Erinnerung an den »Preußenschlag« und das Ende der Weimarer Republik

Der vergessene Putsch

Am 20. Juli 1932 wurde das Ende der Weimarer Republik durch den Staatsstreich in Preußen besiegelt. Ihre Verteidiger wichen kampflos. Der Aufstieg Carl Schmitts zum »Kronjuristen« der Diktatur begann.

Im politischen Gedächtnis der Bundesrepublik ist der 20. Juli untrennbar mit dem gescheiterten Attentat auf Hitler 1944 verbunden. Mit dem Aussterben jener Generation, die im Bombenanschlag auf ihren »Führer« noch einen »Hochverrat« erblickte, vermochte die Geschichtspolitik der Bundesrepublik das Narrativ vom »Aufstand des Gewissens« durchzusetzen, auch wenn sich dessen Protagonisten aus Wehrmacht und meist konservativen Eliten bis zur Wende im deutschen Kriegsglück tatsächlich als ausgesprochen gewissenlos gezeigt hatten. Die nationale Erzählung von der Heldentat des Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg hat dazu geführt, dass sich ablehnende Positionen zum deutschen Widerstand heute nur noch in den randständigen Milieus des Neonazismus oder der Verbindungen finden. Einerseits ist diese Veränderung zu begrüßen, denn sie zeugt davon, dass die NS-»Volksgemeinschaft« die historische Deutungsmacht verliert. Andererseits wurde ein neues historiographisches Ungleichgewicht geschaffen. Der 20. Juli 1944 verdrängte in der Geschichtsschreibung auch die Erinnerung an den 20. Juli 1932 als ein Schlüsseldatum der deutschen Geschichte, den letzten Schlag der autoritären Präsidialregierungen gegen die Republik. An diesem Tag wurde die sozialdemokratische Regierung Preußens per Staatsstreich durch die Vertreter derselben Eliten entmachtet, die 1944 ihren letzten Ausweg im Attentat auf Hitler sahen. Dadurch sind beide Daten eng miteinander verbunden. Sie markieren Anfang und Ende der aktiven politischen Partnerschaft des deutschen Konservatismus mit dem Nationalsozialismus. Eine angemessene Beurteilung des 20. Juli 1944 ist somit nur vor dem Hintergrund des 20. Juli 1932 möglich.
Der »Preußenschlag« vom 20. Juli 1932 bestand in der Absetzung des geschäftsführenden Preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun durch eine Verordnung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der nun den neuen Reichskanzler Franz von Papen als Reichskommissar für Preußen einsetzte. Mit diesem Schritt wollte man in den Kreisen der Reichsregierung das größte Hindernis für die Beseitigung der Republik aus dem Weg räumen. Denn ausgerechnet Preußen, der größte Teilstaat des Deutschen Reiches, hatte sich in der Dekade der Regierungen des Sozialdemokraten Braun als stabilste republikanische Bastion im Reich erwiesen. Damit hatte sich der traditionelle Antagonismus zwischen Preußen und dem Reich verkehrt. Zuvor war damit das Verhältnis des besonders autoritären Hohenzollern-Staats zu den liberaleren Tendenzen der von ihm dominierten übrigen deutschen Staaten beschrieben worden. Zu Beginn der dreißiger Jahre war dagegen aus dem ehemaligen Zentrum der Reaktion der letzte Garant der Weimarer Demokratie geworden, wenn auch mittlerweile von einer Minderheitsregierung gelenkt. Angesichts der autoritären Dispositionen mancher preußischer Sozialdemokraten gibt diese Tatsache beredt Auskunft über die deutschen Zustände kurz vor dem Durchbruch des Nationalsozialismus. Der »Preußenschlag«, der nichts anderes war als ein kalter Staatsstreich, war der Höhepunkt der deutschen Notverordnungspolitik.
