Einstellung des Verfahrens wegen eines »Gewalt-Handys« in Dresden

Das große Schnüffeln

Auf der Grundlage von Paragraph 129 wurde in Dresden gegen 21 Mitglieder der linken Szene wegen eines ominösen »Gewalt-Handys« ermittelt. Nun wurde das Verfahren eingestellt.

Anne L.* beschreibt den Abend des 19. Februar 2011 in Dresden als surreal. Sie hielt sich im Pressebüro des Bündnisses »Dresden nazifrei« auf, als es plötzlich krachte und knallte. Türen wurden mit Äxten eingeschlagen, kurz darauf standen vermummte Polizisten im Raum. Im Gespräch mit der Jungle World schildert sie, dass die Anwesenden barsch dazu aufgefordert wurden, sich auf den Boden zu legen. Nach einigen Stunden wurde Anne L. in Handschellen abgeführt und verbrachte die Nacht auf der Polizeiwache. Ein paar Wochen später erhielt sie den Straftatbestand schriftlich: Verdacht der Bildung einer kriminellen Vereinigung.

Nach Auskunft der Staatsanwaltschaft Dresden habe der Verdacht bestanden, dass aus dem »Haus der Begegnung«, in dem sich auch die Räume von »Dresden nazifrei« befanden, an diesem Tag über ein Handy Gewaltstraftaten koordiniert worden seien. Zur Ortung und Überwachung des Handys kamen unter anderem IMSI-Catcher zum Einsatz. Im gesamten Stadtgebiet wurden über zwei Tage mit einer Funkzellenauswertung mehr als 40 000 Telefonnummern überprüft und deren Bestanddaten erhoben. Es konnte jedoch nicht ermittelt werden, welcher der 21 Beschuldigten das »Gewalt-Handy« bedient habe, teilt Andreas Keller, Sprecher der Staatsanwaltschaft, der Jungle World mit. Deshalb sei das Verfahren auf Grund­lage von Paragraph 129 des Strafgesetzbuchs wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen alle Personen, die sich im »Haus der Begegnung« aufhielten, nun eingestellt worden. Der Polizeieinsatz wurde vom Amtsgericht Dresden bereits im Herbst vorigen Jahres für rechtswidrig erklärt, da kein ausreichender Durchsuchungsbeschluss vorlag. Die Anwältin Kristin Pietrzyk findet die nun getätigten Aussagen der Dresdner Staatsanwaltschaft verwunderlich. Der Jungle World sagt sie, dass aus den Akten des Verfahrens bisher nicht ersichtlich sei, ob das besagte Handy überhaupt im »Haus der Begegnung« gefunden wurde. Derzeit scheint sogar fraglich, ob das »Gewalt-Handy« überhaupt existierte.
Bereits seit Februar 2010, als die Aufmärsche von Neonazis in Dresden blockiert wurden, ermittelt die Dresdner Staatsanwaltschaft auf Grund­lage von Paragraph 129 gegen sächsische Antifaschisten. Die Ermittlungen betreffen mehr als 40 Personen, denen Landfriedensbruch, gefährliche Körperverletzung und Sachbeschädigung vorgeworfen wird. Die Befugnisse, die den Behörden durch Paragraph 129 zukommen, lassen die Herzen von Kriminalisten höher schlagen: umfangreiche Telefon- und Kommunikationsüberwachung von Beschuldigten und deren erweitertem Umfeld, Observationen von Personen und Wohnungen, Funkzellenabfragen und der Einsatz vom IMSI-Catchern gehören zum Repertoire.

Das Verfahren gegen die 21 Personen, die sich im »Haus der Begegnung« aufgehalten hatten, wurde bereits im Sommer 2011 von diesen Ermittlungen abgetrennt und unter einem gesonderten Aktenzeichen geführt. Anne L. sagt, allein schon das Wissen über Ermittlungen nach Paragraph 129 stelle eine enorme Belastung dar: »Wenn über mehrere Jahre in deinem Leben herumgeschnüffelt wird, dein Telefon überwacht wird und du nicht weißt, welche Überwachungsmaßnahmen gegen dich laufen, dann verunsichert und beeinträchtigt das enorm.« Dass die Einstellung des Verfahrens so lange auf sich warten ließ, ist Pietrzyk zufolge ungewöhnlich: »Vermutlich waren die Möglichkeiten für Überwachungsmaßnahmen, die im Rahmen des Paragraph 129 zur Verfügung stehen, wichtiger als die Einstellung der Verfahren gegenüber den Beschuldigten.« Ausgestanden sei die staatliche Repression in Sachsen mit der Einstellung dieser Verfahren jedoch noch nicht, sagt Josephine Fischer von der Kampagne »Sachsens Demokratie« der Jungle World: »Gegen mehr als 20 Beschuldigte laufen weiterhin Verfahren. Wenn man sich die Tatvorwürfe genauer ansieht, dann wird klar, dass das Konstrukt des Paragraphen 129 auch bei den restlichen Beschuldigten nicht aufrechterhalten werden kann. Aber solange die Ermittlungen noch laufen, haben die Behörden freie Hand.« Das Bündnis »Dresden nazifrei« ist der Ansicht, dass vor dem Hintergrund der Dresdner Ermittlungsverfahren der Paragraph 129 auf den Prüfstand gehöre, und forderte am 13. Juli in seiner Pressemitteilung zur Einstellung der ersten Verfahren die vollständige Abschaffung des »Schnüffelparagraphen«.

* Name von der Redaktion geändert