutz agiert hatte.
Bei den vernichteten Akten handelte es sich um Aufzeichnungen über Anwerbeversuche im Rahmen der gemeinsam von BfV, Hessischem VS und Militärischem Abschirmdienst (MAD) von 1997 bis 2003 durchgeführten »Operation Rennsteig«. Sie waren von Referatsleiter »Lothar Lingen« kurz nach Auffliegen der Zwickauer Terrorzelle geschreddert worden. Allerdings durften am Mittwochabend, also noch vor Fromms Auftritt, mehrere Mitglieder des Untersuchungsausschusses in der Berliner Außenstelle des BfV Akten einsehen, die eine annähernd vollständige Rekonstruktion der vernichteten Dokumente aus anderen Akten beinhalten sollen. Keines der drei NSU-Mitglieder Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe soll darin aufgeführt gewesen sein.
Hans-Christian Ströbele, einer der Vertreter der Grünen im Ausschuss, sagte der Jungle World, das sei keineswegs ein Grund zu Entwarnung. Zum einen stellten die Akten keine vollständige Rekonstruktion der geschredderten Papiere dar. Zum anderen habe selbst dort ein Name gefehlt. Der Jurist, der als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums langjährige Erfahrung mit fragwürdigen Praktiken von Verfassungsschutz und anderen Geheimdiensten hat, sieht auch Lobenswertes an der momentanen Informationspolitik. Er habe noch nie erlebt, dass man »durch die Lektüre von Akten« so sehr ins Geheimste dieser Dienste eindringen konnte, beispielsweise, weil »Klarnamen nicht geschwärzt« wurden – das scheine »ein neuer Weg« der Behörden zu sein. Aber auch er musste einräumen: »Wir sind angewiesen auf das, was uns die Behörden vorlegen.« Dass mindestens ein Klarname nicht mehr rekonstruierbar sei, bestätigen auch Recherchen von Frankfurter Rundschau und Berliner Zeitung.

Und es ist zweifelhaft, ob die Abgeordneten jemals alle relevanten Informationen zu Gesicht bekommen werden. Selbst Fromm als Präsident des BfV machte nicht gerade den Eindruck, als verfüge er über umfassende Kenntnisse zum NSU-Komplex. Immer wieder äußerte er während der Befragung Floskeln wie »Daran erinnere ich mich nicht« oder »Das ist mir nicht bekannt«. Vor allem scheint er wenig von dem gewusst zu haben, was das Landesamt in Thüringen wusste und tat. So will er nach eigener Aussage erst aus dem Spiegel erfahren haben, dass der Thüringer VS Tino Brandt, den langjährigen Kopf des »Thüringer Heimatschutzes«, aus dem auch Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe kamen, als Informanten führte und fürstlich entlohnte.
Nicht nur der frühere Chefredakteur des Spiegel, Stefan Aust, musste bei dieser Äußerung schmunzeln. Aust hatte vergangene Woche in der Zeit einen aufsehenerregenden Text veröffentlicht, in dem er die dubiose Rolle eines hessischen VS-Mitarbeiters bei einem der NSU-Morde untersuchte: »Hat ein hessischer Verfassungsschützer einen der NSU-Morde begangen?«, fragt der Journalist in dem Artikel. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass der VS-Mann – Andreas T. – den Mord selbst ausgeführt hat, benennt der Zeit-Artikel doch eine Fülle von Ungereimtheiten und merkwürdigen Zufällen. Reporter der Südddeutschen Zeitung und des ARD-Magazins Panorama, die selbst mit dem hessischen Geheimdienstler gesprochen haben, zeigten sich hingegen überzeugt, dass Andreas T. tatsächlich, wie er selber sagt, nur »zur falschen Zeit am falschen Ort« war.

Zudem machte Fromm widersprüchliche Angaben. Bezüglich der im Rahmen der Operation Rennsteig angeworbenen V-Leute schrieb er dem Spiegel zufolge in einem Bericht ans Innenministerium, die Arbeit der V-Leute sei weitgehend ergebnislos geblieben, deren Berichte seien von »nachrangiger Bedeutung«, die Quellen ausschließlich Mitläufer und Randpersonen gewesen. Vor dem Untersuchungsausschuss hingegen betonte er die Wichtigkeit der Arbeit von V-Leuten – so sehr, dass die Obfrau der Linskfraktion, Petra Pau, und der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) mehrmals nachfragten, ob Fromm der Quellenschutz wichtiger sei als die Aufklärung eines Mordes. Erst dann konstatierte er, leicht empört über die Frage, dass natürlich Mordaufklärung eine höhere Priorität habe.
Halina Wawzyniak, die in der Sitzung neben Pau die Linksfraktion vertrat, resümierte im Gespräch mit der Jungle World die Befragung Fromms mit den Worten: »Wenn ich nicht schon vorher für die Auflösung des Verfassungsschutzes gewesen wäre, dann wäre ich es spätestens jetzt.« Die Linkspartei ist derzeit die einzige im Bundestag vertretene Partei, die die Abschaffung des Geheimdienstes fordert.
Bei alldem geht es bisher nur um Details. Die großen Fragen sind noch nicht einmal ansatzweise beantwortet: Haben die Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern jahrelang die Verfolgung der NSU-Mitglieder durch die Polizei verhindert? Waren die NSU-Mitglieder auch für weitere Sprengstoffanschläge und diverse unaufgeklärte Banküberfälle verantwortlich? Was passierte wirklich in dem und rund um den Wohnwagen, in dem Mundlos und Böhnhardt starben? Warum vernichtete Beate Zschäpe angeblich per Brandstiftung Beweise, wenn sie gleichzeitig durch die Verschickung des »Pink Panther«-Films neue produzierte? Wer aus dem sächsischen Innenministerium versuchte am Todestag von Mundlos und Böhnhardt Beate Zschäpe auf dem Handy anzurufen – und warum? Wieso endete die Mordserie des NSU mit dem Mord an einer Polizistin in Heilbronn im April 2007, und was machte das Trio in den folgenden viereinhalb Jahren?
Inzwischen gibt es neben dem Untersuchungsausschuss des Bundestages jeweils einen in Thüringen und in Sachsen (in dem pikanterweise auch ein NPD-Mann sitzt), demnächst noch einen in Bayern, außerdem mehrere Sonderermittler auf Regierungsebene und möglicherweise schon im Spätsommer, als Vorstufe des Prozesses gegen Beate Zschäpe und etwaige Unterstützer, die Anklageerhebung durch den Generalbundesanwalt. Vielleicht wird es auch noch weitere Gerichtsverfahren geben, denn mittlerweile erstatteten Hinterbliebene von NSU-Mordopfern Anzeige wegen Strafvereitelung im Amt.