Schritt für Schritt hatte man seit der von Reichskanzler Heinrich Brüning erlassenen ersten Notverordnung von 1930 die Vertreter der Öffentlichkeit von der Politik ausgeschlossen. Mit dem Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung ließ sich im Zusammenspiel von Reichspräsident und Reichskanzler das Parlament umgehen, und ein autoritärer Regierungsstil konnte etabliert werden. Die Verengung des Kreises möglicher politischer Akteure strebte unaufhaltsam auf eine Monopolisierung der Macht zu. »Mit der Ausschaltung nahezu aller wichtigen Instanzen im politischen Prozess blieb nur noch der Reichspräsident als Legitimationsquelle von Herrschaft übrig«, bilanzierte der Historiker Detlev Peukert den autoritären Mechanismus der Präsidialregierungen. Dieser Effekt war durchaus beabsichtigt, schließlich agierte Paul von Hindenburg in enger Abstimmung mit Franz von Papen und Kurt von Schleicher, der eigent­lichen »Spinne« im Netz der Weimarer Politik. Ziel war es, die politische Macht wieder bei den alten Eliten zu bündeln: dem Adel, der Wirtschaft und dem Militär. Der Ausschluss weiter Teile der Gesellschaft lähmte jedoch den politischen Betrieb, anstatt ihn wie geplant zu vereinfachen. Wurde Brünings Vorgehen anfangs noch von der SPD geduldet, um die politische Handlungsfähigkeit der Regierung zu wahren, so bedeutete dessen Abgang am 30. Mai 1932 auch das Ende der letzten Errungenschaften des Novembers 1918. Franz von Papen, ein Rechtskatholik aus dem Deutschen Herrenklub, von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Nachfolger Brünings bestellt, hatte anders als sein Vorgänger zu keinem Zeitpunkt das Ziel, die Republik per Notverordnung zu retten. Vielmehr setzte er den Artikel 48 gezielt zu ihrer Zerstörung ein. Damit hatten jene Kreise vorerst ihr Ziel erreicht, denen daran gelegen war, die republikanische »Herrschaft der Minderwertigen«, wie es Edgar Julius Jung, ein enger Berater Papens formulierte, gegen den »Neuen Staat« auszutauschen, ein autoritär-ständestaatliches Projekt, das eine nach dem Modell des italienischen Faschismus modernisierte Neuauflage des preußischen Obrigkeitsstaates war. Im Hintergrund wurde sondiert, zu welchen Bedingungen die NSDAP bereit sei, die geringe Massenbasis eines solchen Systems zu kompensieren. Entsprechend fielen die ersten Maßnahmen der Regierung Papen aus: eine drastische Kürzung der Arbeitslosenunterstützung und die Aufhebung des von Brüning erlassenen Verbotes von SA und SS. Nicht zuletzt forcierte dies die Gewalt vor den für Ende Juli 1932 angesetzten Neuwahlen.
Die deutsche Rechte hatte den Verlust ihres Zugriffsmonopols auf die Staatsgewalt durch den Zusammenbruch des Kaiserreichs nie verwunden, all ihre Handlungen zielten auf die Revision dieses Machtverlusts. In den Fokus der von Papen betriebenen Politik einer kalkulierten Staatskrise rückte der Freistaat Preußen. Die Rechte wusste, dass sie zum Aufbau ihres »Neuen Staates« auf die Kontrolle des östlichen Teilstaats mitsamt seiner Ordnungsorgane angewiesen war. In Papens Regierung 1932, die von der sozialdemokratischen Presse zu Recht als »Kabinett der Barone« gebrandmarkt wurde, fand ein Milieu zusammen, das bereit war, zum Preis der Republik der SPD die letzte Bastion zu entreißen. Die Begründung für ihr Vorgehen lieferte der abstruse Vorwurf, die preußische Politik fördere die Kommunisten und benachteilige die doch immerhin als »national zuverlässig« geltende NSDAP. Diese Vorhaltungen richteten sich vor allem gegen den preußischen Innenminister Carl von Severing, der tatsächlich einige Entschlossenheit beim Kampf gegen die Nationalsozialisten an den Tag gelegt hatte. An eine tatsächliche »Einheitsfront« von Kommunisten und Sozialdemokraten glaubten unterdessen nicht einmal diejenigen, die den Vorwurf erhoben. Wie zu seiner Widerlegung starben am »Blutsonntag« des 17. Juli 1932 während der blutigen Zusammenstöße zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten im damals noch preußischen Altona die meisten Opfer durch die Kugeln der preußischen Polizei. Dennoch diente der Regierung Papen das Bürgerkriegsszenario als Vorwand zur Absetzung der preußischen Regierung. Am 20. Juli verhängte Papen die »Reichsexekution« über Preußen und teilte Ministerpräsident Braun die Absetzung seiner Regierung mit. Kurzzeitig ließ er neben einigen Spitzenbeamten auch den stellvertretenden Polizeipräsidenten Berlins, Bernhard Weiß, einen jüdischen Liberalen und aktiven Gegenspieler Joseph Goebbels’, inhaftieren, da er fürchtete, Weiß könnte die preußische Polizei zur militärischen Gegenwehr einsetzen. Doch waren diese Sorgen grundlos. Die preußische Regierung ergab sich kampflos. Sie mobilisierte weder die Polizei oder die sozialdemokratischen Kampfverbände, noch wandte sie sich an die Massen oder suchte gar die Nähe zu den Kommunisten. Einem solchen Vorgehen wäre auch kaum Erfolg beschieden gewesen, die moskauhörige KPD irrlichterte der »Sozialfaschismusthese« hinterher, längst war auch in Preußen die NSDAP zur unumgehbaren politischen Größe geworden, während die Schlagkraft der Arbeiterorganisationen geschwunden war. Eine offensive Gegenwehr wie gegen den Kapp-Putsch 1920 war kaum realistisch und hätte allenfalls den Untergang im Kampf bedeutet. Stattdessen beschränkte sich die preußische Staatsregierung auf einen formalen Widerspruch gegen den Erlass Hindenburgs vor dem Staatsgerichtshof. An Stelle des befürchteten Bürgerkriegs trat die Verhandlungssache »Preußen contra Reich«.
Mit diesem Verfahren begann auch der Aufstieg des Staatsrechtlers Carl Schmitt. Als Vertreter des Reichs oblag ihm die Aufgabe, den Schlag gegen die preußische Regierung als legitimen Schritt zu verteidigen. Schmitt suchte die Nähe zum Kreis um Schleicher und Papen. Noch während der Prozessvorbereitungen publizierte er seinen Aufsatz über »Die Verfassungsgemäßheit der Bestellung eines Reichskommissars für das Land Preußen«. Seine Strategie bestand darin, die Rechtmäßigkeit der Minderheitsregierung anzuzweifeln und vor allem zu behaupten, es gelte, einen drohenden Bürgerkrieg angesichts des zu erwartenden Sieges der NSDAP bei den Wahlen vom 31. Juli zu verhindern. Dabei begab er sich in einen offenen Widerspruch. »Was Schmitt Preußen verwehrt, die Verhinderung einer Machtergreifung des Nationalsozialismus mit juristisch fragwürdigen Mitteln, rechtfertigt er für das Reich«, urteilt sein Biograph Reinhard Mehring. Durch seine Rolle vor dem Staatsgerichtshof wurde Schmitt schließlich der »Kronjurist des Präsidialsystems«, der den Umbau des Reiches in einen autoritären Staat juristisch absicherte. Nach Mehring war Schmitt der »wichtigste Anwalt des Reiches im wichtigsten politischen Prozess der Weimarer Republik.« Das eröffnet dem Juristen den langersehnten Eintritt ins Zentrum der Macht. Denn in Schmitts theoretischen Konstruktionen kam einer personell eng begrenzten, mit allen Vollmachten ausgestatteten Staatsführung eine tragende Rolle zu. Wer politischen Einfluss wolle, so resümierte er 1954 rückblickend im »Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber«, müsse sich direkt in den Vorzimmern der Herrschaft platzieren. Ohne dabei konkret zu werden, skizzierte er die Strukturen des vom politischen Umfeld Papens verfochtenen »Neuen Staates« und seiner strikten sozialen und persönlichen Reglementierung der Staatsgewalt. Das Zugangsrecht zu Reichspräsident Hindenburg, streng nach Stand und Rang geregelt, entschied in der Schlussphase der Republik über das Schicksal des Staates.
Dem erlauchten Kreis der »Herrenreiter« um Franz von Papen kam diese absolutistisch anmutende Praxis entgegen. Die ersten Schritte auf dem Weg zum Führerstaat waren vollzogen, und Schmitt sollte 1934 seine Loyalität zu diesem Herrschaftsprinzip erneut unter Beweis stellen, als er die Morde im Rahmen der Röhm-Affäre, mit denen Hitler seine Macht konsolidierte, mit der knappen Bemerkung rechtfertigte: »Der Führer schützt das Recht.«
Der 20. Juli 1932 symbolisiert den unbedingten Willen der alten wilhelminischen Eliten zur Zerstörung der Republik. Ihre Vertreter waren im neuen Gewand des autoritären Staates auf der politischen Bühne erschienen. Unterstützt wurden sie von modern denkenden Rechtsintellektuellen wie Edgar J. Jung und Carl Schmitt, die meist aus dem jungkonservativen Milieu stammten. Diese Politik war nur kurzzeitig von Erfolg gekrönt, selbst Papens Nachfolger General von Schleicher, lange der »starke Mann« im Reich, konnte sich nicht durchsetzen. Die »autoritäre Wende« der Präsidialregime hatte die Republik zerstören, aber selbst keine stabile Herrschaft etablieren können. Das bewerkstelligte schließlich die NSDAP. Adolf Hitler dachte nicht daran, die der NS-»Bewegung« zugedachte Rolle als Fußvolk einer Regierung der nationalen »Elite« zu akzeptieren. Da die konservativen Verbündeten der NSDAP ohnehin alle Sicherungsmechanismen beseitigt hatten, war nurmehr ein letzter Schritt zu tun, um die Republik ganz zu liquidieren. Dennoch hielten sich die konservativen Illusionen von der politischen Zähmung Hitlers hartnäckig. Der 20. Juli 1944 war nur der Versuch zu korrigieren, was man am 20. Juli 1932 selbst eingebrockt hatte. So stehen beide Daten, der erfolgreiche Putsch gegen die Republik und der erfolglose gegen die Diktatur, für das historische Scheitern konservativer Staatspolitik.